JD Vance und andere Akteure im Umfeld von Trumps MAGA-Bewegung zeigten sich in der Vergangenheit von den Ideen des radikalen rechten Denkers Curtis Yarvin beeinflusst. Wer ist der Mann?
Tagesschau, New York Times und der redselige Kioskverkäufer um die Ecke lassen es uns wissen – aus hundert Quellen erfahren wir täglich, welcher Faschismus durch Trump droht, was Elon Musk wieder im Department of Government Efficiency (DOGE) verbrochen hat, und wer wohl bald nicht mehr wählen darf. Gil Scott-Heron hatte 1971 in einem Song noch behauptet: „The Revolution will not be televised.“ Auch Soul-Poeten sind fehlbar.
Zu denken geben sollte es einem aber vielleicht, wenn die gesamte Presse im Zuge der faschistischen Übernahme weiter berichten darf. Ausgestreckter Arm hin oder her: Ist Musk doch kein Space-Hitler und DOGE keine Reichskulturkammer?
Selbstverständlich handelt es sich bei DOGE nicht um Faschismus, doch hinter dem Vorgehen der Trump-Regierung steckt durchaus mehr als eine schnöde Schlankheitskur für die US-Bürokratie. DOGE operiert in einer anderen Umlaufbahn als das, was man etwa in Deutschland an visionsloser Politik gewohnt ist. Trump entmachtet eine Oligarchie.
Man kann es schwer leugnen: Musks DOGE-Team scheint eine Menge zu verpatzen. Aber ist das bei Umsturzversuchen erstaunlich? Weil die herrschende Schicht Amerikas sich, wenig überraschend, mit aller Kraft wehrt, kann DOGE nicht frei walten. Der US-Schattenstaat weiß, wie man austeilt.
Im Podcast von Joe Rogan hat Musk den Kampf beschrieben, der in den USA tobt: „Die Realität ist, dass unsere gewählten Amtsträger im Verhältnis zur Bürokratie nur sehr wenig Macht haben […] DOGE ist eine Bedrohung für die Bürokratie. Es ist die erste echte Bedrohung. Normalerweise verschlingt die Bürokratie Revolutionen zum Frühstück.“
Brillanter Hack
Musk fährt schwere Geschütze auf: Unter seiner Leitung hat DOGE tausende Bundesangestellte entlassen und schafft ganze Regierungsbehörden wie die U.S. Agency for International Development (USAID) und das Consumer Financial Protection Bureau (CFPB) ab. Um den Widerstand der Behörden zu brechen, entwickelten DOGE-Mitarbeiter eine Reihe von Hacks.
Einer der gewieftesten Tricks: Musks Team hat den ursprünglich von Barack Obama ins Leben gerufenen United States Digital Service (USDS) geentert. Die USDS-Taskforce wurde 2014 gegründet, um für die Website des Affordable Care Acts (Obamacare) schlagkräftig Ressourcen der Regierung nutzen zu können. Per Executive-Order machte Trump aus dem alten USDS jetzt den United States DOGE Service (kurz ebenfalls: USDS).
Musk nutzte diese Sicherheitslücke in Hackermanier aus und verschaffte DOGE dadurch die Kontrolle über wichtige Server des US-amerikanischen Verwaltungsapparats – und kann sie bei Bedarf abschalten, um Gegenwehr zu unterbinden.
In den USA werden zwar auch Mechanismen der Steuerverschwendung demontiert, die dazu führen, dass Washington eher auf LGBTQ-Awareness in Lesotho setzt als auf Brückenbau in Pittsburgh. Im Fadenkreuz befindet sich jedoch vor allem der Deep State als Freiheit und Fortschritt fressendes Ganzes. Für Musk ist diese Revolution nichts Geringeres als ein Scheideweg in der Menschheitsgeschichte. Wie kommt der Mann darauf?
