Der Münchner Bariton Christian Gerhaher ist ein großer Künstler. Wenn er zusammen mit seinem kongenialen Klavierpartner Gerold Huber „Die schöne Müllerin“ von Franz Schubert interpretiert, wird aus Wilhelm Müllers Gedichtzyklus um einen liebeskranken Müllergesellen ein tief berührendes, zeitloses und ganz und gar unromantisches Menschheitsdrama. Wenn sich Gerhaher öffentlich zu Wort meldet, dann tut er auch dies stets im Namen und im Dienste der Kunst und läuft nicht dem Zeitgeist hinterher wie etwa der Pianist Igor Levit, der zusammen mit dem ZEIT-Journalisten Florian Zinnecker gerade – im Alter von nur 34 Jahren – eine Art Autobiographie auf den Markt geworfen hat, peinliches Werk der Selbstbespiegelung eines zum Staatskünstler des linksgrünen Establishments aufgestiegenen Egomanen.
Gerhaher ist aus anderem Holz geschnitzt und Mit-Initiator der Initiative „Aufstehen für die Kunst“, die sich zum Ziel gesetzt hat, der schmählichen Vernachlässigung und Geringschätzung der Künste in Zeiten einer angeblich die Gesellschaft bedrohenden Virus-Epidemie ein Ende zu bereiten. Im März reichte die Initiative einen Normenkontrollantrag beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof ein, in dem die seit fast einem Jahr andauernden, „undifferenzierten“ Theater- und Konzerthausschließungen auf den Prüfstand gestellt wurden, verbunden mit der Forderung nach einer sofortigen Öffnung im Rahmen längst erfolgreich erprobter Hygienekonzepte.
Doch die Richter schmetterten den Antrag ab, unter anderem mit dem hanebüchenen, nachgerade zynischen Argument, dass mit den staatlichen Lockdown-Maßnahmen nicht gegen die Kunstfreiheit verstoßen werde, weil es Künstlern ja freistehe, ihre Leistungen „auf verschiedene Art im Internet“ anzubieten. Untersagt sei ja „nur“ die Bühnenaufführung vor Publikum.
„Das Schlimmste ist das Missverstehen der Künste“
Für Gerhaher und seine Mitstreiter verkennen die Richter in eklatanter Weise die spezifischen gesellschaftlichen und materiellen Bedingungen, unter denen Kunst erst entstehen kann. „Überspitzt wird behauptet, ein Sänger könne ja auch in der Badewanne singen. Oder er dürfe ein bisschen proben. So geht’s natürlich nicht. Ein Komponist oder ein Schriftsteller können weiter für die Schublade arbeiten. Aber damit entsteht kein wahrnehmbares Werk. Die Kunst ist erst dann frei, wenn sie sich der Interpretation ausliefert“, sagt Gerhaher in einem Interview des Münchner Merkurs. „Das Schlimmste an diesem Urteil ist – neben der Nicht-Respektierung wissenschaftlicher Erkenntnisse – das Missverstehen des Wesens der Künste“.
Wenn man der Argumentation der Bayerischen Verwaltungsrichter folgte, wären auch die als „entartet“ verfemten Maler im Dritten Reich, die bestenfalls noch im stillen Kämmerlein ihrer Berufung nachgehen konnten – erinnert sei etwa an Emil Noldes „ungemalte Bilder“ – ebenfalls nicht in ihrer Kunstfreiheit beeinträchtigt gewesen. Sie konnten ja noch malen, wenngleich niemand außer ihnen diese Bilder sehen durfte. Der Verweis der Richter auf die heutigen Möglichkeiten der Veröffentlichung via Internet im Rahmen von vielfach praktizierten Live-Streams geht zudem locker über die Tatsache hinweg, dass dieser Weg gerade einmal den festen, oft staatlich finanzierten Ensembles zur Verfügung steht und auch dann nicht viel mehr ist als gehobene Beschäftigungstherapie.
Das riesige Heer der frei arbeitenden Instrumentalisten und Sänger wird durch die Corona-Maßnahmen in eine wirtschaftlich wie psychisch prekäre, mitunter, wie die zunehmende Zahl von Suiziden in der Szene zeigt, lebensbedrohliche Schattenexistenz gezwungen. Tausende vielfach hochbegabter und bestens ausgebildeter Musiker müssen sich mit Gelegenheitsjobs durchschlagen und überdies auch noch fürchten, aus der Künstlersozialkasse zu fliegen und damit ihren Krankenversicherungsschutz zu verlieren. Wo bleibt überdies der Anspruch eines jeden Bürgers auf kulturelle Teilhabe, gerade zu einer Zeit, als diese nötiger erscheint denn je, um dem grassierenden Prozess der Vereinzelung und Vereinsamung vieler Menschen in der staatlicherseits auferlegten häuslichen Klausur entgegenzuwirken.
