Natürlich ist noch längst nicht gesagt, wer das Rennen gewinnt. Aber das ist es ja: Es ist wieder alles offen. Die beste Hoffnung der Republikaner ist, dass Kamala Harris auch nicht das Gelbe vom Ei ist.
Donald Trump ist kein ängstlicher Typ. Er ist viel zu sehr von sich eingenommen, um überhaupt Angst vor irgendwem zu haben. Nicht mal vor Kamala Harris. Wut kennt er schon. In diesem Zustand hat er die neue demokratische Konkurrentin schon mal prophylaktisch als Verrückte bezeichnet. Mit der entsprechenden Fingerbewegung am Kopf. Ach ja, der langweilig gewordene amerikanische Präsidentschaftswahlkampf macht wieder richtig Spaß.
Für viele Republikaner ist der Aufstieg und Einstieg von Kamala Harris in das Rennen ums Weiße Haus schon eher ein Grund zur Angst. Oder wenigstens zur Sorge. Zumal sich etliche Trump-Anhänger nicht gerade durch die Selbstwertschätzung ihres Chefs auszeichnen. Viele, die sich zuletzt um ihn geschart haben, taten dies als politische Überlebensstrategie. Was haben sie den Donald zur Schnecke gemacht, ehe sie sich ihm andienten. Also eher ängstliche Typen. Sie sahen sich bei ihrem Guru auf der sicheren Seite. Und jetzt wackelt auf einmal diese Absicherungsstrategie.
An dieser Stelle will ich kurz die Abfolge meiner eigenen Fehlprognosen ansprechen. In einem Vortrag habe ich vor einigen Wochen gesagt, dass ich unterm Strich doch noch von einem Sieg Joe Bidens ausgehe. Diese Vorhersage hat mir der Mann nun endgültig vermasselt.
Nach Bidens mitleiderregendem Debattenauftritt und nach dem Attentat auf Donald Trump habe ich in der Achse behauptet, Trump kommt und fordert, dass sich unsere Regierung endlich ernsthaft auf einen Präsidenten diesen Namens einstellt. Dass eine vernünftige Regierung sich auf jeden amerikanischen Präsidenten, ob geliebt, ob ungeliebt, einzustellen hat, gilt weiterhin. Dass Trump kommt, ist inzwischen zu einer ziemlich wackeligen Aussage abgerutscht.
Ein bitterer Alterungsprozess
Einer der sichtbarsten Gründe ist dieser: Donald Trump ist quasi über Nacht um Jahrzehnte gealtert. Bisher konnte er sich als nahezu jungdynamischer Kontrast zum altersschwachen Biden darstellen. Und jetzt erscheinen auf einmal Karikaturen, auf denen eine jungdynamische Kamala Harris einem altersschwachen Donald Trump am Arm über die Straße hilft.
Das ist ein bitterer Alterungsprozess. Plötzlich wird klar, dass Trump auch schon fast ein Achtzigjähriger ist. Mit Rede-Aussetzern, die eines Biden durchaus würdig wären, die sich aber bisher in dessen Konfusionsschatten versteckten. Vor allem aber: Der Kampf gegen den alten Mann im Weißen Haus als sicher geglaubte Nummer, ist dahin. Mit der 59-Jährigen als Gegnerin brauchen die republikanischen Wahlkämpfer eine zweite Luft. Das bisher Erreichte gilt nicht mehr. Alles neu macht Kamala.
Es ist, als hätte sich ein Marathonläufer einen vermeintlich uneinholbaren Vorsprung vor einem schwächelnden Konkurrenten erarbeitet, und dann erscheint eine Märchenfee und verwandelt den müden Mitläufer in eine junge Athletin, die auf die Schnelle den Vorsprung des nunmehr Alten wegzuwischen droht.
Natürlich ist noch längst nicht gesagt, wer das Rennen gewinnt. Aber das ist es ja: Es ist wieder alles offen. Die beste Hoffnung der Republikaner ist, dass Kamala Harris auch nicht das Gelbe vom Ei ist. Trump hat ja schon einmal eine Frau geschlagen, die beim Publikum einfach nicht ankam.
Allerdings ist Kamala Harris keine Hillary Clinton. Erstens ist sie etwas weniger unbeliebt. Was – zugegeben – keine große Kunst ist. Zweitens ist sie von etwas dunklerer Hautfarbe, was ihr bei den dunkelhäutigen Amerikanern wichtige Pluspunkte verleiht. Allein kraft ihres Äußeren kann sie viele von ihnen, die schon an die Republikaner verloren schienen, in ihre alte politische, nämlich demokratische Heimat zurückholen.
