Anabel Schunke / 25.09.2017 / 06:54 / Foto: Anabel Schunke / 35 / Seite ausdrucken

Wer war das und warum so viele?

Von Anabel Schunke.

Letzte Woche begegnete mir in den sozialen Medien wieder einmal das Bild von Erikas Steinbachs leerem Stuhl in der hintersten Reihe des Bundestages, auf den man sie verfrachtet hatte, nachdem sie aus der CDU ausgetreten war. Ein Bild für die Geschichtsbücher. Überschreiben könnte man es mit den Worten: Die Opposition im deutschen Bundestag bis September 2017.

Dazu las ich in der FAZ ein interessantes Portrait über die Bundestagsabgeordnete und weshalb sie, die sie im Januar nach über 40 Jahren aus der CDU austrat, nun die AfD im Wahlkampf unterstütze. Die Politik der Kanzlerin hält sie für grundlegend falsch. Deutschland sei massiver Schaden zugefügt worden, der Bundestag habe das mit allen Fraktionen nahezu kritiklos, in Teilen sogar euphorisch hingenommen. Aber das Elend Afrikas könne Europa nicht lösen, sagt die ehemalige Sprecherin für Menschenrechte der CDU-Fraktion.

Sie selbst habe erlebt, wie die Zahl der Kopftücher in ihrem Stadtteil zunahm und was an den Schulen los sei, „wo die Zahl der deutschen Kinder eins, zwei ist". Ihr Austritt war keine Kurzschlussreaktion, sondern ein Prozess von 2015 bis 2017. Die Entfremdung begann jedoch schon früher mit dem Atomausstieg nach Fukushima. Tag und Nacht hatte sie sich bis zu ihrem eigenen Ausstieg gequält.

Es sind die eigenen Überzeugungen, die Steinbach dazu bewegten, aber auch politischer Pragmatismus. Eine Partei, sagt Steinbach, sei ein „Vehikel, um Dinge umzusetzen, die man für richtig hält“. Es sei wie bei einem Fahrrad: „Wenn man sieht, der Reifen ist platt, dann steigt man ab.“ Ihr Großvater habe als Kommunist im KZ gesessen. Das sei nicht ihre Denkweise, aber er hätte sich wenigstens getraut, zu seiner Meinung zu stehen.“ Im Bundestag habe es dagegen keine wirkliche Opposition mehr gegeben, keine Stimme. Deshalb unterstütze sie jetzt die AfD, damit diese die kritischen Punkte anspricht.

Das FAZ-Portrait über Steinbach ist deshalb so angenehm zu lesen, weil es auf einordnende Kommentare des Autors verzichtet. Eine Ausnahme. Denn Erika Steinbach musste viel in den letzten zwei Jahren einstecken. Darunter auch nicht selten unsachlichen Spott an der Grenze zur Verleumdung von vermeintlich regierungskritischen Satire-Shows wie der Heute-Show und Extra 3, wo ihr etwa der „Rassismus-Oscar“ für das Posten eines Bildes verliehen wurde, auf dem ein hellhäutiges blondes Kind umringt von farbigen Kindern neugierig betrachtet wird. Überschrieben ist das Bild mit den Worten „Deutschland 2017“ und „Woher kommst du denn?“.

Die Empörungswut kennt keine Grenzen

Tagelang regten sich Presse und Teile der Politik gleichermaßen über Steinbachs Posting auf. Grünen-Chefin Simone Peter nannte das von Steinbach verbreitete Bild gar „widerlich, rassistisch und hetzerisch“ und Volker Beck, selbst im Verdacht des Drogenmissbrauchs, forderte gar ein Parteiordnungsverfahren für die damalige CDU-Abgeordnete. Sogar der Kölner Erzbischof Rainer Maria Woelki meldete sich zu Wort: „Das spaltet und schürt Ängste."

