Beschäftigt man sich in diesen Zeiten mit Kriminalstatistiken, betritt man vermintes Gelände. Das liegt zum einen an der Komplexität der Materie und dem die komplexe Realität nicht immer vollständig widerspiegelnden Zahlenmaterial, zum anderen an der Sichtweise des Betrachters, die zwischen überwiegend neutral und stark interessegeleitet variieren kann. Zudem kann dieses Interesse ganz unterschiedlich gerichtet sein: Sucht man Argumente, um die Kriminalitätsbelastung eines bestimmten Personenkreises möglichst zu relativieren, oder ist man eher am Gegenteil interessiert?
In dieser Gemengelage bringen „Relativierer“ wie der Kriminologe Christian Pfeiffer mit ziemlicher Sicherheit im Verlaufe der Diskussion ein bestimmtes Argument in Stellung: „Die Anzeigebereitschaft ist viel größer, je fremder der Täter ist.“ Oder wie die Zeit: Nichtdeutsche hätten unter gleichen Voraussetzungen eine höhere Wahrscheinlichkeit, verdächtigt zu werden. Eine auch nur etwas genauere Angabe zur Größenordnung dieser Verzerrung wird allerdings nie mitgeliefert. Worauf also stützen sich Pfeiffer und die wie er argumentierenden Medien? Höchste Zeit für eine seriöse Recherche nach den (deutschen) wissenschaftlichen Belegen für Behauptungen dieser Art.
Das Ergebnis fällt ernüchternd aus. Für den Zeitraum ab dem Jahr 2000 findet sich gerade mal eine einschlägige Studie zu dieser Thematik, nämlich die 2003 publizierte Arbeit von J. Mansel und G. Albrecht aus dem Institut für Konflikt- und Gewaltforschung der Uni Bielefeld: „Die Ethnie des Täters als ein Prädiktor für das Anzeigeverhalten von Opfern und Zeugen“.
Der Artikel beginnt mit heutzutage doch recht steil anmutenden Thesen: Es „dominiert nicht nur in der Boulevardpresse, sondern auch in den als seriös einzustufenden Medien in der Berichterstattung (über Migranten) vor allem ein Thema: Die Kriminalität der Zuwanderer.“ Da die einheimische Bevölkerung kaum über private Kontakte zu den Migranten verfüge, werde ihr Bild von dieser Bevölkerungsgruppe weitgehend von dieser Art der (negativen) Berichterstattung geprägt.
Japanische Tatverdächtige als Außreißer nach unten
Die gleichwohl von den Autoren anerkannte deutliche Überrepräsentierung von Ausländern in der polizeilichen Kriminalstatistik könne vor diesem Hintergrund auch Folge davon sein, dass die einheimische Bevölkerung „die Zuwanderer und deren Verhalten mit besonderer Aufmerksamkeit beobachten und störendes oder abweichendes Verhalten eher zur Anzeige bringen.“ Zumal die Erstattung einer Strafanzeige keinesfalls den Regelfall darstelle, denn das erfolge nur in etwa der Hälfte der Fälle. Ob Anzeige erstattet wird oder nicht, hänge von der Art des Delikts ab. Auch wenn das Opfer zum Täter in einer persönlichen Beziehung steht, erfolge seltener eine Anzeige als bei einer fremden Person. Untersucht werden solle nun vor allem, ob neben der persönlichen Beziehung zwischen Opfer und Täter auch dessen Ethnie bezüglich des Anzeigeverhaltens eine Rolle spielt.
Die mittels Fragebögen und z.T. auch mündlichen Interviews untersuchte Stichprobe von letztlich insgesamt 2081 Personen soll repräsentativ für die in Privathaushalten lebende deutschsprachige Bevölkerung der Bundesrepublik ab 18 Jahre sein. Ob sie das angesichts von gut einem Drittel aus verschiedenen Gründen vorab ausgeschiedenen Personen tatsächlich noch ist, teilen die Autoren nicht mit. Im Fokus dieser Untersuchung stehen insbesondere die 910 Personen, die angaben, in den letzten drei Jahren Zeuge, Opfer oder – wenn ein Haushaltsmitglied betroffen war – stellvertretendes Opfer einer Straftat gewesen zu sein. Insgesamt ergaben sich daraus 1.626 direkt oder indirekt erlebte Straftaten. In 624 Fällen konnten die Befragten nähere Angaben zum Täter machen, insbesondere, ob es sich um deutsche oder nicht-deutsche Täter handelte. Auf diesen Fällen basieren die folgenden Ergebnisse.
