Übernommen von Spirit of Entebbe.
Niemand vermag zu sagen, wie genau es geschah. Aber es geschah nicht in Peking, sondern in Jerusalem, und so erregte das Umkippen eines handelsüblichen 50-Kilo-Sacks Reis (ungeschält) weltweites Aufsehen.
Einer der ersten am Tatort war der 59-jährige Mohammed Said. „Die Juden waren es!“, rief der alte Mann anklagend und drohte mit seinem Stock, während sich eine rasch wachsende Schar Fotografen in der Salah-e-Din-Straße einfand: „Verfluchte Juden, verfluchte Besatzer!“…
Schnell hatte sich herumgesprochen, dass es radikale jüdische Siedler gewesen sein sollten, die den Sack umgestoßen hatten. Gegen Mittag drohte der palästinensische Ministerpräsident mit einer neuen Intifada: „Beim ersten Mal war es ein Autounfall, beim zweiten Mal ein Besuch Eures Oppositionsführers auf dem Tempelberg – jetzt habt ihr endgültig das Tor zur Hölle geöffnet! So Gott will, wird das zionistische Gebilde schon bald vom Antlitz der Erde getilgt sein!“
Im Deutschlandradio milderte die Politologin Helga Baumgarten diese Äußerung dahingehend ab, dass Haniye unter „emotionalem Stress“ stehe, weil die westlichen Regierungen der demokratisch gewählten Hamas die längst fällige Anerkennung schon zu lange verweigerten. Die Verwendung des Begriffs „bald“ zeige, dass die Hamas um die Unmöglichkeit wisse, Israel sofort zu zerstören und daher verklausuliert zu verstehen geben wolle, sich de facto mit der Existenz des jüdischen Staates abgefunden zu haben. Dies sei ein ermutigendes Zeichen. Der Ball liege nun „im israelischen Feld“.
Während der Weltsicherheitsrat in New York zu einer Eilsitzung zusammentrat, bemühte sich der Sprecher des Außenministeriums in Jerusalem um Schadensbegrenzung. „Es ist noch zu früh, um das Ergebnis einer Untersuchungskommission vorwegzunehmen“, meinte Mark Regev sichtlich nervös. Er erwarte aber von der Weltöffentlichkeit einen fairen Umgang mit dem Vorfall. Zur selben Stunde brachte die Nachrichtenagentur Reuters ein Foto in Umlauf, das zeigte, wie eine Handvoll Körner aus dem Sack quoll. Allerdings waren diese bei näherem Hinsehen als Sesamkörner zu erkennen.
CNN-Reporter Ben Wedeman reiste in den Gaza-Streifen, um eine 12-köpfige Familie aufzusuchen. Traurig gestikulierte Abdul Hamid (64), im karg eingerichteten Wohnzimmer auf einem zerschlissenen Sofa sitzend, in die Kamera. „Meine Kinder haben seit Wochen nichts zu essen“, klagte der betagte Mann aus Chan Yunis, während sich seine drei Zentner schwere Frau im Hintergrund durchs Bild schob. „Und was machen die Juden? Sie zerstören unseren Reis, nehmen uns unsere Würde. Kennen sie denn kein Erbarmen? An allem ist die Besatzung schuld.“ Durch das Fenster sah man Massenaufmärsche schwer bewaffneter Hamas-Milizen und ein Meer palästinensischer Flaggen. Wedeman verzichtete auf die sich ihm aufdrängende Nachfrage, von welcher Besatzung Hamid sprach.
