„Verflucht bist du in der Stadt, verflucht bist du auf dem Land“ – so drohte Moses laut Altem Testament jenen Israeliten, von denen er einen religiösen Regelverstoß befürchtete (also allen). Bei SPON hingegen beschränkt man sich unlängst auf die Verfluchung des ländlichen Raums, was nicht verwunderlich ist, vermutet man doch ebendort den Brandherd gegenwärtiger Transgressionen der öffentlichen Frommheit, etwa der von deutschen Journalisten nicht genehmigten Wahl Donald Trumps oder des unter ähnlich unheilvollen Vorzeichen abgehaltenen Brexit-Referendums. In Deutschland ist es freilich die AfD, die sich dem Vorwurf ausgesetzt sieht, nicht hinreichend metro- und kosmopolitisch zu sein.
Bevor man bei SPON diese heißen Eisen – eigentlich kalte Klischees – anpackt, möchten zunächst hehrere Gefühle angesprochen sein. Dementsprechend schrieb kürzlich Kolumnist Henrik Müller unter der unverhohlenen Überschrift „Landluft macht unfrei“ über seine diffusen Ängste, die Integrität unserer Demokratie betreffend. Diese hat nämlich mit dem bisher unbekannten Problem zu kämpfen, sich der politischen Partizipation gewisser Landeier nicht erwehren zu können. Dem dennoch weltoffen gewordenem Teil der Landjugend bliebe somit neben des politischen Sich-trotzdem-Einmischens („voice“) nur das Sich-im-wahrsten-Sinne-des-Wortes-vom-Acker-Machen („exit“, wohlgemerkt ohne „Br“).
Jeder hat ein Recht auf Abhauen, was Müller auch großzügig einräumt. Allerdings befürchtet der Journalist durch die Emigration junger Einmischer das noch stärkere Absinken der politischen Fläche in die moralische Untiefe. Es bestehe die Gefahr einer „politische[n] und ökonomische[n] Polarisierung“, die ländlichen Regionen blieben „mit schrumpfender Bevölkerung zurück, von Pessimismus geplagt, getrieben von einem Gefühl der Bedrohung“.
Wer sich hier von wem bedroht fühlt – muss zunächst offen bleiben, denn Müller wendet sich erst einmal den Städten zu. Ohne zu riskieren, die SPON-Leserschaft zu überraschen, findet er hier Grund zur Hoffnung. Die „ökonomischen Zentren“ würden „vom Zuzug profitieren, multikultureller und politisch liberaler werden“. Ich bin mir ziemlich sicher, dass der Ballungsraum Tokio, übrigens der größte der Welt, ein „ökonomisches Zentrum“ ist, das zudem „vom Zuzug“ aus anderen Regionen profitiert. Dennoch beschleicht mich das Gefühl, dass Metropolitanismus im Stile Tokios weder der Multikulturalismus noch der politische Liberalismus ist, den Müller hier im Sinn hat.
Dann doch lieber amerikanische Verhältnisse!
Klar, Tokio ist sicher wahnsinnig multikulturell – für japanische Verhältnisse. Zudem hat es mit einer Kriminalitätsrate zu kämpfen, die so fantastisch ist, dass die Großstadtpolizisten gar nicht mehr wissen, was sie tun sollen – wohlgemerkt im wortwörtlichen Sinne, wie der Economist letztes Jahr trocken anzumerken sich vorwagte: „As crime dries up, Japan’s police hunt for things to do”.
Aber japanische Verhältnisse in Deutschland? Das will sicherlich niemand, auch nicht bei SPON. Dann doch lieber amerikanische Verhältnisse, deren Version von Multikulturalismus uns ja sowieso in den Sternen steht, wie ich bereits 2015 an dieser Stelle anführte (und die Prognose hält sich erstaunlich gut). Vermutlich schweben Müller gerade jene amerikanischen Großstädte vor, die sich besonders stark von dem aus dem ländlichen Raum befeuertem Wahlsieg Donald Trumps hintergangen fühlen und nun schon seit geraumer Zeit befürchten, der Mann im Weißen Haus könnte ihre – den rückschrittlichen Provinzen geradezu engelhaft enthobenen – Hippie-Enklaven beispielsweise dazu zwingen, mit den Bundesbehörden beim Thema illegale Einwanderung zusammenzuarbeiten.
