Israel befindet sich im Ausnahmezustand – militärisch, gesellschaftlich, politisch. Seit dem 7. Oktober 2023 prägt ein Krieg das Leben einer jungen Nation, die sich in einem tiefgreifenden Wandel befindet.
In einem kriegführenden Land ist die Stimmung anders als in Friedenszeiten. Israel befindet sich seit dem 7. Oktober 2023 im Kriegszustand, das hat ohne Frage Auswirkungen auf die allgemeine Stimmung. Der Krieg koinzidierte mit dem Bewusstwerden einer demographischen Explosion: Israels Bevölkerung hat sich in den vergangenen dreißig Jahren verdoppelt. Sie ist daher sehr jung. 55 Prozent aller Israelis sind unter 35 Jahre alt. Und die unter 35-Jährigen waren größtenteils direkt am Krieg beteiligt, die meisten von ihnen sind sofort zu den Waffen geeilt und haben in Gaza gekämpft.
Sie haben Einblick genommen in das wahnsinnige Tunnelsystem, das von den internationalen Hilfsgeldern gebaut wurde, sie haben von den Vereinten Nationen finanzierte Schulen gesehen mit antisemitischen Wandbildern (Monster mit aufgemaltem David-Stern bedroht kleines Mädchen), mit Stapeln des judenfeindlichen Elaborats „Die Protokolle der Weisen von Zion“, eines Bestsellers in der arabischen Welt, mit Ausgaben von Hitlers „Mein Kampf“ auf Arabisch, Waffenlagern im Lehrerzimmer, Reisetaschen voller Bargeld, das Milieu einer global agierenden Mafia, alles unter den Augen der UN-Funktionäre. Sie haben das Elend der Zivilbevölkerung gesehen, auch den Grad der Verhetzung und Verdummung, des Fanatismus, des Judenhasses. Sie haben ein anderes Bild von den Menschen, die in Gaza leben, von jenen untereinander verfeindeten, gewaltsam von der Hamas „geeinten“, militanten arabischen Clans, die man in Europa „die Palästinenser“ nennt.
Wer das alles gesehen und erlebt hat, ist vieler Illusionen ledig, die noch den Vätern heilig waren. Als wir vor 30 Jahren nach Israel einwanderten, war Rabin Premierminister, die sozialdemokratische Avodah-Partei hatte 44 Sitze (von 120) im Parlament, die linke Meretz-Partei 12. Heute hat die Avodah 4 Sitze, Meretz ist ganz aus der Knesset verschwunden. Die israelische Linke, statt sich um die sozialen Probleme des Landes zu kümmern, hatte sich auf die „Friedenspolitik mit den Palästinensern“ kapriziert – ein Konzept, das offensichtlich gescheitert ist.
Das Schwinden der israelischen Linken – zugleich die Zunahme der rechten Parteien – hat wiederum mit der Demografie Israels zu tun: so hat sich die Zahl der Israelis, die in der „Westbank“ und Ost-Jerusalem leben, in Europa „Siedler“ genannt, in den vergangenen drei Jahrzehnten vervierfacht, von zweihundert- auf rund achthunderttausend. Tendenz steigend, da die „Siedler“-Familie durchschnittlich fast fünf Kinder zur Welt bringt. Doch der Hauptgrund für die Bewegung der israelischen Mehrheit nach rechts ist die ständige, immer noch wachsende Bedrohung des Landes durch militant-muslimische Milizen, die wenig Raum lässt für Hoffnungen auf eine friedliche Zukunft. Der Konflikt entzündete sich zunehmend inner-islamisch zwischen den verfeindeten muslimischen Blöcken: dem shiitischen Iran nebst seinen über den Nahen Osten verteilten Milizen auf der einen Seite und den sunnitisch-arabischen Staaten auf der anderen – und beide Seiten rüsten gigantisch auf.
Einen sofortigen Waffenstillstand in Gaza verlangte nur eine kleine Minderheit
In diesem Ambiente entwickelte sich Israel zu einem der größten Rüstungsexporteure der Welt, spezialisiert auf Hightech-Waffen und Raketensysteme. Im Grunde war nichts anderes möglich: Israel kann sich in dieser kriegerischen Region nur behaupten, wenn es den stets von mehreren Seiten angreifenden Gegnern militärtechnologisch überlegen ist. Im Jahr 2024 haben die großen israelischen Waffenproduzenten (Elbit, Israel Airspace Industries und Rafael) ihre Gewinne um fast 50 Prozent gesteigert, insgesamt wurden für rund 15 Milliarden Dollar Militärtechnik und Waffen verkauft, eine Verdoppelung gegenüber 2020. Das israelische Nationaleinkommen hat daher durch den Krieg nicht gelitten, der Staat kann seine großzügigen Sozialleistungen aufbringen, hunderttausende Reservisten angemessen für ihren Kriegseinsatz bezahlen, das Gesundheitssystem sogar noch ausbauen – trotz der enormen Belastungen durch den Krieg.