Bei einem deutschen Tatverdächtigen erfolgte in 38,6 Prozent (145 von 376) eine Anzeige, bei einem nicht-deutschen dagegen in 52,0 Prozent (129 von 248). Berechnet man auf dieser Grundlage das relative Risiko (RR) für die „exponierte“ Gruppe, also diejenigen mit dem Risikomerkmal nicht-deutsch, ergibt sich ein Wert von 1,35 (52,0:38,6). Anders ausgedrückt: Nicht-deutsche Tatverdächtige haben im Vergleich zu deutschen – der nicht „exponierten“ Gruppe – ein etwa um ein Drittel höheres Risiko, angezeigt zu werden. Es handelt sich also lediglich um eine geringe Risikoerhöhung.
Was bedeutet dieses relative Risiko von 1,35 nun für den praktischen Umgang mit Kriminalstatistiken, z.um Beispiel der Polizeilichen Kriminalstatistik für 2016, ergänzt um die von Renz hinzugezogenen bevölkerungsstatistischen Daten? Die Rate für deutsche Tatverdächtige beträgt 1,9 Prozent und für nicht-deutsche 6,8 Prozent, selbstverständlich ohne die Straftaten illegale Einreise und illegaler Aufenthalt.
Die durch das Anzeigeverhalten verzerrte beziehungsweise erhöhte Rate der nicht-deutschen Tatverdächtigen ist also nicht "schlicht" um 0,7 Prozent zu vermindern. Vielmehr ergibt sich die bereinigte Rate der nicht-deutschen Tatverdächtigen indem man sie durch das relative Risiko in Höhe von 1,35 teilt. Die entsprechend bereinigte Rate der nicht-deutschen Tatverdächtigen liegt dann bei 5 Prozent (6,8 Prozent / 1,35). Für die anderen genannten Nationalitäten ergeben sich dementsprechend: Algerier 40,2 Prozent (54,3 Prozent / 1,35), Afghanen 12,8 Prozent (17,3 Prozent / 1,35), Syrer 8,4 Prozent (11,4 Prozent / 1,35) und Japaner 0,4 Prozent (0,6 / 1,35). Durch diese jetzt korrekte Berechnung der Raten für die verschiedenen nicht-deutschen Tatverdächtigen verringert sich also - im Vergleich zur ursprünglichen Methode - der Abstand zur Rate der deutschen Tatverdächtigen (1,9 Prozent). Es bleibt aber weiterhin ein deutlicher, teils exzessiver Unterschied bestehen.
Ein äußerst schwacher Zusammenhang
Vielleicht haben die Autoren das relative Risiko deshalb nicht berechnet, weil es in der Soziologie – im Gegensatz zur Medizin – nicht besonders geläufig ist. Möglicherweise hatten sie aber auch kein gesteigertes Interesse daran, dem Leser eine griffige Möglichkeit zu bieten, ihre Ergebnisse auch praktisch anzuwenden. Dazu passend fällt auf, dass in der Zusammenfassung – auf deren Lektüre sich die meisten Leser ohnehin beschränken – die Ergebnisse nur allgemein und unter strikter Vermeidung von irgendwelchen Zahlen aufgeführt sind.
Die Untersucher beschränkten sich darauf, den Zusammenhang zwischen Anzeigeverhalten und Ethnie in Form eines Korrelationskoeffizienten zu berechnen. Dieser Koeffizient, der bei einem positiven Zusammenhang Werte zwischen 0 und 1 annehmen kann, beträgt lediglich 0.13, was dem auch nur halbwegs Kundigen bereits einen nur äußerst schwachen Zusammenhang anzeigt.
Um das zu verdeutlichen, kann man den Koeffizienten quadrieren und erhält den sogenannten Determinationskoeffizienten in Höhe von 0.017 (0.13 x 0.13). Das hier untersuchte Merkmal (deutsch versus nicht-deutsch) erklärt damit lediglich zu 1,7 Prozent, ob jemand angezeigt wird oder nicht. Zu gut 98 Prozent bestimmen also andere Faktoren das Anzeigeverhalten. Aus wissenschaftlicher Sicht ein ziemliches Desaster, denn das von den Autoren auserkorene ethnische Merkmal deutsch versus nicht-deutsch trägt kaum etwas zur Erklärung des Anzeigeverhaltens bei. Das haben sich die Autoren sicherlich etwas anders vorgestellt.
