Ansgar Neuhof / 08.11.2016 / 19:32 / Foto: Tom,aschoff / 1 / Seite ausdrucken

Wider den demographischen Alarmismus

Von Ansgar Neuhof.

Die Deutschen vergreisen, demographische Katastrophe, Kollaps des Rentensystems, unbezahlbare Beamtenpensionen, Altersarmut: so oder so ähnlich lauten derzeit mal wieder die alarmistischen Schlagzeilen. Über das ganze Parteienspektrum hinweg und in allen Medien gleich welcher politischen Richtung werden Katastrophenszenarien beschrieben, unausgegorene vermeintliche Lösungsvorschläge dargeboten, und die Bundesregierung verfällt in Aktionismus und will noch vor den Bundestagswahlen eine Rentenreform auf den Weg bringen.  Bei so viel Katastrophenstimmung sollte man vielleicht auch einmal nüchtern auf die Zahlen sehen. Und man wird erkennen: Das Wehklagen ist unberechtigt.

Laut Deutscher Rentenversicherung  (siehe S. 9) betrugen im Jahre 2015 die Rentenausgaben 272 Milliarden Euro (ohne 6 Milliarden für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben). Die Versorgungsausgaben für die öffentlich Bediensteten (insbesondere Beamte) betrugen in 2014 (die Zahl für 2015 ist noch nicht veröffentlicht) laut Statistischem Bundesamt  (siehe S. 63) 46 Milliarden Euro. Zusammengerechnet und nach oben gerundet also 320 Milliarden Euro.

Der Anteil des im Rentenalter befindlichen Personenkreises (ab 65 Jahre) beträgt derzeit (Stand 2015) 17,3 Millionen bei gleichzeitig 49,4 Millionen Personen im erwerbsfähigen Alter zwischen 20 und 64, wie sich anhand der interaktiven Bevölkerungspyramide des Statistischen Bundesamtes ermitteln läßt. Dieses Verhältnis wird sich in der Tat dramatisch verschlechtern. Im Jahre 2060 stehen demnach nur noch 36,1 Millionen Personen im erwerbsfähigen Alter 20,5 Millionen Personen im Rentenalter gegenüber. Bei den Zahlen für 2060 ist ein Renteneintrittsalter von 67 (statt 65) Jahren berücksichtigt. 2060 gibt es also ungefähr 18,5 Prozent mehr Renten-/Pensionsbezieher als heute. Unterstellt man einmal ein gleich hohes Renten- und Pensionsniveau in 2060 wie in 2015, so erhöhen sich entsprechend die Ausgaben um ca. 18,5  Prozent, also von 320 Milliarden um etwa 60 Milliarden auf etwa 380 Milliarden Euro. Die Angaben verstehen sich stets um die Preissteigerung bereinigt.

Heute müssen also 49,4 Millionen im erwerbsfähigen Alter etwa 320 Milliarden Euro für die Altersversorgung finanzieren. Macht pro Person ca. 6.500 Euro im Jahr.  In 2060 müssen 36,1 Millionen Personen im erwerbsfähigen Alter etwa 380 Milliarden Euro finanzieren. Macht pro Person 10.500 Euro im Jahr. Geht man davon aus, daß die 36,1 Millionen Erwerbsfähigen in 2060 in der Lage sind, den Betrag von 6.500 Euro zu erwirtschaften, den heute jeder Erwerbsfähige für die Altersversorgung aufbringen muß, bleibt eine Deckungslücke von etwa 4.000 Euro.

Das steigende Steueraufkommen sollte genügen, die Renten zu sichern

Das klingt viel und ist auch viel. Aber man muß es in Relation setzen zu den Steuer-Mehreinnahmen des Jahres 2060 gegenüber 2015. Laut einer Studie des Fraunhofer-Instituts und der Prognos AG im Auftrag des Bundesfinanzministeriums erhöhen sich die Einkommen- und Umsatzsteuereinnahmen von 2015 bis 2060 um 151 Milliarden Euro (Einkommensteuer von 290 Milliarden auf 390 Milliarden, siehe S. 7, und Umsatzsteuer von 121 Milliarden auf auf 172 Milliarden Euro, siehe S. 15 der Studie). Die hier zugrundegelegte Prognose ist bereits das ungünstigste Szenario von drei Grundszenarien, die in der Studie berechnet werden. Im günstigsten Szenario ergeben sich Steuer-Mehreinnahmen von 222 Milliarden Euro.

