Es rumort in Brüssel. Die EU bekommt 2019 einen neuen Präsidenten und der Machtkampf um die Nachfolge des Luxemburgers Jean-Claude Juncker an der Spitze der Europäischen Kommission ist entbrannt. Nach einer Umfrage unter mehr als 1.000 Brüsseler Beamten, Experten und Lobbyisten im Auftrag von “Vote Watch” sind der Franzose Michel Barnier und Margrethe Vestager aus Dänemark derzeit die Favoriten. Barnier ist EU-Chefunterhändler beim Brexit, er wollte bereits bei der letzten Europawahl als Spitzenkandidat der christdemokratischen EVP antreten, unterlag aber Juncker bei einer parteiinternen Abstimmung. Nun sind seine Chancen gestiegen, vor allem wenn er den Brexit-Schaden für Europa mit geschickten Verhandlungen klein halten kann.
Bei Europas Sozialdemokraten gilt die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini als mögliche Kandidatin. Allerdings sind die Wahlergebnisse der Sozialdemokraten europaweit so schlecht, dass Mogherini beinahe aussichtslos ins Rennen gehen würde. Daher steigen seit einigen Wochen die Chancen einer anderen, liberalen Frau – eben Margrethe Vestager. Die EU-Wettbewerbskommissarin hat sich eine Menge Respekt für ihr furchtloses Vorgehen gegen Internet-Monopolisten wie Google erworben. Mit 2,4 Milliarden Euro verhängte sie das bislang höchste Bußgeld der Europäischen Union, weil Google den eigenen Shopping-Dienst gegenüber Wettbewerbern bevorzugt hatte.
Selbst Apple hat sie – obwohl deren Konzernboss in ihrem Büro lautstark getobt haben soll – in die Knie gezwungen und endlich Steuern abgetrotzt: 13 Milliarden Euro Nachzahlungen inklusive Zinsen. Das “Wall Street Journal” nennt sie seither respektvoll “die Frau, die Amerikas Technologie-Giganten in Schach hält” und das “Handelsblatt” findet, die Dänin sei “zu einem Symbol für die Behauptung des Politischen und des Rechts in einer globalisierten Welt” geworden.
Tatschlich waren Google und Apple nicht die einzigen, die Vestagers Entschiedenheit zu spüren bekamen. Die resolute Dänin leitete serienweise Verfahren gegen Konzerne wegen Wettbewerbsverstößen ein. Fiat, Starbucks, Amazon, Gazprom, Volvo, VW, MAN – sie alle kennen und fürchten sie, und auch Bayer musste sich bei der Monsanto-Übernahme ihren Anweisungen beugen. Sogar Kungeleien im europäischen Fußball lässt sie durchleuchten. Bis in die letzten Winkel der EU hinein sorgt sie für mehr Wettbewerb und verdonnert selbst Cyprus Airways wegen des unrechtmäßigen Erhalts staatlicher Hilfsgelder zu 65 Millionen Euro Strafzahlungen.
Sie folgt einer liberalen ordnungspolitischen Idee
Und wenn jemand im Facebook-Skandal den amerikanischen Social-Media-Konzern einbremst, dann wird sie es sein. Den Konzern von Marc Zuckerberg ließ sie aufgrund falscher Angaben bei der Übernahme von WhatsApp schon einmal 110 Millionen Euro nachzahlen.
Vestager handelt bei alledem nicht aus einem links-dumpfen Enteignungs- oder Umverteilungsreflex, sie folgt einer liberalen ordnungspolitischen Idee. Sie kämpft mit dem scharfen Schwert des Kartellrechts für offenen Wettbewerb. In Brüssel wird sie darum auch – in Erinnerung an Maggie Thatcher – “Eiserne Lady” gerufen. Sie scheut keine Konflikte und zeigt das auch jedem Besucher ihres Büros. Denn dort steht eine Gipsplastik von einer Hand mit ausgestrecktem Mittelfinger – das Andenken einer dänischen Gewerkschaft, die in ihrer Amtszeit als Ministerin einst gegen eine Reform der Sozialleistungen protestierte.
Vestagers Erfolge haben sie zum Star der EU-Kommission werden lassen. Wo Juncker in der Migrationspolitik taumelt, sich mit ganz Osteuropa anlegt und die EU derzeit schwach verkörpert, da demonstriert sie mit ihrer offensiven Ordnungspolitik, dass Brüssel viel mehr erreichen kann als alle erwarten. So mischt sie frech auch die Steuerpolitik der EU einmal grundlegend auf – mit politischer Übergriffigkeit. Als Kommissarin für Wettbewerb ist sie eigentlich für die Vermeidung von Kartellen zuständig, nicht aber für Steuern.
Doch Vestager definiert kurzerhand staatliche Steuerrabatte für Konzerne als unerlaubte staatliche Beihilfen und ist fortan mittendrin in der Luxleaks-, Paradise und Panama-Papers-Debatte. Sie lässt sich nicht abwimmeln und redet nie mit Lobbyisten, sondern immer nur mit Vorstandsvorsitzenden. Sie sucht das Zentrum der Macht und macht dann Ansagen. So hat sie der angeschlagenen EU wirtschaftspolitisch eine völlig neue Autorität verschafft. Und damit auch alle merken, dass sie es hier mit einer Strategin der Macht zu tun haben, steht auf ihrem Sofatisch zuweilen eine kleine Büste vom durchsetzungsstarken deutschen Reichsgründer Otto von Bismarck.
Pastorentochter und Kirchenministerin
Ihr zupackender Reformwille fasziniert auch Emmanuel Macron. Der französische Präsident steht mit seiner eigenen politischen Bewegung zwischen den alten Fronten von Konservativen und Sozialisten. Und da die Parteienlandschaft in ganz Europa stark in Bewegung geraten ist, liebäugelt er nach einer Reformkandidatin der Mitte – er könnte sich die liberale Wettbewerbskommissarin aus Dänemark jedenfalls gut für die Juncker-Nachfolge vorstellen.
Angela Merkel wiederum sieht in Vestager, die vor wenigen Tagen 50 Jahre alt geworden ist, eine echte Geistesverwandte in der Bismarck-Tradition. Beide entstammen evangelischen Pastorenfamilien, beide sind von nordischer Zielstrebigkeit und Verlässlichkeit geprägt. Beide haben weitreichende Erfahrungen in politischen Ämtern. Vestager war in Dänemark schon Parteivorsitzende, Wirtschaftsministerin, Innenministerin, stellvertretende Regierungschefin, ja sogar einmal für das Kirchenministerium zuständig. Beide genießen ihren Karriereerfolg in einer ehemaligen Männerdomäne demonstrativ.
Doch anderes als Merkel leistet sich Vestager auch öffentliche Skurrilitäten und strickt schon mal in aller Öffentlichkeit – am liebsten Woll-Elefanten. Vestager kleidet sich modisch, schätzt Designermöbel, trägt eine modische Pixie-Cut-Frisur und lebt ihren Liberalismus nicht nur in der großen Wirtschaftspolitik, sondern auch im Privaten konsequent aus. Obwohl Pastorentochter und Kirchenministerin, ließ sie ihre älteste Tochter Maria nicht taufen. Es hagelte öffentliche Proteste, doch sie ließ sich nicht beirren – ihre Kinder sollten später selbst entscheiden, ob sie getauft werden möchten. Selber entscheiden – das gefällt ihr.
http://www.theeuropean.de/wolfram-weimer/13882-nachfolger-fuer-jean-claude-juncker