Eran Yardeni
Immer wenn ich für ein paar Minuten dem erbarmungslosen Griff der Realität entgehen will, greife ich zum besten Rauschmittel, das man heute in Berlin finden kann: Es sind die Kolumnen von Hatice Akyün im Tagesspiegel. Sie sind kostenlos, im Internet abrufbar, hinterlassen keine Spuren, und man darf sie auch während der Schwangerschaft folgenlos konsumieren.
In ihrer letzten Kolumne erzählt Akyün, ziemlich begeistert und tief berührt, wie Professor Klaus Bade die heutige Situation in Deutschland bezüglich des Themas „Migration“ analysiert:
Beeindruckend war, mit welcher Selbstverständlichkeit dieser Professor klar analysierte. Vom Zugewinn und dem Reichtum, der Migration mit sich bringt. Und den Parallelen der extremen Problematisierter aufseiten derjenigen, die sich durch die Angst vor dem Fremden bereichern und denjenigen, die glauben, damit ihre irrationalen Sichtweisen zu legalisieren, weil ihr verqueres Weltbild das Hirn vor Benutzung schont.
Man fragt sich natürlich, was an dieser Botschaft so besonders sein soll, bis auf die Tatsache, dass sie die Realität in rosigen Farben malt, was aber bei uns nicht ungewöhnlich ist. Die Antwort kommt ein paar Zeile später:
Ich ging gedanklich durch meinen Alltag, durch meinen Beruf, durch die Städte und die Ereignisse und fand sie plötzlich überall: Die Nachbarin, die noch nie irgendeine Distanz hat aufkommen lassen, die Kollegen in der Redaktion, die Leute in meinem Verlag, meine Freunde, die Frau beim Bäcker, die Kindergärtnerin meiner Tochter. Für alle diese Menschen zählt, was ist, und nicht das, was sie von außen eingetrichtert bekommen. Diese Menschen haben kein Problem mit denen, die anders aussehen und deren Vorfahren von woanders herkamen. Die sind immun dagegen.
Heureka! Nicht die Herkunft des Migranten spielt eine Rolle, nicht sein Aussehen oder die Farbe seiner Schnürsenkel, sondern nur die Art und Weise, wie er sich benimmt. Was für eine sensationelle Entdeckung, Frau Akyün! Aber: Genau das ist es, was die schärfsten Kritiker der Migrationspolitik behaupten!. Denkt man aber an die antisemitischen Tendenzen unter den jungen Muslimen in Deutschland, dann muss man fragen, ob und wie inwieweit die aus muslimischen Gesellschaften stammenden Migranten diese Einstellungen teilen. Nur darum geht es, nicht woher sie kommen und wie aussehen.
Sie haben recht, Frau Akyün, Deutschland ist voll mit Menschen, denen die Herkunft ihrer Nachbarn völlig egal ist. Genau das aber zeigt uns, wo das Problem wirklich liegt.
Siehe auch:
Herkunft ist in Deutschland weiterhin ein wichtiger Faktor für Lebenschancen. Warum finden sich Migrantinnen und Migranten häufig in unteren sozialen Schichten mit niedrigen Bildungsabschlüssen und Einkommen wieder? Darüber diskutieren auf Einladung der Heinrich-Böll-Stiftung am heutigen Dienstag Tagesspiegel-Chefredakteur Lorenz Maroldt und „Zeit“-Redakteur Yassin Musharbash, Experte für den arabischen Frühling. Es moderiert Kolumnistin Hatice Akyün ab 19 Uhr im Tagesspiegel-Verlagshaus am Askanischen Platz 3. Der Eintritt ist frei. http://www.tagesspiegel.de/berlin/heute-beim-tagesspiegel-hatice-akyuen-laedt-ein/7983824.html