Alexander W. wurde in einer Tankstelle in Idar-Oberstein erschossen. Berichtet wird, dass er seinen Mörder Stunden vor der Tat des Tankstellenladens verwiesen hatte, in dem er arbeitete. Der 20-jährige Student soll an dieser Tankstelle gearbeitet haben, um sich seinen Führerschein zu finanzieren. Und was er tat, war, Anweisungen zu folgen. Im Laden herrscht Maskenpflicht, und wenn die nicht exekutiert wird, droht dem Betreiber ein Bußgeld. Egal, ob es dem anwesenden Verkäufer oder dem Eigner oder beiden droht, egal, ob Alexander vom Sinn der Maskenregeln überzeugt war oder nicht – an diesem Tag gehörte es zu seinen Aufgaben, selbige durchzusetzen. Folgt man der Medienberichterstattung, so musste er deshalb sterben.
Ein solcher Mord ist selbstverständlich verabscheuungswürdig. Und obwohl es nach aufsehenerregenden Tötungsfällen zu den Standard-Textbausteinen der Politiker gehört, kann man nach angemessenen Worten der Trauer nur den Angehörigen sein Mitgefühl ausdrücken. Doch leider sind diese Textbausteine so abgenutzt, dass sie auch dann noch schal klingen, wenn sie ernst gemeint und aufrichtig sind.
Bei bestimmten anderen unfassbaren Tötungsdelikten halten sich die politisch Verantwortlichen ja manchmal noch etwas länger an diesen Textbausteinen fest, weil sie gern vom Täter und seinem Motiv ablenken möchten. Das haben sie hier nicht nötig, deshalb steht Mario N., der mutmaßliche Mörder, ganz schnell im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Alexander W., das unschuldige Opfer, der junge Mann, der einfach nur das Pech hatte, mit der falschen Aufgabe zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, spielt in der Betrachtung des Falls seit der Identifikation des Täters nur eine Nebenrolle. Das ist aber bedauerlicherweise bei fast jeder aufsehenerregenden Mordtat so.
Ich weiß nicht, ob es zu zynisch klingt, aber es ist ebenso ermüdend wie erschreckend: Bei unfassbaren Bluttaten kann man bei den gleichen Funktionsträgern immer wieder zwei sich wiederholende Grundmuster der Reaktionen erkennen, je nach Nutzen oder Schaden, die der öffentlichen Wahrnehmung der Tat folgen könnten.
Schnelle Zuschreibungen
Als ein abgelehnter somalischer Asylbewerber vor einem Vierteljahr in Würzburg unter „Allahu-akbar“-Rufen drei Frauen in der Innenstadt tötete, da waren die politischen Verantwortungsträger äußerst zögerlich, über ein islamistisches Mordmotiv zu sprechen. Schließlich könnte der Täter ja auch psychisch erkrankt oder gestört gewesen sein. Solcherlei Zurückhaltung bei der Schuldzuweisung sowie die Warnung vor einem Generalverdacht genießen allerdings meist nur Asylbewerber und Muslime, wenn sie zu Tätern werden.
Bei Mario N. war das anders. Hier zeigten die sonst notorischen Generalverdachtswarner, was sie selbst in Sachen Generalverdacht können. Dass der Mord einer Aufforderung zum Maske-Tragen folgte, verstanden etliche Meinungsbildner aus Politik und Medien als Einladung, möglichst alle Kritiker der Corona-Politik der Bundesregierung mit dem Mord in Verbindung zu bringen. Mario N., so hatten sie schnell recherchiert, folgte im Netz den Querdenkern, aber auch anderen Seiten, die sich kritisch mit der Corona-Politik und deren langanhaltenden Grundrechtseinschränkungen im Dauerausnahmezustand auseinandersetzen.
Das ZDF berichtete beispielsweise recht schnell – unterstützt von einer „Expertin“ und einer „Faktencheckerin“ – dass der Mörder von Idar-Oberstein allerlei Seiten folgte, die sich alle kritisch gegenüber der Politik der Kanzlerin Merkel in den letzten Jahren äußerten.
Beim Instrumentalisieren wird natürlich nicht differenziert. Man packt am besten alles unter das Label „Querdenker“ und stellt alle diese Kritiker in die rechte Ecke. Wobei allein schon diejenigen, die sich selbst als einer „Querdenker-Bewegung“ zugehörig verstehen, seriöserweise politisch keiner einheitlich klaren, klassischen politischen Richtung zugeschrieben werden können, sondern eher buntschillernd auftreten. Aber das ist ein anderes Thema, und Differenzieren verbietet sich logischerweise beim Aufbau eines Generalverdachts.
„Mitverantwortung für die Radikalisierung“
Dazu passt, dass die meisten Medien bald auch von einer Nähe des Mörders zur AfD berichten konnten. Zumindest sei er offenbar auch deren Seiten gefolgt. Querdenker, AfD und ein Mord, da konnten diejenigen, die sonst nach jeder islamistischen Gewalttat vor deren Instrumentalisierung warnen, genau dieser Versuchung nicht widerstehen. Von entsprechenden Reaktionen berichtete beispielsweise der Deutschlandfunk am Donnerstag:
„Nach dem Mord an einem 20-Jährigen in Idar-Oberstein geben Politiker der AfD eine Mitverantwortung für die Radikalisierung der sogenannten Querdenker-Szene. Der innenpolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Kuhle, sagte dem Redaktionsnetzwerk Deutschland, schon der Mörder des Kasseler Regierungspräsidenten Lübcke habe für die AfD Plakate aufgehängt und der Partei Geld gespendet.
