Im Lager der bald ehemaligen Bundeskanzlerin herrscht die blanke Angst. Die Wahl von Friedrich Merz zum CDU-Vorsitzenden würde den langjährigen Merkel-Vertrauten von Altmaier über Seibert bis von der Leyen den Garaus machen. Die alten weißen Männer kämen wieder. Und das gilt es zu verhindern. Dabei vertraut sie ausgerechnet auf die ZDF-Stamm-Demoskopen “Forschungsgruppe Wahlen”. Dabei lagen die schon mal falsch, als ihr Chef die AfD als “Chance für die Union” sah.
Auch in der Medienlandschaft haben viele offensichtlich ihre Karriere der eigentlich unangemessenen Nähe zur zukünftigen Bundeskanzlerin a.D. zu verdanken. Und das gilt insbesondere für das fälschlicherweise “öffentlich-rechtlich” genannte Parteienfernsehen. Den Redaktionsleitern, Programmdirektoren und -koordinatioren ist noch gut im Gedächtnis, wie Merz-Andenpakt-Kumpel Roland Koch einst dem sich als unabhängig gerierenden ZDF-Chefredakteur Nikolaus Brender den Stuhl vor die Tür setzte.
Das anschließende Verfassungsgerichtsurteil forderte denn auch mehr “Staatsferne”. Von mehr Parteienferne war allerdings nicht die Rede. Das wäre schwer gefallen. Denn wie das öffentlich-rechtliche Urgestein Wolfgang Menge einst sagte: Wenn der Programmdirektor von der CDU ist, ist sein Chauffeur von der SPD. Los werden wird man die meisten ohnehin kaum. Denn wie das ehemalige Ensemble-Mitglied von Kay und Lore Lorentz Kommödchen Thomas Freitag einst bemerkte, muss man beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk schon silberne Löffel klauen, um unehrenhaft entlassen zu werden.
Mit den Herren Merz beziehungsweise Spahn an der CDU-Spitze würde sich das einstellen, was man in diesen Kreisen einen “Rechtsruck” nennt. Und den Vertretern der AfD kann man ja noch eine Weile den Zugriff auf die Pöstchen in den Rundfunkräten verweigern. Um die Biotope in Hamburg-Lokstedt und am Mainzer Lerchenberg zu erhalten und Artenschutz für den öffentlich-rechtlichen Journalismus zu betreiben, bedient man sich der Meinungsforschung, um die genehmere CDU-Parteivorsitzende gegen den wahrscheinlichen Willen der Basis auf den Schild zu heben.
Mit Tortengrafik und Balkendiagramm wird eine Seriosität ausgestrahlt, die auf der tendenziösen Befragung einer ausgewählten Zielgruppe beruht, deren Zuschnitt bereits das gewünschte Ergebnis garantiert. Auf diese Weiseist Demoskopie die wissenschaftlichste Form der Lüge. So veröffentlicht das ZDF-Politbarometer bereits zum zweiten Mal eine Befragung der “CDU-Anhänger”, die mehrheitlich die Wahl von Annegret Kramp-Karrenbauer (AKK) bevorzugen. Offensichtlicher kann man nicht manipulieren.
Schlicht und einfach Propaganda
Denn was genau sind – demoskopisch gesehen – “CDU-Anhänger”? Befragte, die bei der letzten Umfrage angegeben haben, CDU zu wählen? Oder Befragte, die bei der letzten Bundestagswahl CDU gewählt haben? Befragte, die die CDU wählen würden? Fragen über Fragen, aber keine Antworten.
Anders gesagt, die Meldung, Kramp-Karrenbauer läge bei der Kandidatenwahl vorne, die von allen Medien rauf und runter zum zweiten Mal verbreitet wurde, war weder Fake noch News. Sie war schlicht und einfach Propaganda und hätte von seriösen Medien nicht einfach nachgebetet werden dürfen. Was ein weiterer Beleg für den allseits verbreiteten “Copy and Paste”-Journalismus ist, der sich das Einschalten des Hirnes spart, wenn der Absender einer Meldung halbwegs seriös erscheint.