Die Empörungswut kennt in Deutschland bekanntlich keine Grenzen. Dabei war es nicht Steinbach, die das Bild als erste verbreitete. Bevor Steinbach es via Twitter teilte, geisterte es schon einige Jahre in den sozialen Netzwerken umher als „lustige“ Anspielung auf Thilo Sarrazins Bestseller „Deutschland schafft sich ab“. Das mag man witzig oder geschmacklos finden, aber Steinbach war sicher nicht die Urheberin. Im Übrigen scheint es für Presse und Medien auch darauf anzukommen, wer etwas postet. Als ich das Bild neulich bei Omar Meslmani, einem syrischen Youtuber, der unter anderem auch Videos für den WDR dreht, entdeckte, empörte sich jedenfalls niemand darüber oder behauptete, Meslmani betriebe Hetze und sei ein Rassist. Dieser hatte das Bild mit den Worten „Das musste ich einfach posten“ und mehreren lachenden Smileys kommentiert. Unter dem Posting lachen sich seine syrischen Anhänger und andere Personen in arabischer Sprache ebenfalls kaputt.

Komischerweise blieb ein entsprechender Kommentar Volker Becks, der die Aufkündigung der Zusammenarbeit des WDRs mit Meslmani fordert, aus. Die Opposition in Deutschland? Im Jahre 2017, in dem Künstler und Stars den Schulterschluss mit den Regierenden üben wie zu besten DDR-Zeiten und die Grünen nur noch in Schnappatmung verfallen, sind das längst andere: Die vermeintlichen Ewiggestrigen. Menschen wie Erika Steinbach. Nichts veranschaulicht das mehr, als ihr einsamer Sitz in der letzten Reihe, den sie dennoch mit Würde einnimmt.

Menschen, Politiker, die ihre Würde aus ihrer aufrechten Haltung ziehen, sind ohnehin selten geworden. In Deutschland, aber auch in vielen anderen Staaten Europas und den USA, deren gesellschaftlicher Friede allmählich durch die Grenzen des Machbaren in Sachen Multikulturalismus empfindlich auf die Probe gestellt wird. Die Tatsache, dass der politische und mediale Diskurs der Debatte auf der Straße und in den sozialen Netzwerken sowohl in der Benennung von Problemen als auch und vor allem in der Analyse der Ursachen und Lösungen bis heute hinterherhinkt, macht wenig Hoffnung.

Die vor und sicherlich auch nach der Wahl an der Grenze zur Hysterie verlaufende Debatte um die AfD zeigt eindrucksvoll, dass sich die Probleme, insbesondere in Deutschland, auch nach dieser Bundestagswahl eher noch verschärfen werden. Noch scheinen weder eine Mehrheit in Politik und Medien, noch große Teile der Bevölkerung trotz des Erfolgs der AfD zu verstehen, dass die Dämonisierung der Partei, ja des Populismus an sich, eher zu weiterem Zulauf und damit genau zu der Entwicklung geführt hat, die man vor der Wahl eigentlich verhindern wollte.

Die arrogante Haltung, alles und jeden integrieren zu können

Die linke Utopie des „neuen, besseren Menschen“, den man beliebig formen, respektive zum „gut sein“ erziehen kann, ist bis tief in die Gesellschaft vorgedrungen. Er zeigt sich nicht nur im Bestreben, den störrischen Wutbürger zurechtzuweisen, sondern auch und nicht zuletzt in der arroganten Haltung, alles und jeden ungeachtet von religiösen und kulturellen Differenzen, integrieren zu können. Dass Letzteres angesichts von Schulklassen, in denen kein einziges Kind mehr Deutsch spricht, von Parallelgesellschaften mit eigenen Gesetzen und Regeln kaum noch möglich ist, blendet man in bornierter Haltung genauso aus, wie die Tatsache, dass Menschen nun einmal unterschiedlich sind und nicht jeder den Islam als so bereichernd für die Gesellschaft ansieht, wie beispielsweise Katrin Göring-Eckardt. Ausgeblendet wird auch die schlichte Notwendigkeit, dass wir alle, Multikulti-Fetischisten genauso wie Islam- und Einwanderungskritiker, irgendwie einigermaßen gut zusammenleben können müssen und dass dazu eben gehört, dass wir einander beziehungsweise unsere unterschiedlichen Meinungen weiterhin aushalten.

