Wer war Gustav Nachtigal? Ein rassistischer Schlächter, in Reichskanzler Bismarcks afrikanischen Diensten? Ein Verbrecher? So wird es gerade in einer großen Ausstellung in einem der bedeutendsten Museen der Hauptstadt, dem Deutschen Historischen Museum, dargestellt. Und vor allem: So wird es derzeit in Teilen der Berliner Presse dargestellt, auch im Parlament des Berliner Bezirks Mitte, der das Andenken an Nachtigal aus dem öffentlichen Bild der Hauptstadt löschen will. Zu diesem Bezirk gehört seit 2001 auch der Wedding, und somit auch das „Afrikanische Viertel“. Jene Gegend, in denen Straßennamen an die Kolonien des einstigen Deutschen Reiches erinnern. Und eben auch an Deutsche, die damals dort eine Rolle spielten. Zum Beispiel Gustav Nachtigal.
In der Forschung über die Geschichte Afrikas des 19. Jahrhunderts gilt der gebürtige Stendaler – auch international – als einer der bedeutendsten Köpfe überhaupt. Er steht auf einer Stufe mit dem berühmten Afrikareisenden Heinrich Barth. Hat ähnliche Forschungsreisen unternommen – und hat sich noch weit mehr als Barth für die Ethnien Afrikas eingesetzt, ist zum Beispiel gegen die Sklaverei eingetreten.
Deutschland solle seine Erinnerungskultur um 180 Grad wenden. Mit dieser unsäglichen Forderung hat sich Björn Höcke, einer der beiden Vorsitzenden der AfD Thüringens, neulich zum X-ten Mal selbst desavouiert und zurecht harte Kritik eingesteckt, innerhalb wie außerhalb seiner Partei. Wer aber Figuren wie Höcke für ihre kalkulierten Provokationen Munition liefern will, der verfahre genau so wie die bezirklichen Provinzpolitiker im Wedding, die den Namen Nachtigal aus der Erinnerung tilgen wollen. Der bezeichne ihn, wie es sich kürzlich die „Tageszeitung“ leistete, mal eben, ohne Sinn und Verstand, ohne irgendwelche Belege, einfach, weil es sich so schön dahin sagt und so was ja immer stimmt, als „Kolonialherrn der übleren Sorte“.
Darf man die taz fragen, welche Kolonialherren sie als vergleichsweise weniger übel bezeichnen würde? Oder waren sowieso alle von der übleren Sorte, auch dann ist dieser Komparativ unsinnig? Munition für Höcke ist es auch, wenn das Deutsche Historische Museum (DHM) in Berlin Nachtigal gleich ganz als „Verbrecher“ bezeichnet, in einem Topf – natürlich – wie alle anderen Männer, die damals was mit den deutschen Kolonien zu tun hatten, und nach denen heute Straßen in Berlin benannt sind.
In Kamerun steht ein Obelisk zu Ehren Nachtigals
Der Nachtigal-Platz im Wedding muss umbenannt werden, das steht für die rot-grüne Mehrheit im Bezirksparlament genauso fest wie für den rotrotgrünen Senat. Es gibt viele Straßen oder Plätze, die nach Nachtigal benannt sind, nicht nur in Köln, Wiesbaden, Brandenburg, Mannheim oder Halle, wo auch eine Schule seinen Namen trägt. Sondern durchaus auch in Afrika selbst. Zum Beispiel in Namibia. Dort in der Hauptstadt Windhoek sowie auch in Lüderitz. In jener Hafenstadt, die insgesamt, bis zum heutigen Tag, den Namen eines Deutschen Kolonialherren trägt, der ganz sicher keine noblere Gestalt als Gustav Nachtigal war. Eine Stadt übrigens, die die alten Kolonialgebäude liebevoll herausputzt und unter Denkmalschutz gestellt hat. Auch in der größten Stadt Kameruns, der ehemaligen Hauptstadt Douala, steht in gepflegtem Grün nach wie vor ein mächtiger Obelisk zu Ehren Nachtigals. Und fährt man von Douala aus ans Meer, so kann man dort am Cape Nachtigal das Meer genießen.