Und selbstverständlich wird in der Studie der demographische Wandel und die damit einhergehende Änderung der Altersstruktur berücksichtigt. In einer Vergleichsberechnung ohne demographische Veränderungen kommt die Studie sogar auf Steuer-Mehreinnahmen von 312 Milliarden Euro. Zentrales Ergebnis der Studie ist mithin, daß die demographischen Veränderungen zwar einen dämpfenden Effekt auf den Anstieg des Einkommen- und Umsatzsteueraufkommens haben, daß aber dennoch von einem Anstieg des Steueraufkommens auszugehen ist. Daß derartige Steuer-Mehreinnahmen nicht unrealistisch sind, zeigt die Vergangenheit. Allein von 2005 bis 2015, also in nur 10 Jahren, stiegen die Steuereinnahmen preisbereinigt um 150 Milliarden Euro. Von 2015 bis 2060 sind es immerhin 45 Jahre. Da sollte es machbar sein, trotz demographischer Veränderungen entsprechende Steuer-Mehreinnahmen zu generieren.

Nehmen wir also das ungünstigste Szenario der Fraunhofer/Prognos-Studie mit Steuer-Mehreinnahmen in 2060 von „nur“ 151 Milliarden Euro. 151 Milliarden Euro auf die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter von 36,1 Millionen gerechnet, ergibt etwa 4.180 Euro pro Person. Das entspricht der oben aufgezeigten Deckungslücke bei Renten und Pensionen von 4.000 Euro.

Das bedeutet, daß die Renten- und Pensionsprobleme der Zukunft lösbar ist. Man wird die unterschiedlichen Geldtöpfe, also Rentenbeiträge und Steuereinnahmen, entsprechend justieren müssen, insbesondere also aus dem Steuertopf die Lücken in der Rentenkasse schließen müssen. Aber finanziell ist das machbar.

Dabei ist noch nicht berücksichtigt, daß man durch vergleichsweise geringe Änderungen zum Beispiel beim Renteneintrittsalter oder beim Rentenbeitrag gewaltige Effekte erreichen kann. Ein Renteneintrittsalter von 68 statt 67 Jahre in 2060 bedeutet 900.000 Rentner weniger und 900.000 Erwerbsfähige mehr. Bei höherer Lebenserwartung ist ein späterer Renteneintritt durchaus gerechtfertigt, zumal die oft harte körperliche Arbeit früherer Jahrzehnte weiter abnehmen wird. Und ein Prozent Beitragserhöhung bringt derzeit ca. 13 Milliarden Mehreinnahmen. Insofern gibt es noch einige Stellschrauben, mittels derer man die demographischen Probleme der Renten-/Pensionssysteme beherrschen kann.

Die Zuwanderung muss geregelt werden und die Wirtschaftskraft erhalten bleiben

Voraussetzung ist jedoch viererlei - und das sind die wirklichen Zukunftsprobleme:  Zum ersten muß sich die Politik bei den Staatsausgaben disziplinieren und sie auf dem heutigen Niveau belassen (natürlich preisbereinigt), damit die Steuer-Mehreinnahmen für die Altersversorgung verwendet werden können. Die Vergangenheit läßt da wenig Hoffnung aufkommen.  Zum zweiten muß Schluß sein mit Rentengeschenken wie Rente mit 63 oder Mütterrente.

Zum dritten muß dafür Sorge getragen werden, daß Zuwanderung nur noch von Personen stattfindet, die eine ähnliche oder höhere Qualifikation als die hier ansässige Bevölkerung hat. Eines wird jedenfalls gewiß nicht funktionieren: man wird nicht Millionen nicht- oder minderqualifizierter Zuwanderer nebst Familiennachzug aufnehmen und alimentieren können und gleichzeitig auch die Alten, die zum Teil zugleich Kranke und Pflegebedürftige sein werden, versorgen können. Oder wie Peter Scholl-Latour gesagt haben soll: „Wer halb Kalkutta aufnimmt, hilft nicht etwa Kalkutta, sondern wird selbst zu Kalkutta!“ (Heute mag man Kalkutta durch Syrien, Afghanistan oder Afrika ersetzen.)