Rechter Philosoph der Stunde
Zu sagen, die MAGA-Bewegung misstraue dem US-Staat in seiner jetzigen Form, wäre untertrieben. Ihr Argwohn reicht tiefer: Nicht wenige unter den neuen Rechten in Amerika glauben, dass es sich bei den USA und anderen westlichen Ländern gar nicht mehr um echte Demokratien handelt – und dass dies strukturelle Gründe hat. Solche Gedanken kann und darf man gefährlich finden. Doch wie auch immer man sie einordnet: Es hilft, zunächst zu verstehen, was sie antreibt.
Hier kommt Curtis Yarvin ins Spiel – Software-Entwickler und rechter Philosoph der Stunde. In seinen Blogs (früher „Unqualified Reservations“, heute „Gray Mirror“) hat Yarvin das Misstrauen vieler MAGA-Unterstützer theoretisch ausformuliert. Seit 2007 analysiert er blitzgescheit diverse Fehlentwicklungen des Westens.
Zwar denkt Yarvin zu radikal, um mehr als eine MAGA-Randfigur darzustellen, doch unter seinen Lesern finden sich Schlüsselfiguren wie US-Vizepräsident JD Vance. Hightech-Investor Peter Thiel hat ihn finanziell gefördert; Marc Andreessen, Internet-Pionier und DOGE-Berater, zählt ihn zu seinen Freunden. Geschätzt wird er auch von Michael Anton, derzeit Director of Policy Planning im Außenministerium der USA. Yarvins Ideen ziehen weite Kreise.
Die Kathedrale
Es gibt keine Belege dafür, dass Musk und Yarvin persönlichen Kontakt hatten. Es zeigen sich aber auffällige Parallelen zwischen Musks politischen Maßnahmen und Yarvins theoretischen Überlegungen. Musks Bemerkung zur relativen Machtlosigkeit von Politikern fügt sich hier nahtlos ein.
Yarvin argumentiert, dass Wahlen nur die Fassade einer tieferliegenden Herrschaftsstruktur sind. Während Präsidenten und Parteien wechseln, bleibt das ideologische Fundament der renommierten Institutionen des Landes unangetastet. Tatsächlich gibt, so Yarvin, ein Netzwerk aus Journalisten und Professoren informell die Richtung vor, in die sich dann Politiker, NGOs und Bürokraten im öffentlichen Dienst aufmachen.
Dieses Netzwerk formt die politische Realität, indem es definiert, was als vernünftig und akzeptabel gilt. Und besonders: Welche Meinungen Prestige bringen und dadurch den Status desjenigen erhöhen, der sie teilt.
Bei Yarvin heißt dieses Machtgefüge „Kathedrale“. Ähnliche Konzepte finden sich auch bei James Burnham, Nick Land und selbst linken Denkern wie Antonio Gramsci; Yarvins Begriff bezeichnet allerdings nicht nur eine herrschende Elite oder einen ideologischen Überbau, sondern beschreibt eine dezentrale Ordnung, die sich qua ideologischer Prägung eigenständig fortpflanzt. Mit dieser Idee formulierte er einen Grundgedanken der sogenannten „Dunklen Aufklärung“, auch „Neoreaktionäre Bewegung“ genannt (beides Etiketten, die er ablehnt).
Die Kathedrale ist ein sich selbst organisierendes System, in dem niemand Befehle von oben erhalten muss, um es in Gang zu halten. Die Meinungen, an denen sich die Eliten orientieren, entstehen Bottom-up. Mal werden sie „Wokeness“ oder „Progressivismus“ genannt, mal „Postmoderne“ oder „Kulturmarxismus“ – gemein ist ihnen stets, dass es kein Politbüro gibt, denen sie ihre Existenz verdanken.
Yarvin schreibt: „Die Kathedrale ist lediglich eine Kurzform für Journalismus plus akademischer Betrieb – in anderen Worten: für die intellektuellen Institutionen, die im Zentrum der modernen Gesellschaft stehen, ganz so, wie die Kirche die intellektuelle Institution im Zentrum der mittelalterlichen Gesellschaft war.“
Rote Pille
Personen, die Teil dieses emergenten Systems sind, handeln in dieselbe ideologische Richtung, weil es die eigene Karriere fördert. In der Kathedrale und ihrem Wirkungsbereich zahlen sich opportune Meinungen wortwörtlich aus. Alle, die sich um ihren Kontostand keine Sorgen machen müssen, freuen sich außerdem über Einladungen zu den coolsten Partys.