Über Pläne zur Umbenennung der Nachtigal-Andenken in Afrika ist nichts bekannt. Im Falle der Stadt Lüderitz (ehemals: Lüderitzbucht) hat sich die Bevölkerung sehr deutlich für Beibehaltung des Namens ausgesprochen, obwohl auch in dieser Stadt die übergroße Mehrheit (87 Prozent) die SWAPO wählt, jene Partei, die aus der gleichnamigen,schwarzen Befreiungsorganisation gegen das südafrikanische Apartheid-Regime entstanden ist. Die Menschen in der Region bezeichnen sich selbst als „Buchter“, unübersetzt in Anlehnung an den deutschen topografischen Begriff. Aber in Berlin weiß man natürlich alles besser als in Afrika selbst – letztlich wie schon in alten Kolonialzeiten.
Der Spiegel befand neulich, der Berliner Umbenennungsplan „erscheint ein wenig albern“. Dem ist nicht zu widersprechen. Schon gar nicht, wenn man sich mit der Geschichte Nachtigals einmal beschäftigt, und seinen Namen nicht nur als Symbol für die Abrechnung mit der eigenen Geschichte nutzt.
Ein Gelehrter mit menschlicher Weltanschauung
Wer also war Gustav Nachtigal? Der promovierte Arzt ging 1862 nach Algerien, weil er sich dort Linderung seiner schweren Lungenkrankheit erhoffte, lernte dort die arabische Sprache und vertiefte sich in das Studium der afrikanischen Völker. Er fand Anstellung als Privatarzt des Beys von Tunis und wurde dessen Berater. Als der Afrikaforscher Gerhard Rohlfs von einer Reise aus dem zentralafrikanischen Reich Bornu mit einem Geschenk für den preußischen König Wilhelm zurückgekehrt war, suchte man von Berlin aus eine Vertrauensperson, die ein Gegengeschenk überbringen könnte. Nachtigal, den Rohlfs auf seiner Rückreise achten gelernt hatte, bekam den Auftrag, wegen seiner Kenntnis der Sprache und der Kultur der Afrikaner.
1869 brach Nachtigal auf, war sechs Jahre lang kreuz und quer unterwegs im heutigen Tschad, Sudan, der zentralafrikanischen Republik, Libyen, lebte in diversen Sultanaten, lernte dort eine Anzahl örtlicher und regionaler Sprachen, sammelte systematisch Daten über die Kultur der Afrikaner, wurde so zum Vorläufer der modernen Ethnografischen Forschung, untersuchte das Tibetsi-Gebirge und kam 1875 mit einem bis dahin nie erreichten geografischen und völkerkundlichen Fundus nach Berlin zurück. Im Gepäck umfangreiche Monografien, aus denen nun sein dreibändiges, 2000 Seiten umfassendes Reisewerk „Sahara und Sudan, Ergebnisse sechsjähriger Reisen in Afrika“ entstand.
Wikipedia schreibt: „Nachtigal war bei der Interpretation der Forschungsergebnisse bemüht, keine negativen Rückschlüsse auf die Afrikaner zu ziehen, wie dies bei anderen Afrikareisenden seiner Zeit – etwa Henry Morton Stanley – der Fall war. Nachtigal war bei seiner Expedition auch Augenzeuge von Sklavenjagden geworden, die er schonungslos beschrieb.“ In mehreren seiner Schriften kritisierte Nachtigal den von den muslimischen Völkern brutal und massenhaft betriebenen Menschenhandel mit Schwarzen. Obwohl er selbst während seiner Reise mehrfach von den Einheimischen hart bedrängt wurde, formulierte er daraus nach der Rückkehr keine Anklage gegen die besuchten Völker. In Berlin wurde er wenig später Vorsitzender der „Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin“, der weltweit zweitältesten Vereinigung dieser Disziplin.
1882 ging Nachtigal zurück nach Afrika, als von Bismarck ernannter Konsul des Deutschen Reiches in Tunis. 1884, als er schon kein Jahr mehr zu leben hatte, erhielt er dann den Auftrag, in Westafrika einige Gebiete „unter Deutschen Schutz“ zu stellen, wie die Sprachregelung für das aufkommende deutsche Kolonialreich damals lautete. Frankreich und Britannien hatten längst halb Afrika in ihr Kolonialreich eingemeindet, jeder namhafte Staat Europas hatte sich seinen „Platz an der Sonne“ gesichert. Das Kaiserreich unter Kanzler Bismarck hatte lange gezaudert, bis man sich auch um Kolonien bemühte.