Dass die multikulturelle Gesellschaft mehr Konfliktpotenzial als homogenere Gesellschaften birgt, ist nichts, was man nicht schon vor 2015 wusste und nichts, was man sich als halbwegs logisch denkender Mensch auch ungeachtet wissenschaftlicher Befunde hätte denken können. Mehr Religionen und mehr Kulturen in einer Gesellschaft bedeuten eben auch mehr Unterschiede in Werten und politischen Ansichten, bedeuten mehr strittige Themen, bedeuten mehr Konfliktpotenzial. Besonders, wenn es sich um Kulturen in unterschiedlichen Entwicklungsstadien handelt.

Kulturen, bei denen die eine einen säkularen, demokratischen Liberalismus lebt und die andere die Trennung von Kirche und Staat genauso wenig kennt, wie die Gleichberechtigung von Frau und Mann und die Toleranz gegenüber Homosexuellen und Andersgläubigen. Auf lange Sicht mag das liberale Modell jenes sein, welches sich durchsetzt, weil es als einziges der Unterschiedlichkeit der Menschen Rechnung trägt und es vermag, ihnen trotzdem, ohne Einschränkung der persönlichen negativen Freiheit, dank eines einheitlichen rechtlichen Rahmens und eines wertebasierten Minimalkonsenses, ein weitgehend friedliches Zusammenleben zu ermöglichen.

Kurzfristig bietet jedoch genau jene Freiheit und Toleranz des liberalen Modells ein Einfallstor für all jene, die sich mit dem Minimalkonsens nicht zufriedengeben wollen, die nach dem Maximalkonsens, nach dem „besseren“, dem „gleicheren“ Menschen streben, weil sie sich mit der Toleranz anderer Meinungen schwertun. Das betrifft Links- und Rechtsradikale genauso wie fanatische Gläubige, unter denen Muslime in diesem Jahrhundert leider bis jetzt den Spitzenplatz in Sachen Gewalt und Intoleranz gegenüber Andersdenkenden einnehmen.

Will man die friedliche multikulturelle Gesellschaft am Leben erhalten, den westlichen Glauben an die Vielfalt nicht gänzlich begraben, sollte man daher nicht auf die Unterdrückung all jener Meinungen setzen, die den Multikulturalismus und hier insbesondere den Islam und damit einhergehend die Einwanderung aus mehrheitlich islamisch geprägten Ländern kritisch differenziert betrachten, sondern auf die Begrenzung der Zahl derer, die sich nur mit der eigenen Vorstellung eines Maximalkonsenses zufrieden geben wollen.

Die Mitte ächzt und erodiert allmählich

Das heißt konkret, dass man nur so viel Menschen aus maximalkonsensualistischen, illiberalen islamischen Gesellschaften aufnimmt, wie man als liberale Gesellschaft verkraften, respektive integrieren kann. Integration in das hiesige Wertesystem funktioniert nur, so lange eine Mehrheit diese Ansichten vorlebt und ihre Annahme auch selbstbewusst einfordert. Gerade weil es sich hier nur um einen gesellschaftlichen Minimalkonsens handelt, muss dieser umso überzeugter verteidigt werden. Dazu braucht es die Mitarbeit aller Bürger ungeachtet von sonstigen Differenzen. Andernfalls hat die Individualgesellschaft gegenüber kollektivistisch geprägten Minderheiten, in denen allein durch die starke Rolle der Religion schon eine viel größere Einigkeit herrscht, keine Chance.

Was wir momentan in den meisten westlichen multikulturellen Gesellschaften erleben, ist jedoch genau das Gegenteil. Die Frage des Umgangs mit dem Islam und der Zuwanderung spaltet nicht nur häufig muslimische Migranten und Einheimische, sie reißt auch eine tiefe Kluft zwischen Einheimische selbst. Die Einigkeit, die es so dringend für eine machbare Integration bräuchte, gibt es nicht. Statt das künftige Miteinander wirklich angemessen „auszuhandeln“, verteufeln sich die unterschiedlichen Lager lieber gegenseitig. Manch AfD-Anhänger steht hierbei der ideologischen Intoleranz des linken Spektrums in nichts nach und selbst große Teile der ehemals politischen Mitte von CDU und SPD fahren in Bezug auf die Dämonisierung des islam- und einwanderungskritischen Spektrums ähnliche Geschütze auf, wie das kollektivistische linke Lager. Der Minimalkonsens stirbt, stattdessen scheint es nur noch Menschen zu geben, die ihren jeweiligen Maximalkonsens, die eine „wahre“ Ansicht durchdrücken wollen.

