Kaum hat sich Außenminister Steinmeier vor der menschenleeren Kulisse des Schwielow-Sees als Kanzlerkandidat der SPD vorgestellt, schon hat man im Googlestil die ähnlichen historischen Augenblicke journalisiert. Da Google in der Regel Prominenz ins Haus bringt, kam man schnell auf Willy Brandt. Auch er war Außenminister einer Großen Koalition. Das trifft zwar zu, nur war es nicht der Grund, ihn zum Kanzlerkandidaten zu machen.
An dieser Stelle empfiehlt sich für den rastlosen Journalisten der Blick ins große Ergänzungsregister von Google, ins Grundbuch, in Wikipedia. Ein solcher Blick würde schon genügen, um den Vergleich zwischen Steinmeier, dem Büroleiter Schröders in Hannover, und dem wahren letzten Kosmopoliten der SPD-Elite zu vergessen. Wenn wir schon bei Vergleichen sind: Der „Büroleiter“ von Willy Brandt in Westberlin hieß Egon Bahr.
Auch wenn man Steinmeiers Wahl für eine gute halten mag, lässt sich trotzdem nicht ihr Hintergrund weglassen. Steinmeier gehört bestimmt zum Besten, was die SPD heute zu bieten hat, und so spricht das, was für Steinmeier spricht, auch gegen die SPD, zumindest sagt es etwas über sie aus, über ihre Krise. Es ist zwar auch eine deutsche Krise, aber vor allem ist es eine Krise dieser Partei. Sie hat seit dem Ende des Kommunismus und der deutschen Vereinigung ihre Autorität weitgehend eingebüßt. Und das, vor allem durch das Verhalten ihrer Führungsfiguren.
Die deutsche Nachkriegspolitik wurde bekanntlich von starken Persönlichkeiten geprägt. Von Adenauer und Schumacher, von Wehner. Der letzte Mann dieser Sorte war Brandt. Die Krise der SPD aber begann, und das wird kaum vermerkt, mit Oskar Lafontaine und seiner Deutschlandpolitik. Seine SPD hatte keine Antworten auf die deutsche Frage, weil sie sich das nationale Thema verboten hatte. Dieses Verbot aber gründete nicht auf sozialdemokratischen Traditionen sondern auf moralischen Hysterien intellektueller Präzeptoren. Kurzum: Das fehlende Programm wurde durch ein inzwischen tot zitiertes Verlegenheitsbonmot des Altkanzlers Brandt kompensiert: „Es wächst zusammen, was…“.
Der Unterschied zwischen Helmuth Kohl und Oskar Lafontaine ist sicher nicht auf den Kosmopolitismus des Saarländers zurückzuführen. Dieses permanent am Bankrott entlang politisierende Ländchen, das sich etwas auf seinen Sonderstatus in der neueren deutschen Geschichte einbildet, ist, unter dem eben angesprochenen Aspekt, interessant, weil seine Existenz und, mehr noch, sein Selbstverständnis, ein Schlaglicht auf einen provinziellen Kosmopolitismus werfen, auf dessen deutsche Ausprägung. Nur diesem kann es einfallen, eine Bedeutung aus Frankreichs Interesse am saarländischen Status abzuleiten, quasi eine intellektuelle Betrachtung der Kohle anzunehmen.
Lafontaines Kosmopolitismus von 1990 bestand in seinem Provinzialismus in der deutschen Frage. Das war damals, unter Intellektuellen, die die Deutschen immer noch vor sich selbst schützen wollten, zwar nicht ganz unpopulär, aber in der Gesellschaft nicht mehrheitsfähig und europapolitisch letzten Endes ein Desaster. Wer gegen die deutsche Einheit war, der war auch gegen die EU. Das aber ist durchaus interessant. Auch für die Gegenwart.
Noch einmal: Das Dilemma der SPD entstand dadurch, dass sie keine Antworten in der nationalen Frage bereithielt, dass sie sich dieser sogar verweigerte. Sie hat damit Freiheit und Gerechtigkeit zu trennen versucht. Das aber hat sie generell in den Verhandlungsverdacht gebracht. Mit der SED, mit der PDS, mit der Linken. Etcetera.
Die Fixierung auf die scheinbar populäre Gerechtigkeitsfrage hat eine weitgehende Bürokratisierung der Politik nach sich gezogen. Wenn Brandt seinerzeit mehr Demokratie wagen wollte, so ist man jetzt bei Hartz vier und Agenda zwanzig zehn. Für die Demokratie könnte man sich noch ins Getümmel stürzen, um für die Agenda zwanzig zehn zu sterben muss man schon Müntefering heißen. Die SPD ist bei Steinmeier vielleicht nicht schlecht aufgehoben, sie ist aber in der Hand eines Büroleiters. Egon Bahr jedoch, war meines Wissens, niemals darauf aus, Kanzler zu werden.