Die zunehmende Dominanz der Rüstungsindustrie bringt neue Probleme mit sich (zunächst die massenhafte Abwerbung von Fachkräften aus der zivilen Wirtschaft), die derzeit niemand wahrhaben will: Das Land ist ganz auf den laufenden Krieg orientiert, und alles scheint recht, was ihn erfolgreich zu Ende führt. Dabei wird der Militärführung auffallend mehr Vertrauen entgegengebracht als der Regierung. Trotz beginnender Kriegsmüdigkeit erwartet die große Mehrheit der Israelis die vollständige Zerstörung der Hamas als kämpfende Formation, möglichst auch als internationale Organisation, außerdem die Befreiung der noch lebenden Geiseln, und ist bereit, den Krieg bis zu diesem Punkt fortzusetzen. Sogar Trumps Plan einer Umsiedlung der gefährlichen Teile der Gaza-Bevölkerung findet offenbar in Israel Zustimmung. Einen sofortigen Waffenstillstand in Gaza verlangte nur eine kleine Minderheit, deren Protestaktionen in Europa stark überschätzt werden.
Es war offensichtlich und uns allen bewusst, dass die Israel an mehreren Grenzen bedrohenden Milizen trotz aller Mühe nicht wirklich unschädlich gemacht werden konnten, solange die Zentrale des Terrors, das aggressive Mullah-Regime in Teheran, sie weiterhin bezahlte und am Leben hielt. Das Schreckensregime fanatischer schiitischer Geistlicher hat sich in den vergangenen fast fünf Jahrzehnten zur führenden antiwestlichen Energie entwickelt, nicht nur im Nahen Osten, sondern weltweit, mit Langstreckenraketen – womöglich atomaren –, die zunehmend auch Europa bedrohen, und über die Huthi, eine ihrer Milizen, den Welthandel kontrollieren durch Blockaden des Roten Meeres und des Suez-Kanals. Die meisten Israelis hätten militärische Maßnahmen gegen dieses Regime schon seit langem befürwortet und mitgetragen, zumal es auch die Bevölkerung im eigenen Land, vor allem Frauen und Minderheiten, brutal unterdrückt.
Verhasst bei seinen Nachbarn
Dennoch war die Wucht des israelischen Luftschlages am vergangenen Sonnabend für uns alle überraschend. Und die offenbar präzise Vorbereitung durch die Geheimdienste. Man wusste zwar seit Jahren, dass Irans Grenzen porös waren, vor allem im Norden, im Gebiet der Kurden und Azari, an der Grenze nach Aserbaidshan (ich schrieb darüber auf Achgut), aber mit diesem Grad von Mossad-Vorarbeit, dieser weitgehenden Unterminierung des Regimes hatte kaum jemand gerechnet. Die Piloten der israelischen Luftwaffe, die jetzt die gezielten Schläge gegen die iranischen Atomanlagen, Raketendepots und militärischen Zentren ausführen, betonen immer wieder die unglaublich genaue Vorarbeit der Geheimdienste, die sie vor jedem Flug mit präzisen Daten versorgen. Auf der anderen Seite ist es erstaunlich, wie wenig dieser weltweit agierende Terrorstaat zur eigenen Verteidigung fähig ist, dass es fast keine iranische Luftabwehr gibt, dass dort über Jahrzehnte aggressive Strategien gegen andere Staaten ausgeheckt, Angriffswaffen gebaut und gebunkert wurden, ohne das eigene Territorium verteidigen zu können.
Offenbar hatte man in der iranischen Führung mit einem solchen Angriff nicht gerechnet – was erstaunlich naiv wirkt. War man sich seiner eigenen Strategie des Schreckens so sicher? Das Teheraner Regime hatte sich systematisch bei all seinen Nachbarn verhasst gemacht. Es erweist sich nun als schwerer Fehler, die sunnitisch-arabischen Staaten so gegen sich aufzubringen, nach Saudi-Arabien, Kuwait und den Golf-Emiraten durch Drohgebärden in der Straße von Hormuz oder Drohnen-Angriffe aus dem Jemen, zuletzt noch Ägypten, durch die Huthi-Attacken gegen den Zugang zum Suez-Kanal. Da ist buchstäblich niemand in der Region, der diesem Regime zu Hilfe kommt, ihm auch nur ernsthaft das Überleben wünscht. Auch Russland und China nicht, das erstere wegen massiver eigener militärischer Verluste, der Riese im Osten zwar per Staatsvertrag mit Teheran verbunden, doch letztlich nur am iranischen Öl interessiert, das man ebenso gut von den Nachfolgern der Mullahs beziehen kann. Sonst hat dieses Land – nach fast fünf Jahrzehnten ruinösen religiös-faschistischen Fanatismus – auch nichts weiter zu bieten.
