Sylke Kirschnick, Gastautorin / 04.08.2019 / 13:00 / Foto: pixabay / 11 / Seite ausdrucken

Wer ist „wir“, wer sind „die“?

Von Sylke Kirschnick.

Der Historiker Jan Plamper hat ein Plädoyer für die Migration geschrieben. Sein Buch „Das neue Wir. Warum Migration dazugehört. Eine andere Geschichte der Deutschen“ konturiert in sieben von acht Kapiteln die Einwanderung nach Deutschland seit 1945. In jedem Jahrzehnt nach Ende des Zweiten Weltkriegs wanderten Menschen nach Deutschland ein. Für die heutige Bundesrepublik ist Immigration, so das gut belegte Fazit, statt einer Ausnahme ein Normalfall: Von den Vertriebenen oder Umsiedlern – Plamper betrachtet sie als Migranten – über die Gastarbeiter in der alten Bundesrepublik und die Vertragsarbeiter in der ehemaligen DDR, mithin die Arbeitsmigranten, bis hin zu den Asylbewerbern. Das Jahr 1989 bildet eine politisch-historische Zäsur. In den 1990er Jahren kamen Russlanddeutsche und Juden aus der ehemaligen UdSSR dazu. Das letzte Kapitel ist der „Willkommenskultur“ von 2015 gewidmet. Die vietnamesischen Boat People erhielten kein eigenes Kapitel. Im Anhang gibt es einen umfangreichen informativen Apparat mit Daten, Fakten und Anmerkungen. Plamper hat zahlreiche Archive, Erfahrungsberichte, zivilgesellschaftliche Akteure, aber auch Migrationsforscher wie Klaus J. Bade konsultiert. Dagegen verzichtete er auf die Perspektiven von Einwanderern mit doppelter Fachexpertise wie Lale Akgün, Bassam Tibi, Ralph Ghadban, Necla Kelek oder Seyran Ates.

Das Fehlen dieser Stimmen macht sich bereits im Vorwort bemerkbar. Plamper vermischt die Begriffe Integration, Assimilation und Akkulturation miteinander, die er unterschiedslos verwirft, ohne sie in ihren historischen und aktuellen Gehalten jeweils geklärt zu haben. Das von Plamper gebrauchte plastische Bild von der Salatschüssel, die nötig ist, um den Diversitäten einen gemeinsamen Rahmen zu geben, ist ungeachtet ihrer Griffigkeit irreführend: Erstens gibt es diese Salatschüssel, um im Bild zu bleiben, bereits in Gestalt des Grundgesetzes, das Autochthone wie Einwanderer gleichermaßen zu akzeptieren haben (weder das NSU-Trio noch der Mörder des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke einschließlich ihrer Netzwerke waren und sind integriert). Die im Buch angeführte „deutsche Leitkultur“-Debatte, die der CDU-Politiker Friedrich Merz im Jahr 2000 angestoßen hatte, war, da ist dem Autor zuzustimmen, ebenso unnötig wie unergiebig.

Doch wäre gerade hier eine Diskussion der Thesen des Politikwissenschaftlers Bassam Tibi angebracht gewesen, ganz einfach weil er den Begriff der „Leitkultur“ ein paar Jahre zuvor in einem ungleich nüchterneren Sinn eingeführt hatte. Die liberale Demokratie ist der Kern von Tibis Thesen. Diskutiert werden sollte, wie Authochtonen und Einwanderern vermittelbar ist, dass Demokratie kein Automatismus, kein Selbstläufer ist, sondern errungen wurde und verteidigt werden muss. Zweitens wandern Migranten heute in eine funktionierende, sich im Rahmen des Grundgesetzes fortwährend wandelnde Infrastruktur ein. Ihre Regeln, die für Authochtone wie Migranten gleichermaßen verbindlich sind, können nicht wie in einer Paarbeziehung unausgesetzt neu ausgehandelt werden, wie Plamper gelegentlich suggeriert.

Das ist drittens auch in klassischen Einwanderungsländern wie den USA, Kanada oder Australien unüblich, deren Einwanderungsregelungen selektiv und restriktiv sind. In diesen Ländern sind mit Ausnahme der indigenen Bevölkerung alle – die Afroamerikaner zudem zumeist unfreiwillige – Einwanderer, was auf die europäischen Nationalstaaten nicht zutrifft. Die Feststellung, alle Deutschen seien Migranten, wenn man historisch nur weit genug zurückgeht, mag rassistischen und nationalistischen Positionen den Boden entziehen, hat sonst aber wenig Aussagekraft. Historische Analogien laufen oft ins Leere, zumal Migration an jeweils aktuelle ökonomische, politische, soziale und weitere Kontexte und Faktoren geknüpft ist. Für die Bundesrepublik mag die Zuwanderung qualifizierter Fachkräfte, die sie dringend benötigt, aktuell profitabel sein, doch für die Demokratisierung und die Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit in den Herkunftsländern ist das problematisch (das gilt gleichfalls für die EU-Binnenmigration).

