Von Burkhard Sievert.
Dieser Artikel ist in mehrfacher Hinsicht interessant. Liberale bekommen mit der Freiheitsvermutung eine durchschlagskräftige analytische Waffe in die Hand. Die Freiheitsvermutung trennt echte Liberale von den Scheinliberalen, die sich sodann in das Lager der Sozialdemokraten verabschieden können. Echte Liberale werden in diesem Land gebraucht, Scheinliberale sind so überflüssig wie ein Sandkasten in der Sahara. Sie schaden der Sache der Freiheit und sind sogar schlimmer als die klar erkennbaren Feinde der Freiheit. Das Argument der Freiheitsvermutung wurde von Anthony de Jasay erstmalig in seinem Buch „Gegen Politik“ vorgebracht, das ich übersetzt habe. Anthony de Jasay ist ein herausragender Logiker, wie ich es ansonsten nur von Ludwig von Mises kenne.
Vermutlich ist Anthony de Jasay einer der größten liberalen Denker, von dem Sie noch nie gehört haben, deshalb werde ich ihn im Folgenden kurz vorstellen. Anthony de Jasay wurde am 15. Oktober 1925 in Ungarn geboren und musste 1948 vor den Kommunisten aus seiner Heimat fliehen. Die Umstände seiner Flucht warfen in ihm viele für die politische Philosophie grundlegende Fragen auf: Was rechtfertigt Zwang? Wann, wenn überhaupt, ist es legitim, Staatsgewalt gegen die Staatsbürger einzusetzen? Was, wenn überhaupt, kann die Ausweitung und den Missbrauch staatlicher Macht begrenzen? Nach zwei Jahren in Österreich setzte Anthony de Jasay ab 1950 an der Universität von West-Australien seine Studien der Ökonomie fort. 1955 gelangte er an die Universität von Oxford. Nach einigen Jahren als Forschungsassistent am Nuffield College wechselte er 1962 in die Finanzwelt. 1979 zog er sich in die Normandie zurück und widmete sich als Privatgelehrter der Ökonomie und der politischen Philosophie. Anthony de Jasay verstarb am 23. Januar 2019 im Alter von 93 Jahren.
„Eigentum kommt einer Freiheit gleich“
Anthony de Jasay war ein großer Bewunderer von David Hume. Menschliches Zusammenleben beruht auf Konventionen. Von drei fundamentalen Grundgesetzen, „das der Sicherheit des Besitzes, das der Übertragung durch Zustimmung und das der Erfüllung von Versprechungen“ (David Hume) hängen „der Friede und die Sicherheit der menschlichen Gesellschaft“ (David Hume) ab, die der „Regierung vorangehen“ (David Hume). „So entsteht die [auf Konventionen beruhende] Rechtsordnung durch eine Art von Übereinkunft oder wechselseitigem Einverständnis, d.h. durch das Bewusstsein des Interesses, das man bei allen voraussetzt, und wobei jede einzelne Handlung geschieht, in der Erwartung, dass andere ebenso handeln werden.“ (David Hume)
Anthony de Jasay war ein scharfer Logiker und seine an die Spieltheorie anknüpfenden Überlegungen sind Satz für Satz klar, allgemeinverständlich und nachvollziehbar. Seine politische Philosophie hatte mit dem strikten Liberalismus und der Skepsis gegenüber Gesellschaftsverträgen und Verfassungen drei übergreifende Themen, die nun kurz dargestellt werden:
Anthony de Jasay unterscheidet zwischen Freiheiten und Rechten. Beide Prototypen drücken Beziehungen zwischen Personen und Handlungen aus. Im Falle einer Freiheit kann eine Person wählen, eine bestimmte für sie realisierbare Handlung auszuführen, es sei denn, sie wird durch eine entgegenstehende Konvention unzulässig gemacht. Im Fall eines Rechts kann eine Person wählen, von einer anderen Person eine bestimmte Handlung zu verlangen, woraufhin die andere Person zur Ausführung der Handlung verpflichtet ist. Verträge führen Rechte und Verpflichtungen herbei. „Wenn Eigentum durch Vertrag erworben wird, so erlöschen nach vollständiger Erfüllung der gegenseitigen Verpflichtungen auch die gegenseitigen Rechte und das Eigentum ist somit unbelastet und frei.“ (Anthony de Jasay) Es bleibt kein Rest übrig, der irgendwie verteilt werden könnte. „Eigentum kommt einer Freiheit gleich.“ (Anthony de Jasay)
Die Freiheitsvermutung beruht auf reiner Logik
Das logische Argument des strikten Liberalismus ist die Freiheitsvermutung. Sie funktioniert wie die Eigentumsvermutung oder die Unschuldsvermutung, das heißt, der Einsprechende gegen eine Handlung muss einen Beweis dafür zeigen, dass der Handelnde die Freiheit zu einer Handlung nicht besitzt. Wenn eine Person A eine Handlung ausführen möchte, kann es unendlich viele Gründe unendlich vieler Einsprechenden geben, die gegen die Handlung sprechen. Das Argument funktioniert nach der Regel Sollen-impliziert-Können. A könnte niemals beweisen, dass es keine weiteren Gründe gegen die Handlung mehr gibt, denn es ist für A logisch unmöglich, eine unendliche Anzahl von Gründen zu widerlegen. Deswegen kann A die Beweislast für die Legitimität der geplanten Handlung nicht tragen. Im Gegensatz dazu ist jeder konkrete Grund, den Einsprechende gegen die fragliche Handlung vorbringen können, beweisbar. Ihre Liste konkreter Gründe ist abzählbar endlich. Wenn Einsprechende solche Gründe haben, tragen sie die Beweislast. Sie können zeigen, ob zumindest einer dieser Gründe tatsächlich hinreichend für einen gerechtfertigten Eingriff in die Handlung ist.
