Von Dr. Rudolf Kutschera.
Anders, als es der suggestive Ausdruck „abrahamitische Religionen“ nahelegt, hat der koranische Ibrahim – Berichte über ihn sind auf mehrere Suren verteilt – außer dem Namen kaum etwas mit dem biblisch bezeugten Stammvater Israels zu tun. Diese Differenz zeigt sich zuallererst darin, was der Koran gegenüber dem biblischen Bericht weglässt. Im Koran begegnet nämlich „Abraham nirgends als Stammvater der Israeliten“ (12) im Sinne einer Verheißung und deren Weitergabe. Genau darin besteht aber die durchgängig biblische Sicht bis in das Neue Testament hinein.
Der Surenvers 2,124 geht noch einen Schritt weiter. In einem Gespräch mit Ibrahim enterbt Allah das angeblich ungerechte Israel: „Damals als sein Herr [= Allah] Ibrahim auf die Probe stellte durch Worte, die er [= Allah] dann erfüllte. Da sprach er: ‚Siehe, ich mach dich zu einem Führer für die Menschen.‘ Er [= Ibrahim] sprach: ‚Und auch aus meiner Nachkommenschaft?‘ Er [= Allah] sprach: ‚Mein Bund erstreckt sich nicht auf die Ungerechten [= damit ist Israel gemeint].‘“
Die biblische Verheißung an die Israeliten, also die Nachkommen Abrahams, lautet hingegen: „Durch dich sollen alle Sippen der Erde Segen erlangen“ (Gen 12,3). Man muss die Tragweite dieses Vorgangs verstehen: Unter Berufung auf Abraham schließt der Koran Israel aus der Heilskontinuität aus. Das erinnert an antijudaistische Einstellungen, wie sie sich auch im Laufe der Kirchengeschichte gezeigt haben. In welcher Weise diese dem Koran historisch vorausliegenden christlich-antijudaistischen Einstellungen auf den Korantext Einfluss genommen haben, ist im Detail oft nicht mehr genau auszumachen. Faktum ist aber, dass ausgeprägte Formen des Antijudaismus in den Koran eingeflossen sind – hier unter dem Vorzeichen eines entstellten Abraham.
Abraham wird zum Vorläufer Muhammads
Die Selbstdeutung der entstehenden muslimischen Gemeinschaft unter den Vorzeichen des Abraham bei gleichzeitiger Entwertung jüdischer Traditionen spiegelt sich auch im Antagonismus zwischen Isaak und Ismael wider. Die biblische Erzählung von der „Bindung Isaaks“ (Gen 22, 1-19) offenbart das bedingungslose Gottvertrauen Abrahams. Dadurch kann Gott seine Segensverheißung zum Ziel führen, und genau daran lernt Isaak den Glauben. Der Koran hingegen macht aus dieser Erzählung eine bloße Vater-Sohn-Kulthandlung und ersetzt den biblischen Verheißungsträger Isaak mit Ismael (vgl. Surenverse 37,99-109). Die entsprechende koranische Darstellung bildet die Grundlage einer bis heute fortbestehenden Opferpraxis. (13)
Ohne jeden biblischen Anhalt hingegen gibt es im Koran auch die Schilderung von einer Erbauung des Heiligtums in Mekka durch Ismael, gemeinsam mit seinem Vater Abraham. Die Funktion dieser Schilderung besteht darin, Mekka – in Absetzung von Jerusalem – mit biblischer Autorität auszustatten, wie in den Surenversen 3,96–97 festgehalten ist: „Wahrlich, das erste Haus, das für die Menschheit gegründet wurde, ist das zu Bakka [= Mekka] – überreich an Segen und zur Richtschnur für alle Völker. In ihm sind deutliche Zeichen. Die Stätte Abrahams – und wer sie betritt, hat Frieden.“ (14)
Damit wird Abraham der – historisch selbstverständlich vorausliegenden – jüdischen und christlichen Tradition gewissermaßen entrissen. Er wird zum Vorläufer Muhammads, wie sich in den Surenversen 3,65–68 zeigt. Dort präsentiert Muhammad seinen eigenen Anspruch als eine Überwindung des jüdisch-christlichen Spalts: „O Volk der Schrift, warum streitet ihr über Abraham, wo die Thora und das Evangelium erst nach ihm herabgesandt wurden? Wollt ihr denn nicht begreifen? Seht doch! Ihr seid es ja, die über das stritten, wovon ihr Kenntnis hattet. Warum streitet ihr denn über das, wovon ihr durchaus keine Kenntnis habt? Allah weiß, ihr aber wisset nicht. Abraham war weder Jude noch Christ; doch er war immer (Gott) zugeneigt (ḥanīf) und (Ihm) gehorsam, und er war nicht der Götzendiener einer. Sicherlich sind die Abraham Nächststehenden unter den Menschen jene, die ihm folgten, und dieser Prophet und die Gläubigen. Und Allah ist der Freund der Gläubigen.“
Verschmelzen von Abraham und Muhammad
Die hier verwendete arabische Bezeichnung für Abraham, ḥanīf, charakterisiert ihn als einen „vorkonfessionellen Monotheisten“ (15), also einen exemplarisch Frommen vorgängig und jenseits von Judentum oder Christentum. In manchen Koranübersetzungen wird dieses arabische Wort denn auch schlicht mit „Muslim“ (16) wiedergegeben. Abraham-Ibrahim wird damit sowohl zum Prototypen der Muslime, al-muslimūn (vgl. Surenverse 2,135f.) als auch zum Spiegelbild des Muhammad. Eine Zusammenschau von Judentum, Christentum und Islam unter dem Stichwort „abrahamitische Religionen“ ist damit vom Koran selbst her ausgeschlossen.