Unterdessen hatte der Weltsicherheitsrat, bei einer Enthaltung durch den Delegierten der USA, folgende Erklärung verabschiedet: „Der Weltsicherheitsrat gibt seiner tiefen Besorgnis über den Vorfall in der Salah-e-Din-Straße Ausdruck und verlangt mit Nachdruck von der Regierung in Tel-Aviv (sic!), alles zu tun, um die Grundversorgung der arabischen Bewohner Jerusalems zu gewährleisten, damit die Chancen auf einen dauerhaften und gerechten Frieden in der Region gewahrt bleiben.“ Der Sicherheitsrat verurteile das „abscheuliche Verbrechen aufs Schärfste” und erwarte, dass ein unabhängiges siebenköpfiges Gremium – bestehend aus zwei UN-Emissären, zwei Arabern, zwei Franzosen und einem Amerikaner als Beisitzer ohne Stimmrecht – den Vorfall in der Altstadt rückhaltlos aufkläre.
Am späten Nachmittag hatte die Polizei das corpus delicti beschlagnahmt und auf die Wache verbracht. Dies, so argwöhnte eine BBC-Korrespondentin, sei der durchschaubare Versuch, den schwer wiegenden Vorfall zu vertuschen. Die syrische Presse sprach bereits von 80 umgekippten Reissäcken, im palästinensischen Rundfunk war von „mehr als 500“ die Rede. Die Säcke seien zudem brutal aufgeschlitzt und mit Sprüchen bekritzelt worden, in denen der Prophet verächtlich gemacht werde. Im Westjordanland und im Gazastreifen drohe nunmehr eine humanitäre Katastrophe bisher ungekannten Ausmaßes. Bettina Marx stellte im NDR klar, spätestens seit dem gewaltsamen Umkippen des Sacks sei offensichtlich, dass es eben Hardliner auf beiden Seiten gebe. Die angekündigten Unruhen hätte Israel selbst zu verantworten, solange es die „radikalen Siedler“ nicht in Zaum halte. Daniel Barenboim kündigte an, ein Solidaritätskonzert in der Altstadt zu veranstalten, um ein Zeichen für den Frieden zu setzen. Er als Jude schäme sich für die mutmaßlichen Täter und frage sich erschüttert, ob man denn aus der Hungersnot im Warschauer Ghetto wirklich rein gar nichts gelernt habe.
Am Abend brachte „Das Erste“ eine Sondersendung zum Thema. Im „Brennpunkt“ erläuterte Michael Lüders, dass die arabische Welt zutiefst beleidigt sei, wie die jüdischen Besatzer mit einem so kostbaren Gut wie dem Grundnahrungsmittel Reis umgingen, und warnte vor der Gefahr eines Flächenbrands, sollten Israel und die USA weiter so rücksichtlos auf den „Gefühlen von Millionen Muslimen herumtrampeln“. Die Sack-Unruhen in Jerusalem wirkten auf den ersten Blick vielleicht überzogen, man übersehe dabei aber, dass es sich nur um den berühmten Tropfen handelte, der das Fass zum Überlaufen gebracht hätte.
Zwei Tage später veröffentlichte das israelische Außenministerium das Video eines Touristen. Der Mann aus Puerto Rico war gerade auf dem Rückweg von der Grabeskirche und hatte das Treiben im Shouk gefilmt. Auf dem Band war zu sehen, wie ein kleiner arabischer Junge, „Hallohallohallo!“ rufend, mit dem Vorderrad seines Karrens gegen den nämlichen Sack Reis stieß, der sich daraufhin langsam nach vorn neigte und schließlich umkippte. Allerdings nahm von diesem Beweis kaum jemand Notiz. Es hieß lediglich, die israelische Seite behaupte auf Grund neuer Erkenntnisse, für den Vorfall nicht verantwortlich zu sein, die palästinensischen Augenzeugen blieben jedoch bei ihrer Darstellung.
Der Kultursender Arte widmete dem Ereignis Monate später einen Themenabend. Auf den Spielfilm „Der Sack“ (Frankreich/Palästina 2007) folgte eine Dokumentation, in der das harte Los der Jerusalemer Araber unter dem Joch der israelischen Besatzung geschildert wurde und ausschließlich Betroffene zu Wort kamen. Den Abschluss machte eine Diskussionsrunde mit Abdallah Frangi, Udo Steinbach, Norbert Blüm und – um auch der israelischen Seite die Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben – Felicia Langer.