Die Mitte ächzt und erodiert allmählich unter dieser Entwicklung. Will sie eigentlich den gesellschaftlichen Minimalkonsens verteidigen, wird sie von beiden Rändern, links wie rechts, immer stärker zum Maximalkonsens gedrängt. Entweder man ist pauschal pro Einwanderung und Islam und pro Multikulturalismus als einzig großem bereichernden Spaß oder man ist dagegen und damit klar Nazi oder Rassist, im Bestfall aber Rechtspopulist oder Wutbürger, den man nicht wirklich ernst nimmt. Wer, wie ich, AfD-Anhängern zu liberal und der FDP zu illiberal ist, weiß jedenfalls genau, wie es sich anfühlt, sich zwischen den Lagern zerrissen und im eigentlichen Sinne politisch heimatlos zu fühlen.

Dabei ist es genau jener Zwang, um jeden Preis „Haltung“ zeigen zu müssen, der die eigentliche Definition von Haltung ad absurdum führt. Haltung ist etwas zutiefst Freiwilliges, etwas, was von innen heraus kommt, sonst ist es keine Haltung, sondern das, was man insbesondere in Bezug auf die Pro-Refugee-Fraktion gemeinhin unter dem Begriff Gratis-Mut subsumiert. Er ist darüber hinaus zutiefst undemokratisch, weil er die Gesellschaft aufspaltet, Vielfalt in Meinungen zu unterdrücken sucht, statt sie wahrzunehmen und im Rahmen des demokratischen Systems adäquat zu kanalisieren.

Er ist insofern leicht zugespitzt formuliert, eine Form der Gewalt, die, wie jede Art von Gewalt, Gegengewalt erzeugt. Je mehr ich Menschen zwinge, sich für eine Seite zu entscheiden, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich für eine Seite entscheiden, deren Ansichten sie gar nicht unbedingt in Gänze teilen, mit der sie aber mehr Schnittmenge haben, als mit der anderen. Die Mitte verpufft dabei gänzlich.

Das Vierte Reich heraufbeschwören

Und je mehr man vor allem den um Differenzierung bemühten kritischen Bürger in die Schmuddelecke zum rechten Rand steckt, ihn sozial und in Bezug auf den gesellschaftlichen Diskurs ausgrenzt, desto mehr beginnt er sich aus Enttäuschung mit eben jenem rechten Rand zu identifizieren. Desto mehr vermeintliche Gemeinsamkeiten, die er vorher nicht mit ihm hatte, wird er entdecken. Desto größer wird seine Wut und Verzweiflung. Die Absicht, Menschen zu erziehen, führt in der Folge zu ihrer Radikalisierung.

Und so wird der Protestwähler geboren. Diejenigen, die den Brexit und Trump gewählt haben. Die Le Pen fast zur Präsidentin von Frankreich gemacht haben und die die AfD zu ihrem beachtlichen Ergebnis geführt haben. Nein, das sind nicht alles Nazis, das sind oft auch einfach Menschen, die die Nase gestrichen voll haben von der Bevormundung anderer. Man kann sich natürlich weiterhin in journalistischen Pamphleten und zivilgesellschaftlichen Facebookpostings schrecklich gratismutig darüber empören oder weltfremde Analysen über den abgehängten AfD-Wähler verfassen, alle als Nazis bezeichnen und das Vierte Reich heraufbeschwören, oder wie Kanzleramtschef Peter Altmaier vor der Wahl allen AfD-Wählern empfehlen, lieber gar nicht wählen zu gehen.

Oder man kann sich endlich daran machen, einen ehrlichen gesellschaftlichen, medialen und politischen Diskurs über die eigentlichen Ursachen zu führen, die diese Entwicklung begünstigen. Sprich: Die Debatte auf eine kritischere Ebene führen, indem man Kritik übt, statt nur Kritik zu heucheln, um den Anschein zu wahren, es gäbe noch so etwas wie einen wahrhaft investigativen, an reinen Fakten interessierten Journalismus und kein Schmierentheater von Schreibern mit „Haltung“, die politischen Aktivismus mit Journalismus verwechseln. Wie wär’s zur Abwechslung mit Journalismus, der vornehmlich dokumentiert und nicht kommentiert. Der schreibt, was ist und nicht, was nach Auffassung seiner Protagonisten sein soll.