Auch die verbreitete Erkenntnis, unter allen Befragten läge AKK – die nur ein Buchstabe vom AKW unterscheidet – vorne, ist ein manipulatives Muster ohne Wert. Allein signifikant wäre wohl die Information, wie viele Befragte die CDU wählen würden, wenn entweder Merz, Spahn oder AKK als Kanzlerkandidat*in anträten, nachdem er, sie oder es (man weiß es nicht) zum Parteivorsitzenden gewählt wurden. Doch darüber liefern die Wissenschaftler von der legendären “Forschungsgruppe Wahlen” vorsichtshalber keinen Hinweis.
Schauen wir uns mal die Zahlen an. Bei der Bundestagswahl 2017 waren insgesamt 61,7 Millionen Deutsche wahlberechtigt. Um die Stimmung im Lande zu eruieren, wurden davon 1.336 Wahlberechtigte befragt, die nach dem “Zufallsprinzip” ausgewählt worden waren. Mir persönlich erscheint diese “Stichprobe” doch ein wenig klein.
Nachdem aus dem Setup keine Informationen darüber zu finden sind, wie die “Forschungsgruppe Wahlen” die “CDU-Anhänger” definiert, gehen wir mal davon aus, dass sie diejenigen meint, die in der Umfrage angegeben haben, die CDU zu wählen. Das wären 27 Prozent. 27 Prozent der 1.336 über Mobiltelefon und Festnetz ausgewählten Befragten (bei mehreren im Haushalt wurde immer der befragt, der als letzter Geburtstag hatte), sind exakt 360,72 Befragte, die am Telefon erklärt haben, wenn am Sonntag Bundestagswahl wäre, was ja nicht der Fall ist, würden sie CDU/CSU wählen. Aber nicht nur die CDU, sondern eben auch die CSU. Denn der Parteivorsitz der CDU hat, strenggenommen, nichts mit der CSU zu tun. Und im goldenen Merkel-September 2017 hat die CDU alleine immerhin ein Ergebnis von 26,8 Prozent erreicht, also so viel wie im Politbarometer 2018 gemeinsam mit der CSU, die aber eben immerhin mit rund 6 Prozent nochmal die Fünf-Prozent-Hürde übersprang. Es dürfte sich also wohl um rund zufällig anhand ihrer Telefonnummer und ihrem Geburtsdatum ausgewählte 300 mögliche CDU-Wähler handeln, die round about 20 Prozent des Stimmanteils der CDU repräsentieren.
Die katholisch-südliche Variante der bisherigen Kanzlerin
Das einzige Problem dieses Zahlenspieles ist: Es ist völlig irrelevant. Denn die ungefähr 300 CDU-Wähler, die rund 20 Prozent der Wähler repräsentieren, sind wahrscheinlich nicht unbedingt MItglied der CDU. Und wenn die CDU wie die SPD eine Mitgliederbefragung durchführen würde, wären 425.910 CDU-Mitglieder wahlberechtigt. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass unter den möglichen, zufällig ausgewählten 300 CDU-Wählern mit Festnetz- oder Mobiltelefon auch CDU-Mitglieder zu finden sind? Da hilft kein Taschenrechner. Es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass auch nur ein CDU-Mitglied zufällig an dieser Befragung teilgenommen hat, ob mit Mobiltelefon oder Festnetz und unabhängig von seinem Geburtsdatum.
Immerhin waren die 425.910 Mitglieder nicht ohne Einfluss. Sie dürfen an den acht CDU-Regionalkonferenzen teilnehmen und haben mit etwas Glück die Chance, eine Frage zu stellen und im Anschluss bei Mitgliederversammlungen Delegierte zu beeinflussen. Wählen dürfen sie den oder die Parteivorsitzende nämlich nicht.
Dieses Recht ist alleine 1.001 Parteitagsdelegierten vorbehalten, die allerdings von diesen Mitgliedern gewählt wurden. Wenn also die “repräsentative Umfrage” relevant und aussagekräftig für den Entscheidungsprozess innerhalb der CDU sein sollte, müsste die Umfrage unter den Parteitagsdelegierten stattgefunden haben. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Delegierter unter den Befragten war, ist gleich Null. Auch dafür braucht man keinen Taschenrechner und keine tieferen Kenntnisse der Wahrscheinlichkeitsrechnung.