Dies hätte freilich zur Folge, dass Leute wie Mark Zuckerberg ihren Heckenschneidern und Schwimmbadreinigern zukünftig höhere Löhne zahlen müssten. Doch – keine Angst! – die gesalbte „liberale“ Elite im Silicon Valley und anderswo wird das sicherlich zu verhindern wissen. Schließlich geben Firmen wie Alphabet, der Mutterkonzern von Google, mittlerweile Rekordsummen für Lobbyisten aus, die dann in Washington genau den Sumpf befeuchten, welchen trockenzulegen Teil des Trumpschen Rostgürtelmandats war und ist.
Ganz unrecht hat SPON-Müller nicht. Dass eine Großstadt wie San Francisco ihren Charme und eine beeindruckende wirtschaftliche Dynamik hat, würde ich nie in Abrede stellen. Allerdings lebt es sich dort so teuer, dass sich kein normaler Mensch die Mieten leisten kann, und zwar unabhängig vom geographischen Migrationshintergrund. Das wiederum liegt weniger am wirtschaftlichen Erfolg als vielmehr an unsinnigen Regulierungen, die nur „liberale“ Reiche nicht stören – Hallo, Mietpreisbremse! – sowie drakonischen Umwelt- und Bauvorschriften.
Für 400 Dollar pro Monat in einer hölzernen Box
Illustration gefällig? Der Illustrator Peter Berkowitz, ein offenbar besonders kreatives Mitglied der kalifornischen Kreativbranche, mietete sich in San Francisco in das Wohnzimmer eines Bekannten ein, wo er für 400 Dollar pro Monat in einer hölzernen Box lebte. Als die Sache publik wurde, musste er gehen: Ein Verstoß gegen die Brandschutzverordnung! Ob Berkowitz ohne Box glücklicher geworden ist, muss vorerst eine offene Frage bleiben. Ob die Box es ins Zeugenschutzprogramm geschafft hat, ebenso.
Leider hören die Probleme beim Wohnraum noch lange nicht auf. Um mal beim Beispiel San Francisco zu bleiben, kommt man kaum darum herum, noch weitere Kollateralschäden des vom SPONisten Müller so geschätzten, stadtbasierten „politischen Liberalismus“ zu diagnostizieren. So hat die Stadt mit der Golden Gate Bridge seit geraumer Zeit – und was wäre liberaler als das? – ein Problem mit der öffentlichen Ausscheidung von Kot. Und, nein bei der "shitty situation", geht es nicht etwa um Hunde. (Auch wenn es stimmt, dass es in San Francisco in etwa so viele Hunde wie menschliche Kinder gibt – für die Zukunftsfähigkeit der urbanen High-Tech-Franziskaner sicher kein allzu gutes Omen.) Immerhin was das Ausmisten betrifft, können die „liberalen“ Metropolitaner mit ihren verhassten Landeier-Cousins also locker mitziehen. Soviel sei zugestanden
Was aber ist mit dem Multikulturalismus, der für die Stadtbevölkerung so attraktiv sein soll? Hätte Müller über Multikulinarismus geschrieben, wäre er Philosoph geblieben. Auch der Autor dieser Zeilen hat schon in San Francisco koreanisch gegessen, und dafür sogar vor dem Restaurant Schlange gestanden: er kann es jedem nur empfehlen. Der real existierende Multikulturalismus jedoch ist auch in Amerika keine Erfolgsgeschichte, zumindest außerhalb der sozialen Kreise kognitiver Eliten. Selbst wenn er es wäre, gäbe es gute Gründe zu der Annahme, dass sich so ein Erfolg hierzulande nicht replizieren ließe. Schließlich verlangt Amerika seinen Zuwanderern auch heute noch wesentlich mehr ab, als ein Land wie Deutschland es sich politisch wagen würde oder juristisch wagen dürfte.