Man kann sich daran machen, ein Klima zu schaffen, in dem Menschen wie Erika Steinbach und viele andere für ihren Mut, für ihre Überzeugung einzustehen, ungeachtet der eigenen Meinung, vielleicht nicht gelobt, aber zumindest nicht für ihre Loslösung vom Kadavergehorsam verspottet werden. In dem auch scharfe Zungen eine Stimme im etablierten Journalismus erhalten und damit endlich wieder wirkliche Vielfalt und Leben in eine so ängstlich und berechenbar gewordene Medienlandschaft einkehren. Ein gesellschaftliches Klima, in dem nicht nur der linke Pseudo-Rebell gehört wird, sondern auch der, der sich tatsächlich im Widerspruch zur eigenen Zeit befindet. Und vor allem ein Klima, in dem man sein Demokratieverständnis nicht über Bord wirft, sobald es um die AfD geht oder pauschal um Menschen, die nicht die eigene Meinung teilen.

Stabilität in einer Gesellschaft erhält man nicht durch Zwang, die „richtige Haltung“ einnehmen zu müssen. Weder durch Internetzensur, noch erzieherische Pamphlete und mediales Schmierentheater mit Vorzeige-Migranten und einstudierten Fragen für die selektierten Gäste. Die verschriftlichte Selbstgewissheit, objektiven Journalismus zu betreiben, macht noch keinen objektiven Journalismus aus. Genauso wenig wie man die AfD-Wähler davon abbringt, AfD zu wählen, weil man als Promi kundtut, dass die AfD ganz besonders scheiße ist. Je mehr gegen die Kritiker der aktuellen Politik geschossen wird, desto weniger wird man sie überzeugen. Desto mehr werden sich Fronten entwickeln, wo früher eine Mitte war und desto mehr werden sich diese Fronten verhärten und der Kampf gegeneinander unerbittlicher. Es ist die Erkenntnis, dass der linke (oder auch religiöse) Absolutheitsanspruch, der angestrebte Maximalkonsens in einer Welt voller unterschiedlicher Menschen nie ohne Zwang durchzusetzen ist, der mich von der Linken zur Liberalen werden ließ. Die Erkenntnis, dass man nie jeden von den eigenen Ansichten wird überzeugen können und es deshalb essentiell für ein friedliches Miteinander ist, sich auf ein System des Minimalkonsenses zu einigen, in dem jeder nach seiner eigenen Façon glücklich werden kann, die mir die Schönheit des Liberalismus eröffnete. Machen wir so weiter, bleibt von dieser Schönheit nicht mehr viel übrig. Dann ist da nur noch Maximalkonsens gegen Maximalkonsens. Krieg der Fronten und sonst nichts.

Der Mensch ist, wie er ist. Eine der trivialsten Feststellungen und doch zugleich eine, die wir im Zuge eines angeblichen moralischen Imperativs weitgehend vergessen haben. Statt diese Unterschiedlichkeit zu bekämpfen, sollten wir dankbar sein, so lange sie noch sichtbar abgebildet im demokratischen Diskurs stattfindet, so lange sie sich kanalisieren lässt. Die AfD mag in Teilen aus unappetitlichen Personen und Ansichten bestehen, aber sie ist zugleich ein sichtbares Zeichen, dass die Demokratie noch funktioniert. Der Beweis für die Überlegenheit eines demokratischen Systems, das im Gegensatz zu allen anderen die Fähigkeit besitzt, aus sich selbst heraus mittels des Prinzips der Volkssouveränität zu gesunden und damit einen unfriedlichen, gewaltsamen Umsturz obsolet macht.