Eher widerwillig im Dienste der Kolonialmacht
In der Situation schloss Nachtigal im Juli 1884 in Togo namens des Reiches mit dem König des Landes, Mlapa, ein „Übereinkommen“, in dem dieser „um den Schutz Seiner Majestät des Deutschen Kaisers bittet, damit er in den Stand gesetzt werde, die Unabhängigkeit seines an der Westküste von Afrika (…) sich erstreckenden Gebietes zu bewahren“. In § 1 des Abkommens hieß es, der Bitte des Königs läge der Wunsch zugrunde, „den legitimen Handel, welcher sich hauptsächlich in den Händen deutscher Kaufleute befindet, zu beschützen und den deutschen Kaufleuten volle Sicherheit des Lebens und Eigentumes zu gewähren“. An „Zöllen und Abgaben“ hatte man sich auf einen Schilling je Tonne Palmkerne und je Tonne Palmöl geeinigt, zahlbar „an die Häuptlinge des betreffenden Ortes“. Der Kaiser im fernen Berlin habe alle früheren Handelsverträge von König Mlapa zu respektieren, der sich im Gegenzug verpflichtete, mit anderen europäischen Mächten keine Verträge abzuschließen. Heute steht auf der Website „Eufrika“, erstellt von „ehrenamtlich arbeitenden Idealisten“, Nachtigal sei derjenige gewesen, „der 1884 Togo und Kamerun die damals sogenannten Schutzverträge aufzwang“ – eine Beschreibung ganz im Bild grausamer Kanonenbootpolitik, die keinen König kennt und keine Verträge, sondern nur mit Waffengewalt durchgesetzte und durchgehaltene Besetzung.
Im Wikipedia-Eintrag über Nachtigal steht über seien kolonialpolitische Tätigkeit: „Seine unveröffentlichten Briefe und Tagebücher zeigen, dass ihm diese Aufgabe widerstrebte. Lediglich die Hoffnung, durch eine europäische Intervention dem Sklavenhandel einen Riegel vorzuschieben, ließ ihn Bismarcks Auftrag annehmen.“ In Kamerun brachte er ähnliche Verträge zum Abschluss, am Ende auch in Deutsch-Südwestafrika (dem heutigen Namibia), wobei er hier teilweise betrügerisch erworbene Rechte der Firma Lüderitz beglaubigte. „Lügenfritz“ nannte man den Inhaber in Deutschland, weil er trickreich britische mit deutschen Meilen durcheinander warf. Wochen darauf bestieg Nachtigal ein Schiff mit Kurs Deutschland, stark geschwächt, machte noch einmal Halt in Kamerun, und starb wenig später, am 20. April 1885 auf hoher See, wurde in Kap Palmas im heutigen Liberia beigesetzt. Drei Jahre später wurden seine Gebeine nach Douala in Kamerun überführt, wo sein Grab noch heute gepflegt wird.
Gustav Nachtigal, ein „Verbrecher“, dessen Angedenken so schnell wie möglich aus dem Stadtbild Berlins zu verschwinden hat? In der Ausstellung „Deutscher Kolonialismus“ im Deutschen Historischen Museum (DHM) in Berlin (läuft noch bis Mai 2017) wird er in Zusammenhang mit diesem harten Begriff gestellt, im Kontext der auch dort thematisierten geplanten Straßenumbenennung. Auch insgesamt entspricht die Ausstellung in ihrem Tonfall der Überschrift über einem Tagesspiegel-Artikel zur Eröffnung: „Kontinente in Ketten“. Von etwas anderem ist in dem Museum fast nichts zu sehen. Ein Alleinstellungsmerkmal des deutschen Kolonialgedenkens, kein Vergleich zu ähnlichen Ausstellungen etwa in London oder Amsterdam.
Eine Diskussion darüber, inwieweit der deutsche Kolonialismus insgesamt ein Verbrechen war und inwieweit eben nicht, würde einen Blog-Beitrag über Gustav Nachtigal sprengen. Ein Kurzfilm, der, reichlich versteckt, in der DHM-Ausstellung zu sehen ist, bringt immerhin einen etwas anderen Tonfall in diesen Diskurs.
