„Die Demokratie der Bundesrepublik Deutschland wandelt sich vor unseren Augen. Es werden Wege beschritten, an deren Ende es weder eine Demokratie noch einen freien Bürger geben würde, vielleicht ohne dass die, die sie gehen, dieses Ende wollen. Diese Wege sind nicht unausweichlich. Aber nur ein zur Freiheit drängendes, seiner selbst darin bewusstes Volk kann die Demokratie in freier republikanischer Verfassung, die bisher nur eine Chance ist, verwirklichen. Wie werden wir regiert? Wer regiert uns? Woher kommen die Politiker? – Wie ist die Struktur der Bundesrepublik, nicht nur juristisch und in der Theorie, sondern im faktischen Geschehen? – Welcher Wandel vollzieht sich in der Struktur der Bundesrepublik? Es scheint: von der Demokratie zur Parteienoligarchie, von der Parteienoligarchie zur Diktatur."
So sah ein prominenter Beobachter die Bundesrepublik schon vor 50 Jahren. Es war der Psychiater und Philosoph Karl Jaspers, der sein viel beachtetes Buch "Wohin treibt die Bundesrepublik?" mit den soeben zitierten Sätzen beginnt. Etwas später heißt es dann:
„Die Verfasser des Grundgesetzes scheinen vor dem Volk Furcht gehabt zu haben. Denn dieses Gesetz schränkt die Wirksamkeit des Volkes auf ein Minimum ein. Alle vier Jahre wählt es den Bundestag. Die ihm von den Parteien vorgelegten Listen oder Personen sind schon vorher durch die Parteien gewählt. Der Vorgang dieser verborgenen Vorwahl, die die eigentliche Wahl ist, ist verwickelt; die Namen für die Wahlkreislisten und die Landeslisten werden nicht auf gleiche Weise aufgestellt. Immer aber sind es die Parteigremien, nie das Volk, das an diesem entscheidenden Anfang beteiligt wäre. Man muss Parteimitglied sein, um bei dieser Wahl irgendwo mitwirken und um aufgestellt zu werden."
Die Parteien seien selbstständige Mächte geworden, die ihrer Pflicht, das Volk zu informieren und zum Denken zu erziehen, in keiner Weise gerecht würden und bei Wahlen „nach Prinzipien der Reklametechnik" funktionierten. Gemeint als Organe des Willens des Volkes seien sie zu Organen des Staates geworden, der nunmehr wieder als Obrigkeitsstaat seine Untertanen beherrsche. Damit liege die Staatsführung in den Händen der Parteienoligarchie.
Der heute noch so oft lobend erwähnte Satz von Willy Brandt bei seiner Regierungserklärung 1969 „Wir wollen mehr Demokratie wagen" ist in diesem Zusammenhang verräterisch: Wir – so redet man uns ein – leben zu unserem großen Glück in einer Demokratie. Was aber bedeutet dann mehr Demokratie? Und warum müssen wir dafür etwas wagen?
Zur Erinnerung: Karl Jaspers ist Anfang 1969 in Basel gestorben. Die 1960er Jahre waren weltweit eine Zeit des Aufbruchs und der großen Konflikte, der Proteste gegen den menschenverachtenden Vietnam-Krieg, der Kuba-Krise und der Bürgerrechtsbewegungen, der politischen Morde, der Ostpolitik – Wandel durch Annäherung. Eine Zeit der großen Hoffnungen und der Zerstörungswut. Jaspers hat nicht mehr miterlebt, in welchem Maße die BRD in den folgenden Jahren auch noch ideologisch besetzt wurde – mit all den Auswirkungen, die heute immer mehr zutage treten. Auch von der Globalisierung hat er noch nichts gewusst.