Das demokratische System schafft dort Platz, wo eine Lücke entstanden ist

Nein, ich habe keine Angst vor der AfD. Ich habe nur Angst vor Menschen, die von der AfD repräsentierte Meinungen unmöglich machen wollen. Die glauben, etwas, was tabuisiert wird, ist nicht mehr da. Die nicht differenzieren zwischen wirklichen Nazis und Menschen, die sich nicht mehr ausreichend repräsentiert fühlen. Ja, vielleicht sollte man erkennen, dass die AfD kein Zeichen für die Erosion, sondern für das Funktionieren der Demokratie ist. Dass sie sicherlich einen rechten Rand und komische Gestalten beherbergt, aber gleichermaßen auch neue Heimat für viele politisch Heimatlose geworden ist. Ein Produkt der Merkel-CDU, die ihre alten Standpunkte verraten hat. In der Euro- und Klima- genau wie in der Flüchtlingspolitik. Ein Produkt des entstandenen politischen Vakuums rechts der Mitte. Der zweifellose Beweis, dass jedes repräsentative Vakuum im politischen Spektrum einer Demokratie über kurz oder lang gefüllt wird, sodass niemals zu große Teile der Bevölkerung im politischen Nirwana verschwinden.

Wer versteht, wie sich das funktionierende demokratische System immer wieder von Neuem austariert, versteht schlussendlich ebenso, dass auch eine AfD kein Zeichen für eine deterministische Bewegung der Gesellschaft nach Rechts ist. Dass sie genauso wieder verschwinden kann, wenn sich das etablierte Spektrum erneut von sich aus im Gleichgewicht befindet. Dass sie sich vielleicht aber auch etabliert und innerparteilich austariert. Dass sie nun parlamentarisches Abbild für diejenigen Meinungen darstellt, die sich sonst außerparlamentarisch versammeln und dadurch zusätzlich radikalisieren. Das demokratische System schafft immer nur dort Platz, wo eine Lücke entstanden ist. Die heutige Bundesrepublik ist nicht die Weimarer. Sie hat Mechanismen entwickelt, die sie schützen. Der hysterische Umgang mit der AfD beruht nicht auf einer tatsächlichen Gefahr, sondern auf einer so weit nach links gerückten öffentlichen Wahrnehmung, dass Ansichten, die früher noch konservativ oder liberal waren, heute schon als rechtsradikal gelten. Nicht das demokratische System hat seinen Kompass verloren, sondern die Gesellschaft.

Die wirksamste Bekämpfung extremistischer Tendenzen aller Art liegt in einem gesellschaftlichen Diskurs der Mitte, der wieder zeigt, dass Politik nie bloß schwarz und weiss ist. Dass weder alles gut, noch alles schlecht ist. Dass der Minimalkonsens nicht perfekt ist, aber immer dem Maximalkonsens vorzuziehen. Ein Gesellschaftsmodell, das nicht erzieht, sondern Meinungspluralismus zelebriert. Nur so lassen sich Konflikte im demokratischen Rahmen kanalisieren. Nur so wird verhindert, dass sie unter der Oberfläche gären und  irgendwann hochkochen, sodass demokratische Repräsentation schlussendlich nicht mehr ausreicht, um der Wut Herr zu werden. Was wir brauchen, ist daher keine Angst vor anderen Meinungen, sondern Bewusstsein über die Wichtigkeit ihrer Abbildung, ungeachtet unserer eigenen Ansichten.

Der einsame Stuhl Erika Steinbachs als Sinnbild für eine nichtvorhandene Opposition war es schlussendlich, der ganz viele neue Stühle produzierte, die nun besetzt werden. Es ist Zeit, sich damit abzufinden.

Anabel Schunke ist Autorin und freie Journalistin. Sie schreibt für verschiedene Portale, etwa EMMA Online oder die deutsche Huffington Post.

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Jörn Dohrendorf / 25.09.2017

Starker Artikel! Anzumerken wäre, dass nicht nur die Merkel-CDU Grund für das Erstarken der AfD war, sondern auch die seit Jahren Schröder-konforme Führungsspitze der SPD namens Steinmeier, Gabriel, Schulz, die sukzessive die ureigene Wählerschaft vernachlässigt bzw. vor den Kopf gestoßen hat.