Der "Peters-Tausch" ist nur Eingeweihten bekannt
Gleich neben den Stelen und Schrifttafeln, die auch im DHM auf die geplante Straßenumbenennung hinweisen und sie regelrecht einfordern, liegt etwas abseits der Raum, in dem dieser elf Minuten lange Film in Dauerschleife gezeigt wird: „Togoland November“ von Jürgen Ellinghaus. Im O-Ton mit Untertiteln erzählen darin Togolesen, die in ihrer Heimat interviewt wurden, über ihren ganz persönlichen Bezug zur Kolonialzeit. Einer der Protagonisten sagt dabei den Text eines Liedes auf, das die Frauen in Togo, wie er sagt, heute noch singen. „Der deutsche Pfennig hat uns zur Vernunft gebracht“, wird dort auch 2017 offenbar noch intoniert, „wer arbeitet, kriegt Geld, wer nicht, der nicht“. Eine zeitlose Mahnung der Frauen aus Togo an ihre Männer? Noch bemerkenswerter der nächste Spot, gedreht zwischen den Ruinen einer alten deutschen Funkstation, in dem ein etwa 40 Jahre alter Togolese über die deutsche Kolonialzeit nachdenkt und sagt: „Wenn die Deutschen länger geblieben wären, wäre es besser gewesen. Wir haben viel von ihnen gelernt“. Er habe sich mit der Geschichte beschäftigt, sagt der junge Mann. „Wir hoffen, dass sie wiederkommen, aber das wird wohl nicht geschehen.“ Man hätte in Togo noch viel von ihnen lernen können.
Zwei bemerkenswerte Stimmen aus dem Land selbst. Ein erstaunlicher Film, gezeigt ohne Kommentare. Draußen, im Licht, in der Ausstellung, ist Nachtigal wieder der Verbrecher. Einer der „übleren Sorte“, wie die taz schreibt.
Natürlich gab es Kolonialverbrecher „der übleren Sorte“. Carl Peters etwa, „Hänge-Peters“, wie man ihn damals zurecht in Deutschland titulierte, ein selbsternannter Herrscher in Deutsch-Ostafrika, der nicht nur rassistisch war, sondern auch für einige Hinrichtungen verantwortlich zeichnete, die nichts als persönliche Abrechnungen waren. Auch ein Nebenbuhler, der einer der Geliebten Peters’ einmal zu nahe gekommen war, fiel ihnen zum Opfer. Als es der Regierung in Berlin und der deutschen Kolonialverwaltung zu bunt wurde, setzte man Peters ab, orderte ihn nach Hause, entließ ihn unehrenhaft, bei Verlust seiner Pensionsansprüche.
Auch nach Peters wurde im Afrikanischen Viertel im Wedding eine Straße benannt, die Petersallee, allerdings erst zur Zeit des Nationalsozialismus. Sie heißt bis heute so, und bei ihr gibt es interessanterweise keine Ambitionen, sie umzubenennen. Dabei ahnen die wenigsten, die von Carl Peters gehört haben und durch das Afrikanische Viertel schlendern, dass die Straße seit den 80er-Jahren nicht mehr nach ihm heißt, dass sie damals ohne viel Aufhebens umgewidmet wurde. Seitdem heißt sie offiziell nach einem anderen Peters, einem Widerstandskämpfer gegen Hitler und späteren Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses. Weder mit Afrika hatte er etwas zu tun noch mit dem afrikanischen Viertel. Nur den Anwohnern und Berlin-Historikern ist dieser „Peters-Tausch“ bekannt.
Weil die Petersallee nicht mehr nach Carl Peters benannt ist, sondern nach einem Antifaschisten, ist eine Umbenennung heute entsprechend schwer. Da nimmt man lieber die leichtere Variante, und jagt Gustav Nachtigal, den Afrikaforscher zum Teufel, den von der „übleren Sorte“, den „Verbrecher“. Stimmt ja meistens, in der deutschen Erinnerungskultur allemal, und schon haben wir wieder ein besseres Gefühl. Wie sagte noch Spiegel Online? Albern. Richtig, und ahistorisch obendrein. Ein Akt, der eine bestimmte Klientel zufriedenstellen soll, aber nicht gerechtfertigt ist.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf Ulli Kulkes Blog Donner und Doria