Hannes Stein / 15.07.2012 / 04:16 / 0 / Seite ausdrucken

Wie Deutschland endlich liberal wurde

Eines Samstagvormittags beschloss Herr Piesepampel, in die Synagoge zu gehen. Er sah dort Männer mit merkwürdigen Kappen auf dem Kopf, die sich Stoffbänder um die Schultern gelegt hatten und beim Beten ihre Oberkörper vor- und zurückbewegten; es sah sehr exotisch aus. Später wurde eine Pergamentrolle auf ein Pult gelegt, und jemand las etwas daraus vor, das Herr Piesepampel selbstverständlich nicht verstand, da es sich um Hebräisch handelte – aber sein Banknachbar zeigte ihm mit dem Finger in einem gebundenen Buch die Übersetzung. Da stand: „Und sie führte das Heer wider die Midianiter, wie der Herr dem Mosche geboten hatte, und erwürgten alles, was männlich war ... Und die Kinder Israel nahmen gefangen die Weiber der Midianiter und ihre Kinder; all ihr Vieh, all ihre Habe und all ihre Güter raubten sie und verbrannten mit Feuer all ihre Städte ihrer Wohnungen und all ihre Zeltdörfer.“ (4. Mose 31, 9-11)

Herr Piesepampel war ehrlichen Herzens entsetzt. Solche Texte wurden also am Samstag in jeder Synagoge der Welt laut vorgelesen? Er ging nach Hause, nahm die Familienbibel zur Hand und las bis ins Morgengrauen. Sein Entsetzen steigerte sich dabei zu Betroffenheit: Landnahme, Völkermord, Visionen von Metzeleien bei fast allen Propheten. Aber nicht nur in der Bibel fand Herr Piesepampel solche Passagen; auch im Koran wimmelte es von scheußlichen Stellen, man brauchte gar nicht lang zu blättern. Und die Bhagavad Gita – das heilige Buch der Hindus – schien überhaupt nur aus Aufforderungen zu Bluttaten zu bestehen.

Die Verstörung des Herrn Piesepampel reichte tief. Sein Gewissen ließ ihm keine Ruhe. Also stellte er vor dem Landgericht Posemuckel den Antrag, die heiligen Schriften der Juden, Muslime und Hindus zu verbieten; schließlich werde in ihnen zu Straftaten aufgefordert, ja im Grunde müsse man diese Bücher als verfassungsfeindlich bezeichnen. Selbstverständlich gab das Landgericht in Posemuckel Herrn Piesepampel recht. Von nun an durfte in keiner Synagoge, keiner Moschee und keinem Hindutempel mehr aus den einschlägigen Schriften vorgetragen werden, die zu Mord und Totschlag aufriefen. Der Verfassungsschutz wurde damit beauftragt, die Einhaltung der neuen Regelung zu überprüfen. So kam es, dass fortan bei jedem Gottesdienst auf deutschem Boden zumindest ein Herr mit einem Notizblock darüber wachte, dass hier alles im Rahmen der freiheitlich-demokratischen Ordnung blieb.

Leider konnten die Herren vom Verfassungsschutz meist weder Hebräisch noch Arabisch oder Sanskrit. Darum verabschiedete der Landkreis Posemuckel ein Gesetz, das besagte, alle Lesungen aus heiligen Büchern hätten künftig in der Landessprache zu erfolgen. Die Konservativen applaudierten, denn sie hatten es ja schon immer gesagt: Es darf in Deutschland keine Parallelgesellschaften geben!

Die Aufregung unter Rabbinern, Imamen und Pudscharis war groß. Außerdem erfolgte naturgemäß eine Feuilletondebatte. Ein jüdischer Witzbold schrieb in einer große deutschen Tageszeitung, ihm sei gar nicht bewusst gewesen, dass die fünf Bücher Mosis das heilige Buch des Judentums seien – er für seine Person habe immer angenommen, die kanonische jüdische Schrift sei „Portnoys Beschwerden“ von Philip Roth. Ein Kollege jenes Witzboldes meinte allerdings ganz humorlos, nun sei das Ende der Religionsfreiheit in Deutschland angebrochen. Ihm wurde entgegnet, solche schrillen Töne seien in der Debatte nicht hilfreich.

