Nicht nur der freudsche Versprecher, auch die normale Sprache kann verräterisch sein. Über zwei Begriffe, die im Zusammenhang mit dem G20-Gipfel in Hamburg immer wieder fielen, bin ich gestolpert: „die Bilder“ und „das Format“. Beide belegen oder sind jedenfalls ein Indiz dafür, wieweit das Fernsehen das politische Geschäft beeinflusst, die politische Debatte gewissermaßen in eine Talkshow verwandelt. Nach dem Motto: There’s no business like show business (von Irvin Berlin aus „Annie get your gun“, 1946).
Wie der G20-Gipfel in Hamburg verlief, ist mittlerweile allgemein bekannt: Da gab es „schöne Bilder“, etwa von dem Jungen, der Schokolade an erschöpfte Polizisten verteilte oder von Hadrien, dem dreijährigen Sohn des kanadischen Premierministers Justin Trudeau und seiner Frau Sophie Grégoire, „der alle mit seiner Schnute entzückte“ oder noch toller: „Sein Sohn überstrahlt den G20-Gipfel“.
Und es gab „hässliche Bilder“. Es gab allerdings einen, nämlich Hamburgs Ersten Bürgermeister Olaf Scholz, der über diese Formulierung ebenso gestolpert ist wie ich. Zwar sagte er zunächst im gängigen Polit- und Journalisten-Sprech: „Wir haben schlimme Bilder gesehen“. Aber dann ergänzte er, bewusst oder intuitiv: „Und diesen schlimmen Bildern liegen schlimme Taten zugrunde“. Das hat mich überrascht und, offen gesagt, auch beeindruckt. Denn die Realität, also die Taten, treten im viel beschworenen postfaktischen Zeitalter meistens hinter die Bilder zurück. Zwar ist der Ausdruck „ein Bild des Grauens bieten“ älter als das Fernsehen, ebenso wie der Begriff in den Wörtern „Sinnbild“ oder „Vorbild“ oder in „Mannsbild“ und „Weibsbild“ oder in Bildhauer usw.. Aber wenn heute von „Bildern“ die Rede ist, dann sind entweder Fotos oder bewegte Kamerabilder gemeint, die einer unbegrenzten Zahl von Betrachtern zugänglich sind und die deshalb jeder Politiker fürchtet oder herbeisehnt, je nach Inhalt.
"Halten wir die Bilder aus?"
Und wenn man dem „Welt“-Journalisten Robin Alexander glauben darf – und warum sollte man ihm nicht glauben dürfen? – war es die Angst der Kanzlerin vor unpopulären Bildern, die dazu führte, dass die bereits vorbereitete Schließung der deutschen Grenzen gegenüber dem aus Ungarn erwarteten Flüchtlingsstrom am 11. September 2015 unterblieb und damit die am 5. September im Wege einer „humanitären Ausnahmeentscheidung“ gestattete unkontrollierte Einreise zum monatelangen Dauerzustand machte. Die entscheidende Frage in der Runde im Lagezentrum des Innenministeriums unter Leitung von Thomas de Maizière lautete: „Halten wir die entsprechenden Bilder aus?“ (Robin Alexander, Die Getriebenen, Siedler Verlag, 2017, Seite 23). Alexanders Fazit lautet: „Die Grenze bleibt offen, nicht etwa, weil es Angela Merkel bewusst so entschieden hätte, oder sonst jemand in der Bundesregierung. Es findet sich in der entscheidenden Stunde schlicht niemand, der die Verantwortung für die Schließung übernehmen will" (Seite 26).
Da mögen Tausende Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken und außer ein paar bedauernden Worten passiert nichts. Dann geht das Bild des in der Ägäis ertrunkenen dreijährigen Aylan Kurdi um die Welt, wie er da liegt in seinem roten T-Shirt mit dem Gesicht nach unten, und erregt weltweites Aufsehen.
Nun ist kein Mensch, der ein Herz im Leib hat, gegen die Wirkung eines solchen Bildes gefeit, außer vielleicht ein paar Rechtsradikale „mit einem IQ nahe Zimmertemperatur“ (Roger Letsch). Aber es sollte nicht das Bild sein, das uns rührt, sondern der Umstand, dass da ein kleiner Junge ertrunken ist. Denn mit Bildern wird seit eh und je Schindluder getrieben, auch lange vor den Zeiten von Fake News und Photoshop. Dabei muss es sich nicht einmal um direkte Manipulationen handeln. Manchmal genügt einfach die Auswahl der Bilder, die gezeigt oder nicht gezeigt werden. Bekannt wurde das Bekenntnis von ARD-Chefredakteur Kai Gniffke: „Wenn Kameraleute Flüchtlinge filmen, suchen sie sich Familien mit kleinen Kindern und großen Kulleraugen aus.“ Tatsache sei aber, dass „80 Prozent der Flüchtlinge junge, kräftig gebaute alleinstehende Männer sind“.
"Das Format ist wichtiger als je zuvor."
Eben weil ein Bild mehr sagt als tausend Worte, sollten Politiker ihre Entscheidungen nicht danach richten, welche Bilder dabei entstehen, sondern sich an Wohl und Wehe des Volkes orientieren, wie sie es in ihrem Amtseid geschworen haben.
Eine beliebte Journalisten-Frage im Zusammenhang mit dem G20-Gipfel war, ob es richtig gewesen sei, diesen in Hamburg auszurichten. Darauf erklärte etwa Kanzleramtsminister Peter Altmaier: "Solche Gipfel-Formate sind wichtiger als je zuvor." Auch Hamburgs Erster Bürgermeister verteidigte das Großereignis, weil es „ein solches Format überhaupt nicht gab“, bevor „der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt in den Siebzigerjahren mitten in der Weltwirtschaftskrise die ersten Treffen der zunächst fünf, dann sechs wichtigsten westlichen Industrienationen etablierte“. Und Regierungssprecher Steffen Seibert meinte ebenfalls: „Das Format G20 hat sich in Hamburg bewährt". Nun ja, bei Seibert mag man das hinnehmen, war sein Arbeitgeber doch vorher das ZDF. Denn der Begriff „Format“ stammt ja vornehmlich aus der Fernsehwelt. Zwar sprechen wir auch von Papierformat (etwa DIN A4, Hoch- und Querformat usw.), Bild- oder Aufnahmeformat, Datenformat und anderem mehr. Doch dürften diese Bereiche schwerlich für die Verwendung des Begriffs im Politsprech ursächlich sein. Wenn ein Politiker den Begriff benutzt, hat er zweifellos das „Fernsehformat“ im Auge. Er könnte genauso gut von „Form“ oder „Art“ sprechen, aber das klänge einfach zu hausbacken und würde ihn beim Publikum als provinziell und rückständig erscheinen lassen.
Ein häufiger Begriff, der vornehmlich von Journalisten gebraucht wird, ist „Modus“. Gegenwärtig befinden sich die meisten Politiker im „Wahlkampfmodus“. Wir begegnen aber auch dem „Trotzmodus“, dem „Verwaltungsmodus“ und anderen Modi. Es handelt sich um modischen Schnickschnack wie das „Narrativ“ und der „Fokus“, die wir wie den Kaugummi und das T-Shirt den Amis zu verdanken haben. Typisch deutsch sind dagegen zwei Wendungen, die Journalisten von Politikern übernommen haben: „ein Stück weit“ und „auf den Weg bringen“.
So, liebe Achse-Leserinnen und Achse-Leser, jetzt wissen Sie, ob ich gut aufgestellt bin und wo Sie mich verorten können.