Absurde amerikanischen Rasseneinteilung
Dass Kamala Harris als schwarze Politikerin gilt, hat allerdings mit ihrem Erscheinungsbild kaum etwas zu tun, sondern mit der absurden amerikanischen Rasseneinteilung, die jeden nicht ganz Schneeweißen ins Lager der Schwarzen schiebt. Aber das ist Sache der Amerikaner und soll uns hier nicht weiter stören.
Interessanter ist die politische Einordnung der neuen Präsidentschaftskandidatin. (Man kann sie schon vor der offiziellen Ernennung so nennen, weil sie längst ausreichend Delegiertenstimmen und einen Tsunami an Millionen Dollar gesammelt hat.) Kamala Harris gilt als eher links, ein Einordnung, die aber nur teilweise mit europäischen Verhältnissen zu vergleichen ist. Bei uns wäre sie eher eine gemäßigte Sozialdemokratin, wenn nicht gar eine Christdemokratin des sozialen Flügels. Denn fromm ist man in den USA allemal.
Ihr linkes Etikett zeigt sich am ehesten darin, dass sie wie viele unserer Linken unter der Verwirrung des Wokismus leidet. Das mag ihr in akademischen Zirkeln helfen, ist aber eher ein Handicap bei der vom Wokismus nicht infizierten Arbeiterschaft. Weshalb Donald Trump den Demokraten so viele Arbeiter wegschnappen konnte.
Zur etwas anderen amerikanischen Einsortierung gehört auch, dass die linke Kamala eine der schärfsten Staatsanwältinnen in Kalifornien war. Sie hat durchgesetzt, dass reihenweise Straftäter für schier endlose Zeiträume hinter Gitter gebracht wurden. Und zwar für Zeiträume, die unseren weniger robusten Richtern als allzu radikal erscheinen würden. Allerdings auf keinen Fall als linksradikal.
Wahlkampf als eine Art Krimi inszenieren
Ihre knallharte Zeit als strenge Staatsanwältin, oberste Strafverfolgerin und Justizministerin in Kalifornien benutzt sie jetzt als eine ihrer schärfsten Waffen gegen den juristisch angeschlagenen Donald Trump. Bei ihrem ersten Wahlkampf-Auftritt in Milwaukee, Wisconsin, sagte sie denn auch mit chirurgischer Bosheit: „Ich kenne Typen wie Donald Trump.“ Sie ist dabei, ihren Wahlkampf als eine Art Krimi zu inszenieren. Staatsanwältin jagt Straftäter. Mal sehen, ob sie ihn damit wirklich erwischen kann.
Ihre andere Waffe ist die Waffe der Frau. Genauer: Die Waffe als Frau. Sie ist ganz sicher nicht die Lieblingsfrau der Frauen Amerikas. Aber sie hat ein ganz heißes Thema: den Verlust des juristisch abgesicherten Abtreibungsrechts. Seit das von Donald Trump mit einer konservativen Mehrheit ausgestattete Verfassungsgericht die Jahrzehnte alte, sehr freizügige Regelung gekippt hat, herrscht Chaos. Chaos in Form eines Flickenteppichs der Abtreibungsregelungen. Von Bundesstaat zu Bundesstaat gibt’s nun alles Denkbare, von extremer Strenge bis zu weit gehender Freizügigkeit, gepaart mit großer Rechtsunsicherheit.
Mit diesem zentralen Frauenthema hofft Kamala Harris zu punkten. Wie viel ihr das bringt, ist eine andere Frage: Die Frauen Amerikas sind in der Abtreibungsfrage so gespalten wie derzeit das ganze Land.
An dieser generellen Spaltung wird sich auch in den kommenden Monaten bis zur Wahl am 5. November nicht viel ändern. Entscheidend ist, wer die sechs Staaten für sich gewinnen kann, in denen es traditionell zwischen Demokraten und Republikanern Spitz auf Knopf steht. Joe Biden war überzeugt, dass er als Einziger den voranstürmenden Donald Trump schlagen kann. Das hat sich erledigt. Jetzt muss Kamala Harris zeigen, dass ihr Chef eben doch nicht der Einzige ist, der Trump hätte schlagen können. Sie hat es jetzt schon geschafft, die Republikaner nervös zu machen. Um sie zu schlagen, muss sie allerdings einen höllischen Endspurt hinlegen. Und auf dieser letzten Strecke auf keinen Fall stolpern, was in der Politik jederzeit passieren kann.
Es ist, wie eingangs gesagt, wieder spannend. Weshalb ich diesmal freiwillig auf eine Prognose verzichte.
Rainer Bonhorst, geboren 1942 in Nürnberg, arbeitete als Korrespondent der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ) in London und Washington. Von 1994 bis 2009 war er Chefredakteur der Augsburger Allgemeinen-Zeitung.