Aber es kommt noch dicker. Abschließend unterziehen die Autoren ihre Daten nämlich noch einer komplexen statistischen Prozedur, bei der simultan mit der ethnischen Variable deutsch versus nicht-deutsch weitere Merkmale in die Zusammenhangsanalyse einbezogen werden. Dabei vermindert sich der ohnehin schon spärliche Erklärungswert der ethnischen Zugehörigkeit für das Anzeigeverhalten weiter sehr deutlich, und zwar zu Gunsten des Merkmals „Beziehung“ (bekannt vsersus unbekannt). Der Ethnie des Täters kommt beim Anzeigeverhalten also vor allem insofern eine Bedeutung zu, als nicht-deutsche Tatverdächtige den Opfern oder Zeugen häufiger unbekannt sind als deutsche Täter, bei denen es sich eben nicht selten um Nachbarn, Bekannte, Verwandte oder andere Personen handelt, mit denen man versucht, den Konflikt außerhalb des Strafrechts zu regulieren.
Verdammt viel offene Fragen
Die Autoren kommen nicht umhin, resümierend festzustellen, dass „die erhöhte Anzeigetätigkeit oder Anzeigeneigung gegenüber den Migranten die Höherbelastung der Ausländer in der polizeilichen Kriminalstatistik nicht zu erklären (vermag)“. Dazu ist der Effekt schlicht zu gering beziehungsweise die Kriminalitätsbelastung der Migranten zu hoch, wie zum Beispiel die oben erwähnten Ergebnisse aus dem Jahr 2016 eindrücklich zeigen.
Sollte man in politischen Diskussionen über die Kriminalität von Migranten relativierende Faktoren wie das im Vergleich zur einheimischen Bevölkerung jüngere Alter, den höheren Männeranteil, die im Mittel niedrigere Schichtzugehörigkeit und die Verzerrung durch das unterschiedliche Anzeigeverhalten berücksichtigen? In Bezug auf letzteres neige ich zu einem „ja“. Allerdings nur unter Berücksichtigung der Größenordnung dieser Verzerrung. Denn die hauptamtlichen Relativierer benutzen diesen Effekt ja gerne als scheinbar nicht näher bestimmbare Restgröße, um den anderweitig nicht vollständig zu erklärenden Kriminalitätsüberhang der Migranten damit möglichst vollständig aufzulösen.
Aber in Bezug auf die Verzerrung des Anzeigeverhaltens bleiben natürlich Fragen. Stimmen die – ohnehin nie durch eine andere Untersuchung bestätigten – von Mansel und Albrecht vor mittlerweile 15 Jahren ermittelten Zahlen noch? War vielleicht der politisch-mediale Umerziehungsprozess der letzten Jahre erfolgreich, so dass der Deutsche sich aus Gründen der politischen Korrektheit nicht mehr so recht traut, den nicht-deutschen Täter anzuzeigen? Oder üben sich vielleicht auch bei uns Behörden aus Angst vor Rassismus-Vorwürfen bereits im systematischen Wegschauen? Oder hat der Deutsche resigniert, weil die Staatsanwaltschaft die Angelegenheit ja doch niederschlagen oder der Täter höchstens zu einer Woche Harken im Stadtpark verurteilt wird? Und dass Schmerzensgeld tatsächlich gezahlt wird, dürfte auch nur eine Minderheit glauben.
Ansonsten aber sollte man besser trennen zwischen politischer Diskussion und einer in soziologischen Oberseminaren oder auf kriminologischen Symposien zu führenden wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Denn zur Beurteilung der öffentlichen Sicherheit ist letztlich nicht die Frage entscheidend, ob Migranten unter Berücksichtigung aller relativierenden Faktoren immer noch krimineller als die Einheimischen sind oder nicht, sondern wie sich die Migranten verhalten, die nun mal hier sind. Das Augenmerk sollte dabei statt auf Alter und Geschlecht stärker auch auf die Nationalität der Tatverdächtigen gerichtet werden.