„Theoretisch sogar eine Vollbesetzung im Saal denkbar wäre“
Dabei wäre die sofortige Öffnung sämtlicher Opern- und Konzerthäuser und aller Theaterbühnen gefahrlos möglich, selbst wenn man den Sinn der Pandemie-Bekämpfung und der ihr zugrunde liegenden Inzidenzwerte nicht generell anzweifelt. Dass selbst internationale Festspiele zu Pandemiezeiten möglich sind, hatten zuerst die Salzburger Festspiele gezeigt, denen im Sommer 2020 eine zwar verkürzte und modifizierte, aber am Ende beinahe normale Saison gelang. Von den mehr als 70.000 Besuchern war bis zum November, als das Programm der Saison 2021 präsentiert wurde, kein einziger positiver Fall den Behörden bekannt geworden.
Das Publikum wurde in den verschiedenen Auditorien nach einem Schachbrettmuster mit Sicherheitsabständen platziert, es gab eine generelle Maskenpflicht außer am Sitzplatz während der Vorstellungen, personalisierte Eintrittskarten zur möglichen Kontaktverfolgung, außerdem nur pausenlose Vorführungen ohne Bewirtung. Wissenschaftler bescheinigten den Festspielverantwortlichen, dass die Präventionsmaßnahmen das Infektions- und Verbreitungsrisiko tatsächlich minimierten und „auch in Zeiten der Pandemie Veranstaltungen durchgeführt werden können“.
Ähnlich ermutigende Ergebnisse erbrachte ein im Dezember vorgestelltes Pilotprojekt der Bayerischen Staatsoper mit maximal 500 Zuschauern im Münchner Nationaltheater. Es bezog sich auf Inzidenzwerte zwischen 35 und 100 je 100.000 Einwohner und arbeitete mit ähnlichen Maßnahmen wie die Salzburger Festspiele. Dabei wurde auch der wichtige Beitrag einer effektiven Belüftung unterstrichen, mit der ein vollständiger Luftaustausch im Nationaltheater alle 9,5 Minuten gewährleistet werden konnte. Trotz Pausen und funktionierender Pausengastronomie konnten die Wissenschaftler der Technischen Universität München „kein erhöhtes Infektionsrisiko beim Besuch der Bayerischen Staatsoper feststellen“.
Last but not least gab es im November 2020 auch im Konzerthaus Dortmund umfangreiche Messungen zur Corona-Ansteckungsgefahr. Hier erwies sich, dass in Anbetracht der vorhandenen Lüftungsanlage sowie einer Pflicht zum Tragen eines Mund-Nasenschutzes „theoretisch sogar eine Vollbesetzung im Saal ohne erhöhtes Ansteckungsrisiko denkbar wäre“.
Keine differenziertere Betrachtung des Kulturbetriebs erkennbar
All diese wohl begründeten Schlussfolgerungen wissenschaftlicher Untersuchungen wurden von den Bayerischen Verwaltungsrichtern in Bausch und Bogen verworfen und als „nicht eindeutig gesichert“ abgetan. „Auf die Frage, ob es während Kulturveranstaltungen bislang nachweislich zu Infektionen mit Sars-CoV-2 gekommen ist, kommt es ebenso wenig an wie auf die Eignung möglicher – auch von den Antragstellern vorgetragener – Hygienekonzepte“, heißt es in dem Gerichtsbeschluss, mit dem die Richter ergeben dem behördlichen Narrativ der Alternativlosigkeit der behördlichen Zwangsmaßnahmen folgen und offenbar nur solche wissenschaftlichen Erkenntnisse anzuerkennen bereit sind, die die Fiktion einer weiter unkontrolliert wütenden Todes-Epidemie aufrecht erhalten.