Der Täter aus Idar-Oberstein habe die AfD in Sozialen Medien unterstützt. Indem Rechtsextremisten während der Corona-Pandemie ihre wirren Diktatur-Vorwürfe verbreiteten, trügen sie eine Mitverantwortung für die Radikalisierung bestimmter Bevölkerungsgruppen.
Die innenpolitische Sprecherin der SPD, Vogt, meinte, die AfD habe seit ihrem Einzug in den Bundestag erheblich dazu beigetragen, dass Hass und Hetze auf den Straßen und in Sozialen Medien enorm angestiegen seien. Die Partei habe schnell das Potenzial erkannt und die Querdenker-Szene für sich genutzt. […]
Der stellvertretende Vorsitzende der Union-Bundestagsfraktion, Frei, tritt dafür ein, die Querdenken-Gruppierung zu überwachen und den Kampf gegen illegale Waffen zu verschärfen. Der CDU-Politiker sagte im Deutschlandfunk (audio-link), es reiche nicht, nur die Präventionsarbeit zu stärken. Wichtiger sei eine scharfe strafrechtliche Verfolgung solcher Hass-Taten. Dafür habe die Bundesregierung die Voraussetzungen geschaffen. Frei sagte außerdem, eine Überwachung der Querdenker durch den Verfassungsschutz sei notwendig, da es in diesem Bereich eine starke Radikalisierung gebe. Auch er gab der AfD eine Mitschuld daran. Die Partei setze auf Ressentiments und leiste damit ganz offensichtlich keinen Beitrag zur Befriedung. Allerdings könne man die AfD nicht für alles verantwortlich machen.[…]
Der Präsident des thüringischen Verfassungsschutzes, Kramer, betonte, zwar dürften nicht alle Impfgegner und Querdenker kriminalisiert werden. Allerdings versuchten Vertreter des rechten Spektrums seit Jahren, mit Emotionen auf Stimmenfang zu gehen und die Gesellschaft zu spalten, führte er im Deutschlandfunk aus.“
Reden wir jetzt, angesichts des Mordes an Alexander W., nicht davon, wer alles seit vielen Monaten an der Spaltung der Gesellschaft arbeitet und den Einfluss der sich radikalisierenden autoritären Ideen politischer Verantwortungsträger auf das gesellschaftliche Klima. Interessant ist, dass neben AfD und Querdenkern auch gleich noch „Impfgegner“ in die Reihen derjenigen verschoben werden, die sich für den Mord moralisch mitverantwortlich zu fühlen haben. Wobei die Vertreter der Corona-Politik nicht nur Impfgegner meinen, wenn sie Impfgegner sagen, sondern jeden, der sich nur ungern lediglich im Eilverfahren getestete Substanzen injizieren lassen möchte. Das ist bekanntlich ein riesiger Unterschied, denn unter Letzteren gibt es viele, die einen ansonsten gut ausgefüllten Impfpass besitzen.
Todesschuss des Vaters
Aber kommen wir zurück auf den Mord an Alexander N.. Diese Mordtat ist selbstverständlich durch nichts zu rechtfertigen. Doch es gibt Umstände, die an der bislang durch die Medien insinuierten vorrangig politischen Motivation des Täters einige Zweifel aufkommen lassen. So meldete rtl.de:
„Über die Lebenssituation von Mario N. ist fast nichts bekannt – nur, dass er als Selbstständiger in der IT-Branche arbeitet. Im letzten Jahr geriet offenbar das Familienleben von N. aus den Fugen: Nach Informationen der Rhein-Zeitung (Koblenz) hat sein Vater im März 2020 versucht, seine Ehefrau – die Mutter des jetzigen mutmaßlichen Täters – zu erschießen. Die damals 72-Jährige überlebte schwer verletzt, der 70-Jährige erschoss sich anschließend selbst.
Das Geschehen bestätigten gut informierte Kreise der "Rhein-Zeitung". Ob auch die Tatwaffe und weitere Waffen, die im Haus des Verhafteten in Idar-Oberstein gefunden wurden, aus dem Bestand des Vaters stammen, wollte die Staatsanwaltschaft Bad Kreuznach nicht bestätigen. Oberstaatsanwalt Kai Fuhrmann verwies auf die laufenden Ermittlungen. Der 49-jährige Todesschütze sitzt wegen Mordverdacht in Untersuchungshaft.“
Dass diese Vorgeschichte einen größeren Einfluss auf das Verhalten des Täters gehabt haben könnte als AfD, Querdenker oder Impfgegner, liegt zumindest nahe. Dass der Mordversuch und der Selbstmord des Vaters mit dem Beginn des ersten Lockdowns zusammenfiel, dürfte die Verarbeitung dieser Tat durch den Sohn nicht erleichtert haben. Diejenigen, die jetzt so schnell beim Zuschreiben einer Mitschuld sind, hätten sich vielleicht an ihre eigenen Warnungen vor der Instrumentalisierung von Mordtaten erinnern sollen. Manchmal kann es sich auch bei einem aufsehenerregenden Mord tatsächlich um einen ganz individuellen Einzelfall handeln.