Wolfgang Richter / 25.09.2017

So wie sich Frau Steinbach durch eine merkelinisch umgestaltete CDU “entfremdet” fühlte, geht es offenbar vielen Menschen im Lande, im übrigen nicht nur mit den C-Parteien, sondern auch mit der SPD, wenn man den medial mitgeteilten Wählerwanderungen trauen darf. Und daß die sog. Spitzenleute der sich selbst “etablierenden”  Parteien seit Bekanntgabe der ersten Hochrechnungen zumindest in dem Punkt einig waren, daß nun leider die “unsäglichen Neo-Nazis” in den Bundestag einziehen, blendet ihr eigenes politisches Versagen aus, das zur Gründung der AfD führte, blendet weiter aus, daß dort vor allem Heimatlose der C-Parteien ihre neue gefunden haben und daß geschätzt vielleicht 6 Millionen Wähler der AfD, die diese selbstherrlich arroganten Bessermenschen, über die Jahre schleichend verprellt hatten, nun einfach zum “Neonazi” gestempelt werden, weil sie ihnen die Gefolgschaft verweigern. Wenn das heute von den “Etablierten” unter Demokratieverständnis verstanden wird, dann haben diese nicht gemerkt, wie weit sie sich inzwischen von Demokratie entfernt haben, Das gilt vor allem auch für die Krawallmacher, die es für angebracht hielten, direkt in Berlin aufzulaufen, so daß “AfD” nur noch unter Polizeischutz stattfinden konnte, auuch dazu keinerlei Erwähnung seitens der Medien und der “Guten” im Rahmen der Wahlberichte. Dieses Land könnte spannenden Zeiten entgegen gehen, auch im Hinblick auf die Zukunft der “etablierten” Versager, die in einigen östlichen Wahlkreisen bis zu 50 % Wählerzuspruch für die Alternativen ermöglichten.

Peter Michel / 25.09.2017

Danke Frau Schunke, ich hätte es nicht besser ausdrücken können, möge der Inhalt auch bei so manch anderen im Kopf ankommen.

thomas graebner / 25.09.2017

Sehr schöner Text, Frau Schunke. Auch mich stört es schon seit langem, wie im politischen und auch gesellschaftlichen Diskurs nicht mit Argumenten sondern mit eintrainierten, pauschalen Urteilen hantiert wird;  weil es einfacher ist,  mit ausformulierten Maximalforderungen zu hantieren statt mit austarierten aber nicht mainstreamigen Meinungen, die aber zumindest den Minimalkonsens abbilden. Denn wenn man in solcher Art argumentiert, wird man bestenfalls nicht wargenommen, eher sofort taxiert und in eine Ecken gestellt, in der man sich aber überhaupt nicht sieht.

Ilona Rossa / 25.09.2017

Selten so einen umfassenden und tiefschürfenden Beitrag über den Zustand unserer politischen Verhältnisse gelesen. Besonders der Aspekt des “social engineering”, also der Notwendigkeit der ideologischen Umerziehung und Betreung der Massen als Grundgedanke aller kollektivistischen Systeme, liegt mir sehr am Herzen. Solange diese Irrlehre nicht aus der Welt ist, haben liberale Systeme keine Chance. “Der Mensch ist, was er ist”. Richtig! Und Gott ist auch nicht das “Gute”, sondern das “Ganze”, habe ich einmal in einer Morgenandacht gehört. Fand ich umwerfend!

Pat McCraw / 25.09.2017

Ausgezeichnet und auf den Punkt:  “Der hysterische Umgang mit der AfD beruht nicht auf einer tatsächlichen Gefahr, sondern auf einer so weit nach links gerückten öffentlichen Wahrnehmung, dass Ansichten, die früher noch konservativ oder liberal waren, heute schon als rechtsradikal gelten. Nicht das demokratische System hat seinen Kompass verloren, sondern die Gesellschaft.” Vielen Dank, Anabel!

Susanne Stein / 25.09.2017

Toller, toller Artikel!!!

Eva QUistorp / 25.09.2017

ein kluger KOmmentar, an den sich hoffentlich viele, die die AFD aus einigen guten Gründen auf 7 Prozent bringen wollen , halten werden-statt selbstgerecht deren WÄhler alle als Nazis zu beschimpfen und so die Fronten zu verstärken

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