Dass die befragten potenziellen CDU-Wähler mehrheitlich Kramp-Karrenbauer bevorzugen würden, dafür braucht es auch keine “Forschungsgruppe Wahlen” und keine repräsentative Umfrage. Es reicht der gesunde Menschenverstand. Bei der Bundestagswahl 2013 auf der Höhe von Merkels Popularität erhielt nur die CDU 34,13 Prozent oder fast 15 Millionen Wählerstimmen. Vier Jahre später und nach der “Grenzöffnung” waren es nur noch 26,76 oder 12,5 Millionen. Wenn die demoskopische Befragung stimmen würde, wäre das Wahlergebnis wohl nochmal 5 Prozent niedriger und läge bei rund 10 Millionen Wählern und etwa 20 oder 21 Prozent. Die verbliebenen CDU-Wähler sind wohl noch mehrheitlich auf Merkel-Kurs, und als deren Lordsiegelbewahrerin gilt AKK, die katholisch-südliche Variante der bisherigen Kanzlerin mit dem Charisma der Leiterin einer saarländischen Volkshochschule.
Widerlegen geht nicht. Dachte ich.
Demoskopie ist keine Wissenschaft. Ihre Ergebnisse sind unter Laborbedingungen nicht wie in der Physik reproduzierbar. Ihre Methoden nutzen die Hilfswissenschaft der Mathematik. Doch jeder noch so komplexe Algorithmus läuft am Ende auf die Formel Pi mal Daumen raus. Und letzterer liegt ausschließlich im Auge des Betrachters. Auch mit Karl Poppers Falsifikationskriterium kommt man nicht wirklich weiter. Denn das setzt voraus, dass die Meinungsumfragen falsch sein könnten. Da sie nicht wiederholbar sind, kann man an sie glauben oder auch nicht. Widerlegen geht nicht. Dachte ich.
Wenn die Umfrageergebnisse zu stark von den tatsächlichen Wahlergebnissen abweichen, ist von einer “zunehmenden Volatilität” die Rede. Stattdessen sollte man zugeben, dass besagter Daumen im Zweifel den Stock hält, mit dem man im Nebel stochert.
“Der letzte, der mich im letzten Sommer in den Umfragen geschlagen hat, kommentiert jetzt die Tour de France”, erklärte der gerade wiedergewählte Bundeskanzler Helmut Kohl bei der Bundespressekonferenz 1995. Gemeint war der Sieger der Umfragen vor der Bundestagswahl 1994, Schlafes Bruder Rudolf Scharping. Der „Schulz-Zug” war eben keine singuläre Erscheinung. Der bekennende Rennradfahrer Scharping machte ja bekanntlich noch Karriere als Galan der angeheirateten Gräfin Pilati, bevor er als Präsident des Bundes Deutscher Radfahrer seine Erfüllung fand.
Unsere Staatsform kann man kaum eine parlamentarische Demokratie nennen. Wir leben in einer repräsentativen Demoskopie. Der Wähler gibt alle vier, fünf Jahre seine Stimme ab und hat auf epochale Ereignisse wie die Energiewende, die Euro-Krise oder die Grenzöffnung für Flüchtlinge keinen Einfluss mehr. In der Zwischenzeit wird er entweder starr durch den "Koalitionsvertrag" genannten Vierjahresplan regiert oder eben nach der pollitischen Stimmung, die durch die Befragung von etwa 1.000 Menschen gemessen wird. Vorher werden dann von Spin Doctors Kampagnen gefahren, deren Fragen an der Grenze zum Suggestiv-Charakter stehen.
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk als Partei
Der Merz-Kramp-Karrenbauer-Konflikt offenbart ein weiteres Problem. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk, der zu Neutralität verpflichtet sein sollte, betreibt mit Hilfe offensichtlich bestenfalls irrelevanter Demoskopie-Ergebnisse Gesinnungs- oder Haltungsjournalismus. Er ist nicht mehr nur der Beobachter, sondern wird im Spiel zum Akteur. Und diese Umerziehungsmaßnahme müssen auch noch diejenigen bezahlen, die umerzogen werden sollen.
