Neben dem rechnerischen Sieger Christian Wulff wird auch die Demokratie gerne als Siegerin genannt. Das ist ein schöner Gedanke. Denn wer will nicht die Demokratie siegen sehen?
Vor allem SPD-Chef Sigmar Gabriel hat sich für diesen Gedanken einer siegreichen Demokratie ins Zeug gelegt, weil sich ein paar Dutzend Wahlmänner und/oder Wahlfrauen, wie er sagte, frei nach ihrem Gewissen entschieden hätten. War in Berlin also endlich Schluss mit dem vom Grundgesetz nicht vorgesehenen Koalitionszwang?
Na ja. Es war ja nur eine vorüber gehende Gewissensentscheidung. Die meisten Gewissensentscheider ließen ihr Gewissen für einige Stunden zu Wort kommen, um dann wieder dem Parteibuch den Vorzug zu geben. Ein so kurz geöffnetes Gewissensfenster lässt nicht allzu viel frische Luft herein.
Außerdem legt ein solches Kurzzeitgewissen den Schluss nahe, dass es vielleicht gar keines war sondern eher ein Dampfgebilde. Dass man also lediglich Dampf abließ, um einem Überdruck entgegen zu wirken, der sich in der Koalition angesammelt hatte.
Die Grünen-Chefin Renate Künast nahm die Wörter Demokratie und Gewissensentscheidung denn auch nicht so voll in den Mund wie Sigmar Gabriel. Sie nannte den Wahlverlauf schlicht eine Niederlage für Angela Merkel und freute sich diebisch, wie es sich in der Politik gehört. Und damit stand sie wohl fester auf dem Boden der Tatsachen als der Demokratieschwärmer von der SPD, der übrigens nie so aussah, als würde er an seine Schwärmerei glauben. Auch er freute sich wie Künast über Merkels Pleite, nur etwas mehr nach innen.
Allerdings zeigt die unterschiedliche Wortwahl der beiden, dass es auch in der Opposition einen Abstimmungsmangel gibt. Hätte man nicht vorher klären sollen, ob man auf Merkel-Bashing oder auf Demokratie und Gewissensfreiheit macht?
Nun gut, das ist nur ein Nebengedanke. Angela Merkel hat, nachdem sie den Schock der ersten Stunden überwunden hatte, selber den Demokratiegedanken aufgegriffen und mit beinahe leuchtenden Augen von der Freiheit der Volksvertreter gesprochen. Und noch besser: Sie stellte in Aussicht, dass es keine Hexenjagd auf die Abweichler geben werde. Das würde in der Tat bedeuten, dass sie mehr Demokratie als üblich wagen würde. Üblich ist die Rache an den Unbotmäßigen. Ein Racheverzicht wiederum wäre ein eindrucksvolles Bekenntnis zum Grundgesetz, das ja keine Strafe für frei nach ihrem Gewissen entscheidende Abgeordnete vorsieht.
Haben wir perspektivisch also doch einen großen Sieg der Demokratie erlebt? Groß ist ein zu großes Wort. Vielleicht könnte es ein klitzekleiner Sieg der Demokratie werden, wenn den Abtrünnigen in den nächsten Wochen tatsächlich ein politisch menschenwürdiges Leben beschert sein sollte.
Eine Denkzettelabstimmung, die in eine Gewissensabstimmung umerklärt wird, ist allein aber noch kein glorreicher Ausdruck vollendeter Demokratie. Hinzu kommt, dass man sich in der Union und in der Koalition nun zweifellos ganz fest vornimmt, dass ein Debakel wie dieses demokratische Gewissenschaos nicht noch einmal vorkommt.
Ähnliches dürfte für SPD und Grüne gelten: Die werden den Teufel tun und sich eine derartige Gewissensfreiheit herbei wünschen, wenn sie selber mal wieder dran sind, einen Präsidenten ihrer Wahl durch zu boxen.