Wenn ein Bischof plötzlich im Wohnzimmer sitzt

Ein Superman wird Bischof“, kommentierte Raphael Rauch, Redaktionsleiter des Schweizer Religionsportals Kath.ch, die Wahl von Joseph Bonnemain, 73, zum neuen Bischof des Schweizer Bistums Chur. Seinen guten Ruf hat sich der Sohn eines Jurassiers und einer Katalanin in den letzten vierzig Jahren als Priester und Spitalseelsorger erworben. Seit 2002 war Bonnemain, Dr. med. und Dr. iur. can., auch Sekretär des Fachgremiums „Sexuelle Übergriffe im kirchlichen Umfeld“ und oberster kirchlicher Richter im Bistum Chur. Wie kam es, dass er eines Morgens im Jahre 2014 in meinem Wohnzimmer saß?

Einige Monate zuvor war mein autobiografischer Roman „Script Avenue“ erschienen. Ich hatte meinen Kurzaufenthalt im damaligen Knabeninternat in Schwyz beschrieben und dabei über die sexuellen Belästigungen eines Präfekten gespottet. Als die Medien über diese biografische Fußnote aus dem Jahre 1973 berichteten, kündigte der damalige Schwyzer Regierungsrat Walter Stählin (SVP) umgehend eine Task-Force an, um dieser uralten Geschichte nachzugehen. Doch niemand kontaktierte meine damaligen Mitschüler. Aus gutem Grund. Einige wären bereit gewesen, als „Zeitzeugen“ den Sachverhalt zu bestätigen.

Schon bald verkündete Stählin wahrheitsgemäß, er habe keine Fakten. Manchmal lügen Politiker selbst dann, wenn sie die Wahrheit sagen. Hatte ich mich anfangs noch über die Publicity gefreut, ärgerte ich mich nun darüber. Denn in „Script Avenue“ erzählte ich auf 640 Seiten das Leben eines Schweizer Forrest Gump von 1956 bis 2010, also rund fünfzig Jahren Zeitgeschichte. Die Ereignisse im Internat Schwyz füllten lediglich ein paar Seiten, aber plötzlich waren sie das einzige Thema. Jede mediale Empörung hat ein Verfalldatum. Irgendwann war das Interesse erloschen.

Er hatte noch ein paar Fragen

Aber nicht ganz. Ich erhielt überraschend eine E-Mail von Joseph Bonnemain aus Chur. Der damalige Bischofsvikar fragte, ob er mich besuchen könne, er hätte da noch ein paar Fragen. Selbstverständlich. Ich war über sein Interesse erstaunt, da das einstige katholische Internat Kollegium Maria Hilf 1973 vom Kanton übernommen worden war und nicht mehr im Verantwortungsbereich des Bistums lag. Wieso war Bonnemain noch interessiert? Der Kanton Schwyz hatte sich hartnäckig geweigert, ihm die Liste meiner damaligen Mitschüler auszuhändigen. Das hatte den Ermittler in ihm geweckt. Ich war neugierig, einen „Kirchendetektiv“ kennenzulernen, zumal ich in meinem Thriller „Der Bankier Gottes“ den Nunzio Apostolico Con Incarichi Speciali, den Spezialagenten des Papstes, zur Hauptfigur gemacht hatte.

An jenem Morgen im Jahre 2014 trat ein charismatischer und bescheidener Mann aus dem Fahrstuhl, der aufrichtiges Interesse an der Aufklärung der damaligen Vorfälle hatte. Aber wir sprachen über andere Dinge, über das Sterben, über den Tod, denn meine erste Frau war an Krebs gestorben, und er hatte als Spitalseelsorger vielen Sterbenden beigestanden. Er sprach nicht über Gott, sondern über die Demut und Bescheidenheit, die einen das Leben lehrt, wenn man Menschen sterben sieht. Der eigentliche Grund seines Besuchs war beinahe nebensächlich geworden. Erst am Ende sprachen wir über die Vorfälle in Schwyz, die nach beinahe fünfzig Jahren nur noch den Charakter einer Anekdote über die missglückten sexuellen Avancen eines Priesters hatten. Ich übergab Bonnemain die Namen und Adressen jener, die bereit waren, meine im Roman „Script Avenue“ erwähnten Vorfälle zu bestätigen. Ich nannte ihm den Namen des fehlbaren Priesters und zeigte ihm auch meine damaligen Tagebucheinträge.