Mittlerweile machte Markus Feldenkirchen vom Spiegel ein Papier bekannt, das die Forschungsgruppe Wahlen im Auftrag der CDU Parteispitze im Frühjahr 2016 erstellte und das voll in die Kerbe Friedrich Merz` haut, der unlängst gesagt hatte, die CDU habe den Aufstieg der AfD mit einem Achselzucken zur Kenntnis genommen. Es war viel schlimmer. Der Chef der Forschungsgruppe Wahlen sah, so das von ihm nach Feldenkirchens Anfang 2016 präsentierte Papier, die „AfD als Chance für die Union”, so der Titel. Tatsächlich dürfte das Papier aus dem Frühjahr 2015 stammen, die Flüchtlingsfrage spielt noch keine Rolle und die jüngste berücksichtigte Umfrage ist das Politbarometer aus der 5. Kalenderwoche 2015.
Kurz gesagt, würde die Existenz der AfD die CDU/CSU vom Stigma befreien, als „rechte Partei” zu erscheinen. Die AfD würde ihre Wähler ohnehin kaum aus der CDU/CSU, sondern vor allen Dingen aus den Wählern der Linken und den Nichtwählern rekrutieren, wobei der Autor Matthias Jung, Vorstand der Forschungsgruppe, die Nichtwähler für weniger relevant hält. Er sieht das Wählerpotenzial der AfD im Westen aufgrund des letzten Hamburger Wahlergebnisses als begrenzt an und rät der CDU, ihren Kurs der “Mitte” fortzusetzen.
Das Papier liest sich im Nachhinein als Blaupause der Merkelschen Politik während ihrer Kanzlerschaft. Weil die katholischen CDU-Stammwähler schneller “wegsterben” als die anderer Parteien, rät der Autor der Studie, Matthias Jung, die Partei müsse diese Verluste in der “Mitte” kompensieren. Genauso erklärt sich Merkels Aufgabe aller konservativ-christlichen Prinzipien und ihr strategischer Versuch, die Sozialdemokratie links zu überholen.
Menschen mit gelben Westen treten auf die Straße
In der repräsentativen Demoskopie geht es nicht mehr um die richtige Politik, sondern um Stimmenmaximierung. Wer den meisten Wählern am besten nach dem Mund redet, hat die größte Chance, zu regieren. Der politische Wettbewerb verkommt zum reinen Oppurtunismus. Aber weil immer mehr Bürger dieser mediokren Strategie nichts mehr abgewinnen können, verlieren die Opportunisten immer mehr zugunsten derer, die sie Populisten nennen. Die sind wohl bereit, auch mit simplen Ideen in die Meinungsschlacht zu ziehen und gewinnen Land, weil sie Überzeugungen präsentieren, die an den Stammtischen und in den sozialen Medien durchaus ein Potenzial auf eine Mehrheit haben – jenseits der Meinungsmache der Demoskopen.
Jungs Papier ist die (schwache) intellektuelle Begründung für Merkels Grenzöffnung für die “Schutzsuchenden”. Helmut Kohl und Roland Koch hatten noch mit dem damals virulenten Asylmissbrauch und gegen die doppelte Staatsbürgerschaft erfolgreich Wahlkampf gemacht. Jung erklärt eine kritische Haltung gegenüber Ausländern für eine Randerscheinung von Linken- und AfD-Wählern. Merkel fühlte sich durch seine Hypothesen offensichtlich legitimiert, und die herbeigeschriebene “Willkommenskultur" schien ihr Recht zu geben.
In der anologen Welt funktionierte diese demoskopische Kaffeesatzleserei ganz veritabel. Die Menschen hielten sich an ihren Stammtischen und in privaten Zirkeln für eine Minderheit. In der digitalen Welt machen sie eine neue Entdeckung. Sie sind nicht allein. Obwohl sie nicht zu den schwäbischen, weiblichen Invasoren des Prenzlauer Bergs und zu den ständigen Kunden des Ökomarktes gehören. Matthias Jung und seine Forschungsgruppe Wahlen hat diese Menschen ignoriert.
Noch wähnt sich der politisch-demoskopische Komplex in der Mehrheit, auch dank der vom Bundesverfassungsgericht ausgesprochenen Ewigkeitsgarantie des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, während die Pleite der privaten Medien dank erodierender Nutzerzahlen und fehlender Geschäftsmodelle virulent ist. Irgendwann treten dann auch in Deutschland Menschen mit gelben Westen auf die Straße, die vom Parteien-Fernsehen dann wahrscheinlich als Gelbida stigmatisiert werden.