„Plusdeutsche“ oder „Deutsche plus“

Plamper betrachtet Migration vorrangig unter dem Aspekt einer kulturellen Bereicherungslogik. Diese Komplexitätsreduktion erweist sich als Holzweg. Ein Rekurs auf Ergebnisse der internationalen Migrationsforschung, etwa eines Paul Collier, hätte den Blick erweitern können. So aber verfestigt sich der Eindruck, dass es Plamper vorrangig um das kulturelle Selbstverständnis der Bundesrepublik geht. Dazu passt sein undurchdacht wirkender Vorschlag, Deutsche mit Migrationshintergrund als „Plusdeutsche“ oder „Deutsche plus“ zu bezeichnen. Entweder ist das Deutsche kulturell hybrid – was faktisch nie anders war, weil die kulturellen Homogenitätsfantasien von Nationalisten und der NS-Diktatur ein normatives Ideal und eine mörderische Durchsetzungspraxis gewesen sind – oder aber man setzt eine homogene deutsche Kultur als faktische voraus (wie die AfD und Thilo Sarrazin) und verewigt sie dadurch, dass alles, was an Kulturellem hinzukommt, als eine Art Appendix „plus“ gekennzeichnet wird. Nach letzterer Logik hätte sich die deutsche Kultur nie verändert, sondern lediglich „verzusätzlicht“.

Kultur, unabhängig davon, wie weit oder eng man sie definiert, ist im Vergleich zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit migrationspolitisch nicht sonderlich relevant. Denn nur der politisch-juristische Rahmen garantiert Migranten durchsetzbare Rechte. Rechtsstaatlichkeit ersetzt das Recht des Stärkeren durch die Stärke des Rechts. Dazu gehört auch die Rückführung abgelehnter Asylbewerber. Der Verein Pro Asyl ist zum Beispiel ein wichtiger Akteur in der Bundesrepublik, weil westliche Demokratien ihre Stärke auch aus ihrer Kritikfähigkeit beziehen und Pro Asyl für die gesellschaftliche Akzeptanz der Gewährung von Asyl wirbt, die eine wertvolle Errungenschaft ist. Doch ist er weder eine rechtsstaatliche Instanz noch demokratisch legitimiert. Auch der Slogan „Kein Mensch ist illegal“ (klar: nicht der Mensch, sondern der Grenzübertritt ohne Pass oder Visum ist es) aus dem Umkreis zivilgesellschaftlicher Initiativen, die sich für Änderungen der Bleiberechtsregelungen einsetzen, sowie das Empfinden, dass das geltende Asylrecht ungerecht sei, mögen ehrenwert sein, kollidieren aber selbst mit aktuellen Urteilen des Europäischen Gerichtshofes. Plampers Schlüsse und Darstellungen bewegen sich durchweg auf dieser pathetischen Ebene.

Schwer nachvollziehbar ist Plampers Denken in Kategorien wie unten/oben: Die Zivilgesellschaft ist in einer liberalen Demokratie, in der beinahe jeder Staatsbürger das aktive und passive Wahlrecht besitzt und folglich parlamentarische Ämter ausüben kann, kein „Unten“, das im Gegensatz zu einem unerreichbaren „Oben“ stünde. Im besten Fall korrigieren, ergänzen oder inspirieren sich beide Ebenen. Die „Willkommenskultur“ war schon deshalb keine durchsetzungsstarke Bewegung von „unten“ gegen „oben“, weil es Kanzlerin Angela Merkel gewesen ist, die die Grenzöffnung vollzog. Über diesen Akt wie über die „Willkommens“-Euphorie kann man verschiedener Ansicht sein, ohne deshalb einem „linken“ oder „rechten Lager“ zugeordnet werden zu müssen, wie Plamper das glaubt und praktiziert. Wortmeldungen wie die des Historikers Jörg Baberowski, der auf der Unterscheidung zwischen Migranten, Bürgerkriegsflüchtlingen und politisch verfolgten Asylsuchenden bestand, aber auch des Philosophen Rüdiger Safranski, die Plamper beide in eine Reihe mit fremdenfeindlichen Äußerungen von AfD oder noch weiter rechts stehenden Parteien stellt, sind so wenig migrantenfeindlich wie die begründeten Befürchtungen mancher jüdischer Gemeinden.

Ganz außen vor bleiben bei Plamper kritische Stimmen von Deutschen mit Migrationshintergrund, von Flüchtlingshelfern oder Skeptikern aus dem linken Milieu. Denn andernfalls würde sich zeigen, dass Migration weder die vordringlichste Aufgabe ist, die westliche Länder gegenwärtig zu stemmen haben, wenn sie liberale Demokratien bleiben wollen, noch ein Thema ist, an dem sich die Geister nach pro oder contra scheiden lassen. Die Frage ist nicht, ob Migration dazugehört oder nicht, sondern wie sie das tut. Eine vernünftige Debatte darüber fehlt im heutigen Deutschland und das ist kein Ruhmesblatt für den bundesrepublikanischen Pluralismus. Stark ist Plampers Buch in der Überblicksdarstellung von Einwanderung nach Deutschland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In der Fokussierung auf den kulturellen Aspekt von Migration und in der ideologischen Verzerrung der jüngsten Migrationsdebatten hat es seine Schwächen.

Diese Rezension erschien zuerst auf literaturkritik.de

Dr. Sylke Kirschnick schreibt an einer Habilitation über Judenhass und Orientalismus bei der Antisemitismusforscherin Prof. Dr. Dr. h.c. Monika Schwarz-Friesel an der TU Berlin. Von ihr sind erschienen der Sachbildband „Manege frei! Die Kulturgeschichte des Zirkus“ (Theiss-Verlag 2012), Anne Frank und die DDR - Politische Deutungen und persönliche Lesarten des berühmten Tagebuchs“ (Christopher Links Verlag 2009) sowie „Tausend und ein Zeichen“ über Else Lasker-Schülers Orientfantasien um 1900 (Verlag Königshausen u. Neumann 2007).

Foto: pixabay

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Andreas Rühl / 04.08.2019

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