Wahlen allein können an dieser Systemlogik nichts ändern, denn die eigentliche Macht liegt nicht bei einzelnen Politikern. In Anlehnung an eine Szene aus dem Film „Matrix“ hat Yarvin für Menschen, denen derartige politische Realitäten bewusst werden, den Begriff „red-pilled“ popularisiert.
Wer seine rote Pille geschluckt hat, dem könnte auch in Deutschland einiges einleuchten, was sonst keinen Sinn ergibt. Vor Kurzem wunderten sich manche, dass Friedrich Merz in einer Pressekonferenz mit seinem Konzept zur Grenzsicherung bereits zurückruderte, noch bevor die Koalitionsverhandlungen überhaupt begonnen hatten. Man fragte sich: Warum sollte jemand, auch bloß sprachlich, Positionen aufgeben, bevor er am Verhandlungstisch sitzt?
Die Antwort weist, folgt man Yarvin, auf eine demokratische Schieflage hin: Merz verhandelte bereits – mit den Pressevertretern. Selbst ein (möglicher) Bundeskanzler muss die Medien überzeugen, weil Journalisten Ansichten und Handlungen des Verwaltungsapparats, der NGOs und des akademischen Betriebs prägen. Ohne den Beistand dieser Gruppen wird man als Politiker seine Macht heute schnell wieder los.
Das Problem: Die Bürger haben die Redaktionen von Spiegel, Tagesschau und FAZ genauso wenig gewählt wie die Aktivisten der NGOs, die meisten Beamten im öffentlichen Dienst oder ideologisch einflussreiche Professoren. Sie handeln, ohne dass sie dem Wähler Rechenschaft ablegen müssen.
Es ist diese außerparlamentarische Machtfülle, die Yarvin im Blick hat. Den Hochschulen und Medien kommen wesentliche Funktionen zu: „Professoren und Journalisten besitzen Souveränität, weil ihnen endgültige Entscheidungen anvertraut wurden und es keine übergeordnete Macht gibt. Nur Professoren können die Leitlinien der Politik bestimmen – das heißt, die Strategie der Regierung festlegen; nur Journalisten können die Regierung zur Rechenschaft ziehen – das heißt, die Taktik der Regierung steuern. Strategie plus Taktik ergibt Kontrolle.“
Yarvin würde voraussagen: Ohne ein deutsches DOGE und also einen Sturm auf die deutsche Kathedrale ist daher mit keiner wirklichen politischen Wende zu rechnen. Die Brandmauer regelt.
Macht des Schwarms
Wo Verschwörungstheoretiker Klaus Schwab, George Soros oder gleich „die Juden“ als übermächtige Drahtzieher wittern, weiß Yarvin: Eine dunkle Intrige ist unnötig. Vielmehr agiert die herrschende Schicht eben in einer Struktur, die durch unausgesprochene Konsensbildung und soziale Selektion Form annimmt – und von der größtenteils selbst ihre Profiteure nichts ahnen.
Es ist schwer, Siege gegen dieses System ohne Zentrum zu erringen. Erstens weil es nie ausreicht, bestimmte Journalisten, Professoren oder Akteure im öffentlichen Dienst unschädlich zu machen, und weil zweitens kein geheimer Masterplan aufgedeckt werden kann. Eine Oligarchie, die sich für eine lupenreine Demokratie hält, ist mit Bordmitteln nicht zu entlarven.
Stellen Sie sich einen Vogelschwarm vor. Auch ohne Anführer ändert der Schwarm seine Flugrichtung, lässt Raubvögel ins Leere stoßen oder passt sich dem Wind an. Es wirkt nur von außen so, als gäbe es eine Art Steuermann, der ihn lenkt. In der Realität orientiert sich jeder einzelne Vogel an seinen direkten Nachbarn, reagiert auf subtile Signale und passt sich an. Trotzdem entsteht eine kohärente Bewegung.