Das Verschmelzen von Abraham und Muhammad – unter Ausschluss Israels – reicht bis ins Innere der muslimischen Frömmigkeit hinein. Im täglichen Gebet der Muslime ist eine Formel enthalten, die Abraham und Muhammad zusammenschließt:
„Gott, segne Muhammad und das Haus Muhammad,
wie du Abraham und das Haus Abraham gesegnet hast.
Und gib Heil Muhammad und dem Haus Muhammad,
wie du Abraham und dem Haus Abraham Heil gegeben hast.“ (17)
Mose – vom Gesetzgeber zum Ankläger der Juden
Bei der koranischen Mose/Musa-Geschichte fällt besonders auf, wie hier verschiedene biblische Erzählungen ineinandergeschoben wurden. Im Surenvers 28,38 heißt es zunächst vom Pharao – wie im biblischen Bericht –, dass er Mose und sein Volk nicht aus Ägypten ziehen lassen will. Sodann befiehlt der Pharao seinem Minister, so weiter im gleichen Surenvers: „Brenne mir, Haman, Ziegelsteine, und mache mir ein hochgebautes Schloss, dass ich vielleicht aufsteigen kann zum Gott von Mose! Doch siehe, ich halte ihn wahrhaftig für einen Lügner!“ Haman, der antijüdische Regierungsbeamte des Perserkönigs Xerxes aus der biblischen Esther-Geschichte wird also mit dem Pharao sowie dem Turmbau zu Babel (aus dem Buch Genesis) wie in einem Konglomerat zu einer einzigen Geschichte verschmolzen.
Die koranisierte Mose-Figur, auf Arabisch Musa, spiegelt noch deutlicher als Abraham-Ibrahim die verschiedenen Phasen Muhammads wieder. Der Koran illustriert anhand der Mose-Figur, wie jemand zu einem großen Propheten wird. Die entsprechenden Entwicklungslinien lassen sich in folgenden Stichworten zusammenfassen: „Die spirituelle Begegnung mit dem transzendenten Gott, das Gefühl unzureichender Kraft angesichts des Auftrags, das Gespalten Sein zwischen der Verpflichtung gegenüber der familiären Herkunft und der Notwendigkeit des Bruches mit ihr, die Erfahrung von Angst und ihrer Überwindung und der Kraft zum geduldigen Ausharren in der Situation der Demütigung.“ (18)
Wie bereits bei Abraham-Ibrahim, so sprechen bei Mose-Musa gerade auch die Auslassungen gegenüber dem biblischen Original eine deutliche Sprache. In Sure 20, die dem Leben des Mose gewidmet ist, fehlt gegenüber dem biblischen Original die Schilderung der Übergabe der Tora, der „Tafel-Übergabe“. An sie wird nur an marginaler Stelle summarisch erinnert (19). Dieses Ereignis ist allerdings das Gründungsereignis des Judentums, ihre Marginalisierung kommt also einer Auslassung der jüdischen Erwählungsgeschichte gleich. Diese mutiert zu einer Mahnrede an die „Söhne Israels“, die in dem Hinweis gipfelt: „Denn der, über den mein Zorn kommt, ist verloren“ (Surenvers 20,81c).
„Wir hören und widersetzen uns!“
So werden die „Söhne Israels“ also ausgerechnet vom koranisierten Mose verstoßen und verdammt. Abgesehen von theologischen Gründen wird historisch mitgespielt haben, dass die Juden nicht für den von Muhammad in Medina ersehnten Krieg gegen seine Heimatstadt Mekka zu gewinnen waren.