Nicht nur Gerhaher kann sich angesichts einer solchen Argumentation nur in Sarkasmus flüchten: „Denken wir an das drohende Verbot von Ostergottesdiensten. Was gab es da für einen Aufschrei. Dabei kann man die genauso im Fernsehen oder im Internet übertragen, wenn es im Interesse der Volksgesundheit sein soll. In Theater und Konzertsälen wird die Luft alle neun Minuten ausgetauscht, in den Kirchen steht manchmal noch die Luft der Erbauungszeit.“ Und der Berliner Rechtsanwalt Wolfram Hertel, der die Initiative „Aufstehen für die Kunst“ vor Gericht vertritt, fordert, endlich differenziert mit der Pandemie umzugehen. „Wir können nach 14 Monaten Corona-Krise nicht mehr alles über einen Kamm scheren.“ Die Kulturstätten der Republik seien mittlerweile viele Monate länger geschlossen als der nicht lebensnotwendige Einzelhandel, heißt es in einer ersten schriftlichen Stellungnahme der Initiative. Laut einer Studie der TU Berlin sei die Ansteckungsgefahr über Aerosolpartikel in „lebensnotwendigen“ Supermärkten doppelt so hoch wie in Theatern mit verringerter Zuschauerzahl.
Wie nicht anders zu erwarten, lässt auch das neue, bundeseinheitliche Infektionsschutzgesetz keine differenziertere Betrachtung des Kulturbetriebs erkennen. „Vielmehr macht der lapidare Verweis (…) auf wirtschaftliche Kompensation des Schadens deutlich, wie wenig der Gesetzgeber geneigt ist, die ideelle Dimension von Kunst und Kultur für die Gesellschaft überhaupt anzuerkennen“, heißt es in einer gemeinsamen Pressemitteilung des Deutschen Bühnenvereins, des Bundesverbandes Freie Darstellende Künste und der Interessengemeinschaft der Städte mit Theatergastspielen.
Erniedrigende Triage
Und wenn sich in nächster Zeit überhaupt etwas bewegen könnte, dann steht all jenen, die künftig noch Kultur produzieren, konsumieren beziehungsweise genießen möchten, eine enervierende Testprozedur bevor oder die erniedrigende Triage nach „schon geimpft“, „noch nicht“ oder „nicht mehr geimpft“. Anlässlich eines Konzertes mit ihrem Chefdirigenten Kirill Petrenko haben die Berliner Philharmoniker das Prozedere „komplexer Einlassprozeduren“ bereits erprobt. Und in Österreich wird an einer „grünen App“ gewerkelt, von der man annehmen darf, dass sie vielleicht schon im Sommer zum Einsatz kommt. Im Vergleich dazu wäre die letzte Saison der Salzburger Festspiele dann ein Paradies verflossener Freiheiten gewesen.
Die Verzweiflung der Kulturschaffenden ist mit Händen zu greifen. „Wir Künstler, die auf einer Bühne stehen, Schauspieler, Musiker, Sänger, haben alle große Angst. Dass viele Strukturen zerstört, viele Veranstalter pleitegegangen sein werden, viele Konzerthäuser, Künstler, Schauspieler, Freischaffende bankrott sind. Und alle, die eine Bühne brauchen, nicht mehr arbeiten können, einen anderen Beruf ergreifen mussten“, sagt Albrecht Mayer, Solo-Oboist der Berliner Philharmoniker in einem „Welt“-Interview. „Durch diese Kulturkrise, die nicht zuallererst pandemie-, sondern politikgemacht ist, wurde eine Landschaft, die einzigartig auf der Welt ist, an den Rand des Ruins gebracht.“ Der politisch aktive Operntenor Ferdinand von Bothmer will darin sogar ein System erkennen: „Man will die gesellschaftlich-sozialen Interaktionen zerstören, damit die Gesellschaft nicht mehr wehrfähig gegenüber dem forcierten Wandel ist. Man nimmt uns alles weg, was das Leben lebenswert macht, um die Leute dazu zu zwingen, sich der kompletten digitalen Kontrolle auszuliefern. Was in dem letzten Jahr alles umgesetzt wurde und jetzt mit dem Infektionsschutzgesetz einen Gipfelpunkt erreicht, ist nichts weiter als eine Algokratie ('Herrschaft der Algorithmen', Anm.d.Red.).“
Vielleicht ist es manchen Kulturpolitikern, insbesondere der Linken und der Grünen ja auch gar nicht so unrecht, wenn die „elitäre“ Hochkultur durch die Pandemie dezimiert und Platz geschaffen wird für neue Angebote mit dem Fokus auf „Nachhaltigkeit, Diversität und Teilhabe“, wie es im grünen Wahlprogramm 2021 heißt. Zumal das politische Establishment in Deutschland kaum weiter entfernt sein könnte von den überkommenen Angeboten und Institutionen des klassisch-bürgerlichen Bildungskanons als heute.