Ideologisches Ökosystem
Soziale Selektion übt in Yarvins Kathedrale die stärkste Regelkraft aus. Sie folgt den Prinzipien kultureller Evolution und hält den Schwarm auf Kurs: Nicht die kompetentesten Individuen setzen sich durch, sondern jene, die sich optimal an das ideologische Ökosystem anpassen. In der Kathedrale triumphieren also nicht unbedingt die innovativsten oder effizientesten Akteure, sondern solche, denen es gelingt, die dominanten Narrative am geschmeidigsten zu reproduzieren.
Wer den Konsens hinterfragt, wird aussortiert. In diesem System, das den Geist der Bürokratie atmet, sticht das Denken in Vorgängen das Denken in Zielen aus. Mitspielen kann jeder, der die impliziten Direktiven befolgt. Zum Besseren ändern muss sich gar nichts.
„In der Mathematik besteht der einzige Selektionsvorteil, den eine Idee haben kann, darin, dass es sich bei ihr um gute Mathematik handelt“, schreibt Yarvin. „Gute Mathematik schlägt schlechte Mathematik.“ In der Kathedrale verhalte es sich mit dem Selektionsvorteil von Ideen durchweg anders. Hier würden Menschen, die eine Idee übernehmen, nicht dadurch profitieren, dass diese Idee wahr ist. Es gehe in erster Linie darum, dass die Idee „ihnen mehr Arbeit und mehr Macht verschafft“.
Abwehrstrategien
Ein Vogelschwarm entkommt Räubern durch schnelle Reaktion und präzise Synchronisation. Eine der wirksamsten Abwehrstrategien des ideologischen Netzwerks, das Yarvin schildert, besteht dagegen in aggressiver PR-Arbeit. Es operiert als technokratische Verwaltung, die ihre Macht nach außen durch vermeintlich neutrale Expertisen sichert.
Die Institutionen dieses Machtgefüges eint besonders das Image, nicht ideologisch, sondern „wissenschaftlich fundiert“ zu handeln. In der Welt der Kathedrale existieren keine alternativen politischen Konzepte, sondern nur richtige oder falsche Antworten, festgelegt durch Expertennetzwerke.
Wer den Mainstream kritisiert, wird nicht als jemand gesehen, der bloß eine andere Meinung hat, sondern als irrational und gefährlich. Die allzu oft nur vorgetäuschte Wissenschaft der Experten lässt keine anderen Schlüsse zu: Die Klimaerwärmung bedeutet unseren Untergang, die Corona-Lockdowns waren alternativlos und muslimische Migranten sind nicht gewalttätiger als australische Austauschstudenten.
Entropie mit PR-Team
Spiegel, Greenpeace, FU Berlin und die SPD sind formal voneinander unabhängige Organisationen, die stark abweichende Meinungen äußern könnten. Dass dies durch die Dynamiken der Kathedrale verhindert wird, ist das eine. Es kommt aber noch schlimmer.
Weil das System, in das solche Organisationen eingebettet sind, nicht primär nach Wahrheit oder Leistung selektiert, sondern nach Konformität, entsteht eine sich selbst verstärkende Feedback-Schleife. Über Generationen hinweg werden die Institutionen deshalb zum einen in ihren Meinungen homogener, zum anderen bildet sich eine evolutionäre Drift in Richtung immer extremerer Positionen.
Wohin das führt, lässt sich in Vorstellungen von „rassistischer Mathematik“ oder von „schwangeren Männern“ genauso entdecken wie in den suizidalen Ansichten der „Queers for Palestine“ oder dem Wunsch nach offenen Grenzen.
Da es keine Sollbruchstelle gibt, die solchen Radikalisierungen rechtzeitig ein Ende bereiten könnte, mündet die Feedback-Schleife im Niedergang der Gesellschaft. Der sogenannte Progressivismus entpuppt sich als Entropie mit PR-Team. Er agiert in Form eines ideologischen und bürokratischen Systems, das Strukturen auflöst, aber keine stabile Ordnung mehr schafft. Unter ständig neuen Namen und dem Deckmantel des Fortschritts erodieren Traditionen und Werte, aber auch die Institutionen selbst.