In Berlin bildete sich spontan eine Gruppe: „Juden gegen die Thora“ – analog der Gruppe „Muslime gegen die Scharia“, die es ja längst gibt. Die „Juden gegen die Thora“ definierten sich als progressive Menschen; weder mit der Bibel noch mit dem Talmud oder dem reaktionären Staat Israel wollten sie etwas zu tun haben wollten. Als Sprecherin der Gruppe trat eine Frau Senkelstroh auf, die jedem, der ihr mit Einwänden kam, wütend entgegenschleuderte, ihre Oma habe im KZ gesessen und ihr Großvater sei Rabbiner gewesen. Später kam zwar heraus, dass ihre Oma nicht KZ-Häftling, sondern KZ-Wärterin gewesen war, während es sich bei ihrem Großvater um einen Wehrmachtsgeneral handelte; aber das hinderte ihre Anhänger nicht daran, auch weiterhin fest an Frau Senkelstroh zu glauben. Schließlich, sagten sie, dürfe es keine Sippenhaft geben. Und was immer ihr familiärer Hintergrund sei – Frau Senkelstroh setze sich wenigstens selbstlos gegen die Barbarei ein.

Manche Leute verstiegen sich zu dem schrecklich unoriginellen Vorwurf, es sei antisemitisch, wenn in deutschen Synagogen verboten werde, aus der Thora vorzulesen. Die Mehrheit der Feuilletonschreiber wehrten diesen Vorwurf indessen mit dem geschichtsbewussten Hinweis ab, dass die Nazis nicht das Vorlesen aus der Thora verboten, sondern Synagogen angezündet hätten. Das sei schon ein gewaltiger Unterschied, das müsse man doch zugeben. Im Übrigen gehe es diesmal ja nun wirklich nicht darum, die Juden umzubringen. Statt dessen sollten die Juden vor ihrer eigenen (grausamen, gewalttätigen) Religion in Schutz genommen werden; genau wie die Hindus und Muslime auch. Nicht vom Vernichtungswillen gegen Minderheiten sei man also getrieben, sondern von einem umfassenden Willen zur Fürsorge.

Der Volksmund, der sich in Internetforen zu Wort meldete, formulierte freilich eine Spur deutlicher: „Die Itzigs, die Musels und die Kuhanbeter sind wohl nicht ganz dicht! Die müssen mit einem Fußtritt in die Moderne befördert werden! Wir leben doch nicht mehr im Mittelalter!“

Auch seine schärfsten Kritiker konnten dem „Thoraverbot“ – unter diesem Schlagwort wurde das Gerichtsurteil aus Posemuckel bald bekannt – nicht seine fortschrittliche Tendenz absprechen. Mit Recht beriefen seine Befürworter sich auf Voltaire und Diderot, ja eigentlich auf das gesamte Ensemble der französischen Aufklärung. Endlich, jubelten die Freunde des Fortschritts, wurde es in Deutschland Licht; endlich wurde der finstere Aberglauben auch noch aus den hintersten Winkeln vertrieben. Als der Landkreis Posemuckel beschloss, die Religionsgemeinschaften dürften nichts lehren, was sich mit den wissenschaftlichen Fakten im Widerspruch befinde, war der Siegeszug des Säkularismus vollendet. Von nun an stand in jedem Gotteshaus ein Astrophysiker bereit, der am Ende der Predigt dem jeweiligen Rabbiner, Imam oder Priester scharf in die Parade fuhr und den Gläubigen haarklein auseinandersetzte, warum in ihren heiligen Büchern ja doch nichts als Unsinn geschrieben sei.

So siegten die Aufklärung, die Menschlichkeit und die Wissenschaft. Zu Anfang siegten sie in dem bescheidenen Landkreis Posemuckel, dann in ganz Deutschland: erst durch das Thoraverbot wurde es zu einem liberalen Land, das diesen Namen auch verdiente. Die Menschheit konnte sich an so viel Liberalismus ein Beispiel nehmen! Herr Piesepampel ließ sich mit einem befriedigten Seufzer in seine Polstergarnitur zurücksinken; denn sein Lebenswerk war getan.

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