Die Freiheitsvermutung beruht auf reiner Logik und ermöglicht eine objektive Überprüfung der Legitimität einer Handlung in der Realität. Das Argument ist unwiderlegbar. Zum einen sind Denken und Logik nicht ohne einen Selbstwiderspruch bestreitbar, das heißt, selbst das Bestreiten erfordert einen Denkprozess. Das Argument greift auf kein (echtes) Werturteil als Begründung zurück, dann wäre es subjektiv. Es setzt keine Präferenz zugunsten der Freiheit voraus, dann wäre es voreingenommen. Das Argument wird nicht aus Tatsachen abgeleitet, denn es ist nach dem Humeschen Gesetz unmöglich, aus einem Sein ein Sollen abzuleiten. Im Gegensatz zum Libertarismus benötigt es keinen Rückgriff auf das Naturrecht. Es ist nicht utilitaristisch, denn der Utilitarismus scheitert an der logischen Unmöglichkeit interpersoneller Nutzenvergleiche.
Von der Freiheitsvermutung als archimedischem Punkt ausgehend, ist die strikte analytische Argumentation die Waffe des Liberalismus. Die Geschichte des David gegen Goliath lehrt, dass auch der Unterlegene gegen den Übermächtigen gewinnen kann, wenn David seine Stärke ausspielt und er damit die schwache Stelle das Goliath trifft. Der strikte Liberalismus demonstriert Goliaths fehlerhafte Logik und seine unverschämte Willkür, die den politischen Forderungen nach „Rechtsansprüchen“, „Solidarität“ und „sozialer Gerechtigkeit“ zugrunde liegen. „Eine Regierung gründet sich daher ausschließlich auf Meinung.“ (David Hume) Kühle analytische Argumentation kann die Köpfe jener wachsenden Zahl der mit der Politik Unzufriedenen gewinnen, die das Problem in der Politik selbst sehen und die nach Alternativen suchen. Sie werden entscheidend sein, wenn es darum geht, die Köpfe der allgemeinen Öffentlichkeit der Zukunft zu formen.
Moralisches Handeln erfordert Freiwilligkeit
Das moralische Argument ist die Ablehnung der Unterwerfungsregel, des „Primats der Politik“. Im Gegensatz zum alltäglichen Sprachgebrauch unterscheidet die Philosophie zwischen Ethik beziehungsweise Moraltheorie und Moral. Ethik operiert eher theorieorientiert auf einer Metaebene. Moral dagegen bewertet unter Referenz auf die konkrete Moraltheorie ausschließlich menschliches Handeln, indem sie das Handeln billigt oder missbilligt. Der strikte Liberalismus gehört in die Kategorie der Deontologischen Ethik, bei der konkrete Handlungen moralisch gebilligt oder missbilligt werden. Das Handlungsmotiv und die Handlungsfolgen haben für die moralische Beurteilung einer Handlung geringere Relevanz. Handlungsmotive besitzen keine feststellbaren Tatsachen.
Moralisches Handeln erfordert Freiwilligkeit. Der strikte Liberalismus ruht folglich auf den Begriffen Freiheit und Gerechtigkeit, wobei Freiheit sein oberstes Ziel ist und eine Handlung entweder gerecht oder ungerecht ist. „Unter der Maxime ‚suum cuique’ [jedem das Seine] verteilen sich Vorteile und Lasten, indem jeder seine Freiheiten wahrnimmt und seinen Verpflichtungen nachkommt. Ein gerechter Zustand herrscht, solange er nicht durch eine ungerechte Handlung verletzt wird.“ (Anthony de Jasay) Die Unterwerfung aller unter den Willen einiger kann moralisch akzeptabel sein, wenn sie freiwillig erfolgt. Erfolgt sie unfreiwillig, dann erweist sich die Legitimität der Regierung als moralisch unvertretbar. Der strikte Liberalismus sieht nur freiwillige Umverteilung als moralisch gerechtfertigt an.