Volksabstimmungen versus Parteien-Oligarchie
Im Weiteren geht es in Jaspers Text um die Mitbestimmung des Volkes. (Man beachte, wie unbefangen damals noch mit dem Begriff "Volk" umgegangen wurde.):
„Eine Mitwirkung des Volkes durch das Referendum wurde nicht zugelassen. Das Volk ist dem Namen nach der Souverän. Aber es hat keinerlei Einwirkung auf die Entscheidungen, außer durch die Wahlen, in denen nichts entschieden, sondern nur die Existenz der Parteienoligarchie anerkannt wird. Die großen Schicksalsfragen gehen nicht an das Volk. Ihre Beantwortung muss das Volk über sich ergehen lassen, und es merkt oft gar nicht, dass etwas und wie es entschieden wird."
Wie weit sich die selbsternannten Eliten von dem Gedanken entfernt haben, dass das Volk der Souverän ist, sieht man an folgendem Zitat von Joachim Gauck: „Die Eliten sind gar nicht das Problem; die Bevölkerungen sind im Moment das Problem." Der Bundespräsident glaubt zum Ende seiner Amtszeit nicht, dass der Slogan der DDR-Bürgerrechtler „Wir sind das Volk!" auch für das heutige Deutschland Anwendung finden könnte. In einem Interview spricht er sich unmissverständlich gegen bundesweite Volksabstimmungen aus, da den Bürgern die Einsicht in die komplexen Probleme der Politik fehle. Sogar den Bundespräsidenten sollten sie nicht wählen dürfen. „Unser Parlament und die Regierung bestimmen die Politik", erklärte er gegenüber der Stuttgarter Zeitung. „Eine Direktwahl des Bundespräsidenten würde den Eindruck erwecken, dass es noch eine letzte Instanz gibt, die autorisiert ist, notfalls das zu korrigieren, was die Regierung möglicherweise falsch gemacht hat." Der Bürger, der Souverän als höchst suspekte "letzte Instanz"! Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen!
Dazu passt Jakob Augsteins Ansicht, dass die Parlamente die Demokratie vor dem Volk und das Volk vor sich selber schützen müssten. Überall können wir heute dieses tief verankerte und vom Bürger verinnerlichte Untertanen-Denken beobachten. Der Bürger hat es nicht nur zugelassen, sich das Bewusstsein, der Souverän zu sein, abtrainieren zu lassen, sondern er spricht sich heute oft selber gegen seine Mitwirkung aus und stimmt damit der Einschätzung zu, dass er intellektuell nicht fähig sei, sich ein Urteil zu bilden. Und die Politik, die Bildungseinrichtungen und die öffentlich-rechtlichen Medienanstalten haben denn auch alles dazu getan, ihm schrittweise die dafür notwendigen Grundlagen und Informationen zu entziehen: Wir stehen auf den Trümmern unseres Bildungssystems.
Die Rolle der Opposition
Es schert die Mehrheit der Politiker schon lange nicht mehr, was die Bürger denken. Die Bundespressekonferenz und die Bundestagsdebatten sprechen da eine deutliche Sprache. Mit demokratischem Umgang, mit inhaltlicher Auseinandersetzung haben die Debatten nichts mehr zu tun. Die Überheblichkeit und offene Gehässigkeit, mit der man mit der neuen Oppositionspartei – laut Bundestagsabgeordnetem Johannes Kars ein „Haufen rechtsradikaler Arschlöcher" – umgeht, erinnern an das Benehmen von pöbelnden, sich des Beifalls der Mehrheit sicheren Schülerbanden im Wechsel mit oberlehrerhaften Belehrungen – Zitat Philipp Amthor: „Hören Sie mir mal zu; da können sie noch etwas lernen über die Verfassung!"
Ein Ort, wo – um nur ein Beispiel zu nennen – der schon mit abfälligem Gelächter begleitete Einwand eines AFD-Abgeordneten, man müsse angesichts einer nicht ausreichenden Anzahl anwesender Abgeordneter vor der gerade anstehenden Gesetzesabstimmung die Beschlussfähigkeit des Parlaments feststellen, die Sitzungsleitung unter Claudia Roth nach "interner Beratung" verkündete: „Wir sind der Meinung, dass die Beschlussfähigkeit gegeben ist."