Medien, Hochschulen und Politik verkaufen diesen Zerfall derweil als moralische Notwendigkeit – Vielfalt, Toleranz, Gerechtigkeit! – und brandmarken jeden Widerstand als reaktionär. Wir kennen es aus Deutschland: Sobald der linke Mainstream wahrnimmt, dass Stimmen lauter werden, die ihm widersprechen, folgt Gegen-Rechts-Demo auf Gegen-Rechts-Demo – häufig organisiert von NGOs, die staatliche Gelder erhalten.
Sogar in drängendsten Angelegenheiten sorgt der Progressivismus auf diese Weise dafür, dass seinem Namen zum Trotz nichts vorangeht. So dringlich die Aufgabe auch ist, wenn sie die herrschende Ideologie in ein unvorteilhaftes Licht rücken könnte, wird sie entweder zur Nichtigkeit oder zu Faschismus erklärt.
Greifen wir einmal die in Deutschland derzeit bedeutendste Frage heraus, um die Mechanik der Kathedrale zu illustrieren: Wie verhalten wir uns gegenüber dem Zustrom von Millionen Migranten?
In der Bundesrepublik gibt es laut Ausländerzentralregister pro Jahr, nimmt man den Durchschnitt der vergangenen zehn Jahre, eine Nettozuwanderung von 500.000 Menschen. Das entspricht der Einwohnerzahl von Hannover. Ein Großteil der Migranten stammt aus islamischen Failed States wie Syrien oder Afghanistan und hat eine mittelalterliche Moral im Gepäck.
Jedem, der weiß, welche Faktoren ein Gemeinwesen prägen, muss angesichts dieser Daten klar sein: Wenn die Migrationspolitik nicht drastisch angepasst und in weiten Teilen rückgängig gemacht wird, gleitet Deutschland in die Dysfunktion. Uns steht ein gesamtdeutsches Neukölln ohne Länderfinanzausgleich bevor.
Demokratie unerwünscht
Natürlich regt sich in der Bevölkerung Widerstand gegen solche Zukunftsaussichten. Die Erfolge der AfD belegen dies. Hier schreitet nun aber die Kathedrale zur Tat und verschließt ihre Tore vor dem Volk.
Sie werden es bemerkt haben: Anstatt Veränderungen in der Migrationspolitik umzusetzen, verteidigen Politiker quer durch die Altparteien lieber „unsere Demokratie“, indem sie Parteien, die laut unserer Demokratie demokratisch sind, an ihrer demokratischen Arbeit hindern. Unterstützung erhalten sie von NGOs, Universitäten und der Presse: Es hagelt Demos, Studien und Leitartikel. Wählen zwecklos, weil Brandmauer. Deren Demokratie duldet keine Konkurrenz.
Musks Rede vom Scheideweg für die Menschheit wirkt, zieht man all dies in Betracht, nicht alarmistisch. Yarvin würde ihm sowieso beipflichten. Das Desaster ist greifbar. Auch in Deutschland lässt sich beobachten, wie langfristig destabilisierend das Weltbild der herrschenden Schicht ist. Dafür muss man kein Anhänger von Yarvin sein und nicht Zeuge eines Messermords werden. Der Alltag reicht.
Die Älteren wissen, dass Wachdienste in Supermärkten, Anti-Terror-Poller vor Weihnachtsmärkten und Ausweiskontrollen in Schwimmbädern neue Phänomene sind. Der Haken: Ein Land, das nicht für innere Sicherheit sorgen kann, wird kaum in Wirtschaft, Technik oder Wissenschaft glänzen. „Made in Germany“ – ein Warnhinweis.
Regime des CEO
Yarvins Beobachtungen zu Politik und Kultur sind fast immer geistreich, oft mutig und mitunter amüsant. Seine Lösung für das Problem der Kathedrale fällt jedoch ähnlich radikal aus wie die Anschauungen der Kathedrale selbst: Er glaubt nicht nur, dass wir in keiner Demokratie leben, sondern hält dies für angebracht.
Demokratie erscheint bei Yarvin als eine mit inhärenten Mängeln behaftete Regierungsform, die instabil ist und ohnehin rasch in oligarchische Verhältnisse zerfällt. Um diese Verhältnisse zu vermeiden, plädiert er dafür, den Staat so autoritär wie ein Unternehmen zu führen.