Verschlimmernd kommt hinzu: Müller bedauert den Abzug der Landjugend in Richtung Metropolenregionen auch und insbesondere deshalb, weil es sich hier – allein schon altersbedingt – um Idealisten handelt, die sich „einzumischen“ wissen und politisch „unbequem“ sind. Qualitäten also, die der Kolumnist gerade an der Provinz vermisst. Diese Vorstellung ist aber vermessen, weil es den Einmischern in den multikulturellen Städten auch nicht besser ergehen wird, eher im Gegenteil. Vor über zehn Jahren bereits hat die – sicher auch von Müller hochgeschätzte – New York Times berichtet, oder besser: eingestanden, dass die ganze multikulturelle Vielfalt sich negativ auf das zivilgesellschaftliche Engagement der von ihr betroffenen Bevölkerungen auswirkt.
Wegducken statt Einmischen
Dabei berief die Times sich auf eine auf stolzen 30.000 landesweit durchgeführten Interviews basierende Studie des prominenten Harvard-Sozialwissenschaftlers Robert Putnam. Der Zeitung zufolge besagten die Ergebnisse unter anderem: „Je größer die Vielfalt in einer Gemeinschaft, desto weniger Leute gehen wählen, engagieren sich ehrenamtlich, spenden an gemeinnützige Organisationen oder arbeiten an Gemeinschaftsprojekten. In den vielfältigsten Gemeinschaften vertrauen die Leute einander etwa halb so viel wie in den homogensten. Die Studie, die größte überhaupt zum Thema zivilgesellschaftliches Engagement in Amerika, hält fest, dass quasi alle Messgrößen ziviler Gesundheit in vielfältigeren Umgebungen geringer ausfallen.“ Für Müllers jugendliche Hoffnungsträger heißt es also: Wegducken statt Einmischen.
Ich möchte nicht pessimistisch gestimmt zur Schlussbetrachtung übergehen, schon allein deshalb, weil Müller es bereits tut. Er hält eine Art Grabrede, und zwar nicht nur über Amerikas Trumpenproletariat, sondern auch über das demographisch zunehmend ausgezehrte Osteuropa. An dieser Stelle ist energischer Widerspruch angezeigt.
Auch ich will nicht behaupten, dass Länder wie Moldawien oder die Ukraine eine besonders rosige Zukunft vor sich haben. Zumindest was die Visegrad-Staaten betrifft, kann ich jedoch Entwarnung geben. Was Müller an ihnen bedauert, nämlich ihr struktureller, mentaler, und sogar unverschämter Konservatismus, ist in Wahrheit ihre größte Waffe. Je stärker sich Westeuropa naiven Idealen verschreibt, die in den Metropolen vielleicht der letzte Schrei sind, aber gleichzeitig jeden halbwegs normalen Staatsbürger verprellen, desto schlagfertigere Argumente haben Länder wie Polen und Ungarn, um selbst zu attraktiven Migrationszentren zu werden. Dann allerdings nicht für Analphabeten aus der Dritten Welt, sondern für leistungsstarke Westeuropäer, die sich nach Recht, Ordnung und Kultur sehnen und dafür auch ihren Teil an Steuern zu zahlen bereit sein werden.
Sie halten das für übertrieben? Ich habe diese Entwicklung vor knapp zwei Jahren hier auf der Achse vorhergesagt . Ein halbes Jahr später hat der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban ihre Umsetzung in einer Ansprache recht unzweideutig – und von den deutschen Medien größtenteils unbemerkt – angekündigt.
Der SPON-Kommentator wird zumindest in einer Sache Recht behalten: In Zukunft wird es jede Menge Migration geben, nur eben nicht der Art und in die Richtung, die er sich vorstellt. Allein durch die schon in den Startlöchern stehende Innovation der selbstfahrenden Autos wird der ländliche Raum stark an Attraktivität gewinnen, weil kein Pendler mehr großartige Zeit- oder Produktivitätsverluste einzustecken hat, sobald er sich von einem fahrenden Wohnzimmer zur Arbeit kutschieren lassen kann. Gleichzeitig kann er die Vorzüge des ländlichen Lebens genießen, sei es das hohe gegenseitiges Vertrauen und zivilgesellschaftliche Engagement – oder auch die Abwesenheit dunkler Gassen, in denen sich nachts die Zeitgeister urbaner Kolumnisten grimmig herumtreiben.
Man sieht sich in Budapest. Oder meinetwegen auch gerne in Tokio.