Die einflussreichsten Argumente zur Legitimierung von Politik und Staat, das heißt die Vorstellungen von „Gesellschaftsverträgen“, enthalten einen fundamentalen Widerspruch: Wenn es stimmt, dass keine Leistung aus einem Vertrag erzwungen werden kann und der Staat dafür gebraucht wird, wie kann dann erwartet werden, dass der Staat an den Vertrag gebunden werden kann, an dem er beteiligt ist? Die Auflösung dieses infiniten Regresses ist eine fundamentale Herausforderung an jeden, der verlangt, dass Verträge nur von einer übergeordneten Instanz durchgesetzt werden können. Außerdem fehlt einem hypothetischen Gesellschaftsvertrag im Vergleich zu einem echten Vertrag die Legitimation.
„Die Sache selbst ist der Missbrauch!“
Auch die Lösung dieses infiniten Regresses durch eine Verfassung scheitert. Der Versuch staatlicher Machtbegrenzung durch eine Verfassung missachtet die lebendigen Kräfte der Politik, die mit einer Verfassung unvereinbar sind. Edmund Burke würde ausrufen: „Die Sache! Die Sache selbst ist der Missbrauch!“ In einem Zirkelargument beruft die Mehrheit sich auf die Methode der kollektiven Wahl, um diese zu legitimieren. Gesellschaftsverträge und Verfassungen behandelt Anthony de Jasay in dem Buch „Der Gesellschaftsvertrag und die Trittbrettfahrer“, das ebenfalls von mir übersetzt wurde. Die Achillesferse der jetzigen Lockdowns ist deren fehlende Legitimation. Sie mögen legal sein, sind aber nicht legitim. Liberale haben folglich die Logik und die Moral auf ihrer Seite.
„Wenn Worte ihre Bedeutung verlieren, verlieren Menschen ihre Freiheit“, heißt es bei Konfuzius. Anthony de Jasay achtet sehr auf die richtige Verwendung der Worte und auf die Zuordnung zu ihrer Bedeutung. Mit unscharfem Denken und schlampigem Gebrauch von Sprache lässt sich die Freiheit weder verteidigen geschweige denn wiedererlangen. Alles fängt mit dem korrekten Gebrauch und Verständnis der Begriffe Freiheit und Recht an. Für eine eindeutige Positionierung des Liberalismus sind diese beiden Begriffe elementar. Es wäre beispielsweise Sprachmissbrauch, von „Freiheitsrechten“ zu sprechen, weil dieser Begriff eine Vermischung der beiden Prototypen Freiheit und Recht ist. Andere wichtige Begriffe, die es zu unterscheiden gilt, sind Gerechtigkeit und Gleichheit. Sie sind keine Synonyme.
Anthony de Jasay überprüft Aussagen mit der Methode der Epistemologie, das heißt durch Falsifizierung und Verifizierung. Tatsachen besitzen einen „Wahrheitswert“. Tatsachen sind entweder wahr oder unwahr. Aussagen ohne „Wahrheitswert“ sind Meinungen. Auch die Zukunft betreffende Aussagen über menschliche Handlungen besitzen keinen „Wahrheitswert“. „Menschen können nicht festgelegt und vorhergesagt werden wie Objekte ohne Verstand und ohne die Fähigkeit zu lernen und zu wählen“ (Murray N. Rothbard). Die Aussage „Da steht ein Pferd auf dem Flur“ besitzt einen „Wahrheitswert“ und lässt sich relativ leicht widerlegen (falsifizieren) beziehungsweise überprüfen (verifizieren). Auch Aussagen über Fragen der Freiheit oder der Gerechtigkeit sind letztendlich feststellbare Tatsachenfragen.
Wie bereits weiter oben gezeigt, liegt gemäß der Freiheitsvermutung nach der Regel „Sollen impliziert Können“ die Beweislast für die Unzulässigkeit einer Handlung bei dem Einsprechenden. Auch ein Vertrag ist eine Tatsachenfeststellung. Gesellschaftsverträge haben keinen „Wahrheitswert“, nur echte Verträge können ihn in der Realität bestätigen. Fiktiven Verträgen fehlt neben der Legitimation noch eine weitere unerlässliche Eigenschaft von Verträgen: die Kündigungsmöglichkeit. Reale Menschen würden ihnen nicht zustimmen. Die fehlende Legitimation ist das schlagende Argument, das Freunde der Freiheit gegen die Lockdowns vorbringen sollten. Die Waffe der Liberalen ist die Logik, die Waffe der anderen ist die Gewalt. Gewalt ist ein Zeichen von Schwäche und fehlender Toleranz, die Argumente der Anderen ertragen zu können. Sie werden es lernen müssen.
Burkhard Sievert ist freiberuflicher IT-Berater.