Offenbar herrschte in Teheran die aus totalitären Staaten bekannte Selbstüberschätzung, die Autosuggestion eigener Größe und Stärke, die – bei Ausschaltung aller kritischen Stimmen – unvermeidliche Wahrnehmungstrübung, die ins Desaster führt. Und nun erweist sich der Moloch als hohl, und es ist eine Frage von Tagen, höchstens Wochen, dass er kollabiert. Die israelische Bevölkerung erträgt tapfer den Raketen-Terror, der in den ersten Nächten bedrohlich war, doch täglich zurückgeht, da das Raketenarsenal schrumpft und immer mehr Abschussbasen auf der Luft zerstört werden. Denn die israelische Luftwaffe beherrscht den iranischen Luftraum. Und die Regierung Netanyahu in Jerusalem, zunehmend unpopulär in der eigenen Bevölkerung wegen ihrer schwachen Haltung gegenüber den Ultraorthodoxen, muss diesen Krieg zu Ende führen, bis zur völligen Zerschlagung des Terror-Netzwerks und seiner Zentrale in Teheran.
Europa und Israel driften auseinander
Aus Sicht der meisten Israelis ist die Darstellung ihres Landes in europäischen Medien einseitig und ungerecht. Man erweckt den Eindruck einer gegen den Willen der Bevölkerung kriegführenden Regierung. Dabei ist eher das Gegenteil der Fall: die Mehrheit der Israelis will diesen Krieg zu Ende bringen und übt Druck auf eine schwache Regierung aus, es diesmal auch wirklich zu tun. Die Bemühungen der israelischen Armee, zivile Opfer zu vermeiden, obwohl sich die Hamas bekanntermaßen in und unter Schulen und Krankenhäusern versteckt, werden in Europa ignoriert. Stattdessen wird dieser Armee, die eigene Verluste in Kauf nimmt, um einen möglichst humanen Krieg zu führen, das Gegenteil unterstellt, ein Genozid.
In Israel rufen solche Unwahrheiten inzwischen Aversiv-Reaktionen hervor. Statements und Boykottdrohungen europäischer Politiker, der Ausschluss von akademischen oder Sport-Ereignissen oder Maßnahmen wie der Haftbefehl des International Criminal Court gegen Premier Netanyahu und den damaligen Verteidigungsminister Galant lösen bei Israelis Trotz aus, Enttäuschung und Abwehrhaltung, und bestärken sie in ihrem Eindruck, die meisten Europäer wären naiv. Daher unfähig zu verstehen, wozu dieser Krieg nötig ist. Die Zahlen und Lügen der Hamas, womöglich auch die der Mullahs, werden geglaubt und gegen Israel ins Feld geführt – kann man wirklich so blind sein? Wo doch auch in Europa der militante Islam wächst und gedeiht, die Schulhöfe übernimmt, die Universitäten und den öffentlichen Raum – warum verstehen sie nicht den Zusammenhang?
Europa und Israel driften auseinander, und solange dieser Krieg dauert, wird sich das kaum ändern. Und wie lange der Krieg geht, meinen die meisten Israelis, hinge nicht von uns ab, sondern davon, ob Hamas, Hisbollah, Huthi und ähnliche Gruppen weiterhin finanziert werden für ihr erklärtes Ziel, Israel zu vernichten. Also letztlich, ob das allseits verhasste Regime in Teheran auch diesmal davonkommt oder nicht. Wir Israelis müssen diesen Krieg aushalten und siegreich beenden, aber wir haben ihn nicht verursacht.
Dieser Text ist die aktualisierte Version eines Essays, der am 13.6.2025 in der Neuen Zürcher Zeitung erschien.
Chaim Noll wurde 1954 unter dem Namen Hans Noll in Ostberlin geboren. Sein Vater war der Schriftsteller Dieter Noll. Er studierte Kunst und Kunstgeschichte in Ostberlin, bevor er Anfang der 1980er Jahre den Wehrdienst in der DDR verweigerte und 1983 nach Westberlin ausreiste, wo er vor allem als Journalist arbeitete. 1991 verließ er mit seiner Familie Deutschland und lebte in Rom. Seit 1995 lebt er in Israel, in der Wüste Negev. 1998 erhielt er die israelische Staatsbürgerschaft. Chaim Noll unterrichtet neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit an der Universität Be’er Sheva und reist regelmäßig zu Lesungen und Vorträgen nach Deutschland.