Statt Wahlen abzuhalten, soll ein kompetenter CEO an der Spitze des Landes stehen, der nicht dem Volk, sondern Anteilseignern oder einem Aufsichtsrat gegenüber rechenschaftspflichtig ist. Den besten Beleg für die Sinnhaftigkeit dieser Regierungsform sieht er darin, dass fast alle effizienten Organisationen – vom Restaurant bis zum Autokonzern – nicht demokratisch, sondern strikt hierarchisch geführt werden.
Kritik statt Hausdurchsuchung
Nur eine verschwindend kleine Minderheit in der MAGA-Bewegung teilt Yarvins antidemokratische Einstellung. Musk und Vance, die immer wieder einen Mangel an Demokratie beklagen, folgen ihm offenkundig nicht. Vor allem sind es Yarvins Problembeschreibungen, die auf Zustimmung stoßen.
Nach allem, was wir bislang wissen, ist DOGE der Versuch, demokratische Kontrolle dorthin zurückzubringen, wo sie systematisch zurückgedrängt wurde. Das Ziel besteht für die Trump-Regierung nicht darin, sofort ein neues System zu installieren. Es geht erst einmal darum, ein zutiefst dysfunktionales loszuwerden. Auf dem Weg dorthin liegen große Hindernisse. Yarvin zeigt plausibel auf, wo mit ihnen zu rechnen ist.
Es spricht für den freiheitlichen Geist Amerikas, dass Yarvins Analysen zwar von vielen kritisch beurteilt werden, er aber keine Hausdurchsuchungen befürchten muss. In zahlreichen europäischen Ländern wäre das anders. Amerikanische Beobachter halten seine Lösungsvorschläge oft für abenteuerlich – rechtlich gegen ihn vorzugehen, käme ihnen nicht in den Sinn.
Wo es ums Ganze geht
Europa täte gut daran, sich zu erinnern: Meinungsfreiheit wurde nicht geschaffen, um darüber zu streiten, ob Michael Jackson mehr Talent als Prince hatte. Das schaffen wir auch so. Meinungsfreiheit muss, wenn sie ihre Aufgabe erfüllen soll, da greifen, wo es schmerzt. Sie ist gerade dort unerlässlich, wo es ums Ganze geht.
Nur wer die Mechanismen der Macht offenlegen und kritisieren darf, kann sie ohne Gewalt überwinden, wenn sie sich als schädlich erweisen: Echte Freiheit gedeiht außerhalb von Brandmauern. Im besten Fall sind Initiativen wie DOGE ein Mittel, das solche friedlichen Revolutionen wieder möglich macht.
Ob mit oder ohne Zentrum – in fortschrittlichen Gesellschaften sollte es keinem Herrschaftssystem obliegen, dem Volk zu diktieren, was es für wahr und was für falsch zu halten hat. Ideologische Kathedralen schaden uns. Woher wissen wir das? Weil es einmal als anstößig galt zu glauben, dass die Erde um die Sonne kreist.
In seinem Bestseller „Hillbilly-Elegie“ schreibt JD Vance: „Wenn die Zeiten schwer waren, wenn ich von dem Drama und Tumult meiner Jugend überwältigt war, wusste ich, dass bessere Zeiten bevorstanden, weil ich in einem Land lebte, das mir erlaubte, dort die richtigen Entscheidungen zu treffen, wo andere geirrt hatten.“
Diese Verbindung aus Hoffnung und Freiheit ist ein zutiefst amerikanisches Prinzip, das kollektive Offenheit in individuellen Erfolg übersetzt. Es ließ Vance aus ärmlichen Verhältnissen bis ins zweithöchste Amt der USA aufsteigen. Mit Faschismus hat es nichts zu tun.
Florian Friedman ist freier Autor und Redakteur. Für Magazine, Zeitungen und Online-Plattformen schreibt er über gesellschaftliche Themen, Kunst, Technologie und Musik. Friedman lebt in Hamburg. Mehr finden Sie unter www.florianfriedman.com.