„Nimm das Recht weg – was ist dann ein Staat noch anderes als eine große Räuberbande", zitierte Papst Benedikt XVI am 22.10.2011 den Kirchenheiligen Augustinus im Deutschen Bundestag.
Zum Punkt "Opposition" hier noch einmal Karl Jaspers im Jahr 1966:
„Der Sinn der demokratischen Opposition ist die Lebendigkeit der Politik durch Auseinandersetzung, durch Kontrolle, durch Bereitschaft, mit ihren abweichenden Zielsetzungen selber die Verantwortung der Regierung zu übernehmen und sich zu bewähren. Das verpflichtet sie, so zu denken und sich so zu verhalten, dass der sachliche Wille in Zielsetzung und politischer Gesinnung glaubwürdig ist. Regierung und Opposition, obgleich sie im Kampf um die Macht stehen, sind sich befreundet auf dem gemeinsamen Boden des einen Staatsinteresses."
Finde das nicht statt, blieben die Parteien unter sich mit nur einem Interesse: die Herrschaft. „Es gibt weder Opposition noch Kontrolle. Die internen Kämpfe sind Intrigen. Eine politische Konzeption fehlt, zumal das Übergeordnete nicht das Staatsinteresse des Volkes, sondern das Interesse der Oligarchie selber ist. Die Wahlen bringen nur unwesentliche Verschiebungen in die verhältnismäßige Größe der Parteien, die insgesamt die Oligarchie bilden. Alle vier Jahre aber heißt es: Das Volk hat gewählt, das Volk kann gehen."
Das sind die Fakten. Die Auswirkungen kann jeder, der seine Augen aufmacht, täglich beobachten. Da fehlt dann nur noch der für 2023 geplante zweieinhalb Meter tiefe und zehn Meter breite Graben auf dem Platz der Republik, samt Sicherheitszaun zur Abschirmung des Parlamentsgebäudes.
Die Fassade bröckelt, die Gräben werden tiefer
„Ich finde es nicht richtig, dass man immer die Sorgen und Nöte der Bevölkerung ernst nehmen muss. Was haben die denn für Sorgen und Nöte? Ich kann das nicht verstehen." Elfie Handrick, Schatzmeisterin der SPD Wustermark in Brandenburg, spricht aus, was auch von einem Fürsten, König oder Kaiser aus der Zeit des Absolutismus hätte stammen können.
Wie ist es immer wieder möglich, dass nur eine Minderheit die Vertuschung der doch so offen zutage liegenden Unwahrheiten und des Unrechts überhaupt bemerkt, geschweige denn aufbegehrt? Werden wir es überhaupt noch schaffen, unsere Freiheit zu verteidigen, wie es die Bürger von Hongkong so leidenschaftlich, ausdauernd und unter Einsatz ihrer gesamten Existenz tun? Karl Jaspers schrieb:
„Wenn man nicht mehr miteinander reden kann, wenn der republikanische Weg des Sichüberzeugens und der Entwicklung der Dinge durch ein Miteinander- und Gegeneinanderreden der in legalen Formen kämpfenden Mächte aufgehoben wird, wenn Politik im eigentlichen Sinne aufhört, dann bleibt Selbstpreisgabe oder Bürgerkrieg. [...] Ein Volk, das in solchem Falle nicht den Bürgerkrieg der Unfreiheit vorzieht, ist kein freies Volk. Nur der Bürgerkrieg kann in solcher Lage die angemessene Entscheidung bringen. Unterliegt dann die Freiheit, statt von vornherein auf sie zu verzichten, hat das Volk durch seine Minorität wenigstens bezeugt, was es seinem Wesen nach ist und sein könnte."