Menschen unterscheiden sich in ihrer Gedankenschärfe, in ihrer Fähigkeit, Zusammenhänge zu sehen, und in ihrem Urteilsvermögen bei komplexen Problemen. Aber es gibt klare Bedingungen, unter denen jeder Geist am besten arbeitet: Ausreichender Schlaf, wenig Ablenkung, ruhige Konzentration auf eine Sache. Menschen, die etwas leisten wollen, richten ihr Leben so ein, dass sie ihr Leistungsvermögen am besten einsetzen können. Immanuel Kant verließ niemals Königsberg. Darunter hat sein Scharfsinn nicht gelitten, im Gegenteil. Goethe verließ nur selten Weimar, bei Gesellschaften war er wählerisch.
Bismarck verbrachte als Reichskanzler Monate auf seinen Gütern. Seine Reichskanzlei bestand aus nur wenigen Mitarbeitern. Was er tat, war durchdacht, selbst seine Fehler hatten System. Der junge Kaiser Willhelm II. entließ ihn alsbald, er wollte selber mächtig sein. Die Akten liebe er nicht. Er reiste viel und hielt dann Reden, vor denen sich die Diplomaten fürchteten. Schnell in der Auffassung und oberflächlich im Detail, dachte er nur wenig wirklich zu Ende. So half er Deutschland, in den Ersten Weltkrieg zu stolpern.
Konrad Adenauer wurde 1933 im Alter von 57 Jahren unfreiwillig zum Frühpensionär, weil die Nazis ihn aus dem Amt des Oberbürgermeisters von Köln vertrieben. Beim Rosenzüchten in Rhöndorf hatte er dann 12 Jahre Zeit, viel nachzudenken. Mit Härte und Konsequenz strebte er nach dem deutschen Zusammenbruch das Amt des Bundeskanzlers an und konzentrierte sich dort auf wenige Punkte: Westbindung und NATO-Mitgliedschaft, Antikommunismus, Aussöhnung mit den Juden, deutsch-französische Freundschaft.
Zum Mittagsschlaf zurück nach Hause
Er reiste wenig. Mittags fuhr er aus dem Kanzleramt zum Mittagsschlaf in sein Haus nach Rhöndorf. Die Kräfte seines vorgerückten Alters sparte er sich für das Wichtige auf. Dann war er aber voll da, ein Meister der einfachen, sparsamen aber punktgenauen Kommunikation. In den 14 Jahren seiner Kanzlerschaft gab es keine einzige spontane Wendung. Er hatte ein Programm, und er zog es durch. Nach dem Mauerbau am 13. August 1961 reiste er zunächst für Wochen nicht nach Berlin, obwohl seine Berater und die Öffentlichkeit ihn drängten. Er wollte nicht durch Bilder und Emotionen unter Zugzwang geraten.
Moderne schnelle Kommunikation und komfortabler Lufttransport ermöglichen den Politikern der Gegenwart eine hohe, fast gleichzeitige Präsenz an vielen Orten und einen ständigen persönlichen Austausch. Aber der Tag wird dadurch nicht länger, die körperlichen und geistigen Kräfte werden damit nicht größer. Im Gegenteil, jede Reise zehrt - auch beim komfortabelsten Transport. Ist man irgendwo angekommen, dann begehren die Besuchten und Gesprächspartner Auskünfte, Festlegungen, Geld, Waffen, was auch immer. So steht dann ein müder Minister in der heißen Sonne oder unter dem Gebläse einer Klimaanlage, hat kein Konzept und will doch etwas sagen. Die Zeit und Kraft wären oft besser investiert worden in solide Information und kritisches Nachdenken.
Was tut Gabriel in Somalia?
Vor einigen Tagen tauchte Außenminister Sigmar Gabriel überraschend in einem Flüchtlingslager in Somalia auf. 16 Stunden brauchte er für Hin- und Rückflug, Sieben Stunden weilte er dort, watete durch den Staub und ließ sich eine Schule vorführen, in der islamistische Terroristen in Demokratie unterrichtet und zu einem besseren Lebenswandel bekehrt werden sollen. Kein Wort fiel von Gabriel darüber, dass nicht die Dürre das Problem Somalias ist - die ist jener Weltgegend ein stabiles, wiederkehrendes Phänomen –, sondern die geradezu explosionsartige Zunahme der Bevölkerung und die rückständige Viehwirtschaft, die zur Überweidung der Savannen und Halbwüsten und zur Zerstörung der Natur führt, dazu der Zusammenbruch des Staatswesens in jahrzehntelangen Bürgerkriegen.