Das zentrale Ereignis des koranischen Musa ist sein Versuch, den Pharao zum Einlenken zu bewegen. In Anlehnung an die biblische Erzählung scheitert das, und der ungläubige Pharao wird sowohl in der diesseitigen Welt als auch im Jenseits bestraft, obwohl er sich kurz vor seinem Ertrinken sogar „bekehrt“. Der ergebene Koranleser versteht: Der Pharao ist ein warnendes Beispiel für alle, die sich der Botschaft des Muhammad widersetzen. Diese Erzählung gehört damit zur literarischen Textsorte „Straflegende“, die sich häufig im Koran findet.
Im biblischen Original signalisieren die Israeliten eindeutig ihre Bereitschaft, die Tora Gottes anzunehmen, die Mose ihnen überbringt. Dies ist in zwei Versionen einer Antwort überliefert, nämlich „Wir werden tun und hören“ (Ex 24,7) und „wir hören es und werden es tun“ (Dtn 5,24). Im Koran hingegen wird die Antwort der Israeliten auf die Toragabe in das genaue Gegenteil verkehrt. Der Surenvers 2,93 gibt diesem biblischen Vorbild nämlich eine bösartige Wendung, denn die Israeliten sagen dort auf das Angebot Gottes:
„Wir hören und widersetzen uns!“ Diese den Juden in den Mund gelegte Ablehnung der Tora wird im Surenvers 4,46 zu einem – später gerade „klassisch“ gewordenen – Vorwurf erweitert: „Einige von denen, welche Juden sind, die rücken Wörter weg von ihrem Platz (…), indem sie ihre Zungen verdrehen und den Glauben schmähen. Doch hätten sie gesagt: ‚Wir hören und gehorchen!‘ (…), so wäre das für sie wahrlich gut und angemessen. Doch Gott verfluchte sie ihres Unglaubens wegen!“ Diese koranische Darstellung der angeblichen Antwort der Israeliten auf die Tora ist also ein krasses Missverständnis, das etwas als biblisch ausgibt, was dem biblischen Wortlaut selbst widerspricht. So wird das Zentralereignis Israels, der mosaische Bundesschluss mit der Toragabe, zu einem zentralen Anklagepunkt gegen die Juden.
Diese Vereinnahmung biblischer Figuren im Koran steht in einem historischen Kontext, der Entwicklung des Verhältnisses von Muhammad zu den Juden. Deren Phasen spiegeln sich im Koran deutlich wider.
Dies ist der zweite Teil einer vierteiligen Serie.
Teil 1 finden Sie hier.
Teil 3 finden Sie hier.
Lesen Sie morgen: Wie Mohammad sich mittels einer Vision zum Erben Israels erklärte.
Dr. Rudolf Kutschera (*1960), Promotion im Fach Dogmatik an der Universität Innsbruck, Tutor des Fernstudiums am Lehrstuhl für die Theologie des Volkes Gottes an der Päpstlichen Lateran-Universität in Rom, Dozent an der Loyola University Chicago – Rome Center, Oberer der Gemeinschaft der Priester im Dienst an Katholischen Integrierten Gemeinden.
Quellen
(12) Angelika Neuwirth, Der Koran als Text der Spätantike (Berlin: Verlag der Weltreligionen, 2017), 637.
(13) Ein zentraler Teil der Pilgerfahrt nach Mekka ist als Nachahmung dieser Abrahamsdarstellung festgelegt: „Die Pilger vollziehen, dem Beispiel Abrahams folgend, dessen (intendierte) Opferhandlung nach. Das Abrahamsopfer, das ja das islamische Festopfer, aḍḥā, die für jeden Mekkapilger obligate Schlachtung eines Opfertieres, gewissermaßen präfiguriert, ist ein allgegenwärtiger Gegenstand volkstümlicher bildlicher Darstellungen geworden.“ (Angelika Neuwirth, Koranforschung – eine politische Philologie? [Berlin: Walter de Gruyter 2014], 103). Abraham wird damit zum Stifter mekkanischer Riten (vgl. Surenverse 22,26f.).
(14) Es gibt Indizien dafür, dass Mekka bereits vorislamisch mit Abraham-Erzählungen verbunden war. Durch den Koran wurden diese legendenhaften Traditionen gewissermaßen zum Glaubensinhalt.
(15) Neuwirth, Koranforschung, 106.
(16) Z.B. in der Reclam-Übersetzung des Surenverses 3,67 durch Max Henning: „…vielmehr war er lauteren Glaubens, ein Muslim…“
(17) Zitiert aus: Neuwirth, Spätantike, 652.
(18) Neuwirth, Spätantike, 653.
(19) So etwa im Surenvers 7,145: „Und wir [= Allah] schrieben ihm [= Mose] auf den Gesetzestafeln allerlei auf, dass es zur Ermahnung diene...“ oder im Surenvers 20,80: „Ihr Kinder Israels! Wir haben euch (seinerzeit) von eurem Feind errettet und uns mit euch auf der rechten Seite des Berges verabredet...“