Und zum vierten muß die Wirtschaftskraft Deutschlands erhalten bleiben. Das setzt neben einer qualifizierten Bevölkerung (siehe Punkt 3) voraus, daß nicht noch mehr Hoch-Technologien vertrieben werden oder gar nicht erst entstehen. Doch der Wirtschaftsstandort Deutschland ist bedroht: unnötig hohe Energie-/Stromkosten sowie Gefährdung der Stromversorgung und der Automobil- und Zulieferindustrie durch Energiewende und Klimaschutzhysterie, Atom- und Gentechnikfeindlichkeit, kaum grundlegende technische Innovationen und Unternehmen von Weltrang in Zukunftsfeldern wie Internet, Digitalisierung und künstlicher Intelligenz – um nur ein paar Stichworte zu nennen. Hier müssen dringend die Rahmenbedingungen zugunsten des Wirtschaftsstandorts Deutschland verändert werden.

Insofern gilt: Das Demographie-Problem ist lösbar, wenn man es vernünftig anstellt. Doch angst und bange kann einem werden, was die geschilderten wirklichen Zukunftsprobleme Deutschlands angeht – vor allem bei den Themen Zuwanderung und Wirtschaftsstandort. Denn die verantwortlichen Politiker doktern mit ihren sogenannten Reformen an den Symptomen herum und bekämpfen nicht nur nicht die Grundprobleme, sondern verursachen sie wesentlich mit.

Nachträgliche Ergänzung:

Man kann die Berechnung auch für andere Jahre vornehmen und kommt zu ähnlichen Ergebnissen.

Beispiel: 2035, wenn bereits die meisten „Baby-Boomer“ in Rente sind. 43,4 Millionen Personen im erwerbsfähigen Alter stehen dann 21 Millionen im Rentenalter ab 67 gegenüber. Es müssen ca. 390 Milliarden Euro für die Altersversorgung finanziert werden, also ca. 9.000 Euro pro Erwerbsfähigen. Deckungslücke also ca. 2.500 Euro pro Erwerbsfähigen. Das entspricht ca. 108 Milliarden Euro. Der größte Teil davon läßt sich über die Steuer-Mehreinnahmen finanzieren, die 2035 laut Fraunhofer-/Prognos-Studie im ungünstigsten Szenario ca. 90 Milliarden Euro betragen. Der Restbetrag von 18 Milliarden Euro kann wahlweise zum Beispiel durch teilweisen Subventionsabbau (2015 laut Subventionsbericht der Bundesregierung ca. 50 Milliarden Euro Subventionen) oder 1,5 – 2 Beitragspunkte mehr bei der Rentenversicherung (das ist ohnehin in der Planung) oder ein um ein paar Monate höheres Renteneintrittsalter aufgefangen werden oder durch etwas von allem.

Ansgar Neuhof, Jahrgang 1969, ist Rechtsanwalt und Steuerberater mit eigener Kanzlei in Berlin.

Foto: Tomaschoff

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Gisela Müller / 09.11.2016

“...man wird nicht Millionen nicht- oder minderqualifizierter Zuwanderer nebst Familiennachzug aufnehmen und alimentieren können und gleichzeitig auch die Alten, die zum Teil zugleich Kranke und Pflegebedürftige sein werden, versorgen können. ...” Aber genau das wurde doch schon “geschafft”. Wie sollen “wir” denn aus dieser Nummer wieder rauskommen? Es denkt doch ernsthaft kaum jemand, dass diese Menschen wieder gehen werden, oder? Und wenn die nicht wieder gehen, kommen auch die Familien hinterher. Für mich steht fest: das Ding hat keinen “Notausgang”. Also: was wird passieren? Und anscheinend ist ja auch nicht Schluss mit “Asyl kennt keine Obergrenzen”. Ich sehe das sehr schwarz.

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