Ändern können das nur die Somalier selber. Das war aber nicht die öffentliche Botschaft des Ministers. Die bestand in der gedankenlosen Forderung nach mehr Nahrungsmittelhilfe seitens der internationalen Gemeinschaft. So werden die Probleme kurzfristig verkleistert und langfristig verschlimmert. Sicherlich war es nur Zufall, dass die Bundeskanzlerin gleichzeitig in Saudi-Arabien war und ihre Bilder vom Besuch beim König Salman im deutschen Fernsehen dominierten. Den Außenminister hatte sie nicht mitgenommen, so musste der sich 2.500 Kilometer weiter südlich auf den deutschen Bildschirmen in Erinnerung bringen.
Unnötig ist es wohl, an dieser Stelle zu erwähnen, dass die deutsche Regierung weder über eine erkennbare Afrika-Strategie noch eine erkennbare Nahoststrategie verfügt. Wie seinerzeit bei Kaiser Wilhelm tritt anscheinend Reisen an die Stelle des Nachdenkens.
Entscheidung zwischen zwei Terminen
Schlimmer aber sind die ständigen Kurzreisen nach Brüssel, vor allem wenn sie in Nachtsitzungen münden, die in den frühen Morgenstunden mit undurchdachten Kompromissen der übermüdeten Teilnehmer enden und so z. B. die x-te "Rettung" Griechenlands ermöglichen.
Die schwerwiegendste Entscheidung ihres Lebens, die Öffnung der deutschen Grenzen für die Flüchtlinge aus Ungarn, traf Angela Merkel am 4. September 2015 im Verlauf eines Reisemarathons quer durch Deutschland zu lauter unwichtigen Terminen. Am 3. September war sie zum Staatsbesuch in der Schweiz gewesen. Am 4. September hatte sie zunächst morgens die übliche Lagebesprechung im Kanzleramt. Alle Probleme dieses dramatischen Tages lagen bereits in der Luft, die Lage am Hauptbahnhof in Budapest war bekannt
Die Kanzlerin flog gleichwohl nach München und besuchte zunächst um 11:15 Uhr die Grund- und Mittelschule in Erlbach. Dann besuchte sie ein Gründerzentrum der TU München. Die gleichzeitig stattfindende Feierstunde der CSU zum 100. Geburtstag von Franz-Josef Strauß hatte sie "aus Termingründen" abgesagt. Anschließend flog sie mit der Flugbereitschaft der Bundeswehr nach Köln und von dort weiter mit dem Hubschrauber nach Essen zu einer Wahlkampfveranstaltung für die Oberbürgermeisterwahl.
Merkel hier, Merkel dort
Von dort brachte sie der Hubschrauber wieder nach Köln, wo sie eine Rede zum 70. Geburtstag der NRW-CDU hielt. Die sich verschärfende Lage in Ungarn verfolgte sie auf ihrem Handy. Mit Orban sprach sie nicht, die beiden sind keine Freunde. Nach vielen vergeblichen Versuchen bekam sie schließlich der damalige österreichische Bundeskanzler Faymann in Köln ans Telefon. Vor dem Rückflug mit der Bundeswehrmaschine nach Berlin telefonierte Merkel mit Steinmeier und Gabriel. Die beiden hatten den Eindruck, die Entscheidung sei schon gefallen. Seehofer erreichte sie nicht. Der schlief bereits in seinem Ferienhaus nach der anstrengenden CSU-Feier. Mit Innenminister de Maiziére wollte sie auch telefonieren, aber der war krank. Wieder zurück in ihrer Berliner Privatwohnung, rief Merkel schließlich kurz vor Mitternacht Faymann an und erklärte sich zur Grenzöffnung bereit.
Die folgenreichste Entscheidung, die ein deutscher Bundeskanzler je getroffen hatte, fiel einsam, im Gedränge von lauter unwichtigen Terminen, auf dem Rücksitz von Limousinen oder im Geknatter der Rotorblätter und ohne wirkliche Beratung mit irgendjemandem. Bei dem Reisekaiser Wilhelm II. war immerhin von Vorteil gewesen, dass er im gut geölten preußischen Beamtenstaat wenig zu entscheiden hatte. Bei Bismarck und Adenauer wiederum war undenkbar, dass sie in wichtigen Momenten der Geschichte ihr Entscheidungs- und Geisteskraft durch unnötiges, geradezu frivoles Herumgereise schwächten.
Zuerst erschienen in der Weltwoche