Die beste Religion

Obwohl ich den Glauben an Götter für eine Form des Aberglaubens halte, blieb mir die Begegnung nachhaltig in Erinnerung. Ich traf an jenem Tag eine beeindruckende Persönlichkeit, die wohltuend authentisch, unaufgeregt und mit Empathie über Menschen sprach. Es versteht sich von selbst, dass er im seit Jahrzehnten zerstrittenen Bistum etliche Gegner hatte und weiterhin hat.

Auch im christlichen Umfeld wird mit unchristlichen Methoden um Einfluss gerungen. Aber auch wenn die katholische Kirche mittlerweile weltweit jedem Missbrauchsopfer durchschnittlich fünftausend Euro bezahlt, ist der Exodus der Mitglieder nicht mehr aufzuhalten. In Deutschland brachen im Februar die Server zusammen, weil fünftausend Gläubige gleichzeitig ihren Kirchenaustritt meldeten. Sie waren erzürnt, dass der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki ein Gutachten zurückhielt, das den sexuellen Missbrauch der katholischen Priester im größten Bistum Deutschlands aufarbeitete.

Ist das Vertrauen einmal verloren, wird es schwierig. Der Wunsch nach Spiritualität bleibt, esoterisch angehauchte Patchwork-Religionen gewinnen an Attraktivität. Auf den neuen Bischof von Chur wartet eine Herkulesaufgabe, die selbst Superman nicht bewältigen könnte. Die beste Religion ist immer noch, ein gutes Herz zu haben (Dalai Lama).

 

Claude Cueni (65) ist Schriftsteller und lebt in Basel. Er schreibt jeden zweiten Freitag im Schweizer BLICK, wo diese Kolumne zuerst erschien. Am 15. März erschien bei Nagel & Kimche sein neuer Roman „Hotel California“.

Foto: Sebastian Magnani CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons

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Leserpost

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Wilfried Cremer / 05.04.2021

Sehr geehrter Herr Cueni, Herz und om und so, das ist ja putzig. Die beste Religion ist immer noch die mit dem besten Wort.

Andreas Müller / 05.04.2021

Durchschnittlich 5000 € pro Mißbrauchsopfer sind aber angesichts des Reichtums der katholischen Kirche schon eine ziemlich schäbige Summe, vor allem, wenn man so hört, was Kirchenvertreter ansonsten für Bedürftige einfordern, wenn es der Staat bezahlt.

Rudolf Dietze / 05.04.2021

Es sind die Guten, die die Last der Verfehlenden zu tragen haben. Enttäuschung von der Kirche, von ihren manchmal sehr (un)menschlichen Mitarbeitern hat nie mein Urvertrauen in Gott beeinträchtigt. Und es gibt sie doch, die Priester, die die Botschaft in die Seele pflanzen, die die Kraft der Tradition weitergeben, die nicht versuchen Zukunft zu gestalten und dann auf irrem Ritt die Menschen mitnehmen wollen.

Bernd Michalski / 05.04.2021

Immerhin, wir lernen daraus, dass auch ein Atheist in der Lage ist, in einem aufrichtigen Bischof einen guten Menschen zu erkennen. Aber das “gute Herz” als Religionsersatz, sorry – das ist auf dem Niveau eines Holzbrettchens mit aufgebranntem Sinnspruch. Bevor Sie den Glauben an einen Gott – bzw. bei Ihnen sind es gleich mehrere, warum auch immer – als “abergläubisch” brandmarken, lesen Sie doch einfach mal bei ehrlichen Wissenschaftlern nach, wie stark die Hinweise “in der Natur” auf einen Schöpfer sind. John Lennox, Stephen C Meyer, Michael Behe, Eric Hedin … man muss nur neugierig sein und gedankenoffen.

E Ekat / 05.04.2021

Auch wenn der Mensch zu Rationalität fähig ist, der bei weitem überwiegende Teil seines Tun und Handelns speist sich aus Fühlen und Dafürhalten. Diese emotionale Seite des Menschen wird geprägt durch Kultur, solange eine solche sich aufrechterhalten werden kann. Man darf sich also fragen, für genau welche Kultur die heutigen prägenden Eliten stehen. Sicher ist, die durch das Christentum bestimmte Kultur bestand aus mehr als den sexuellen Vergehen oder sonstiger Verfehlungen einiger ihrer Priester. Pseudo-Rationalität, egal ob sie als Sozialismus, oder sich anders bezeichnende Rationalität daherkommt kann aus den oben genannten Gründen nicht die Rolle der Kultur übernehmen. Wer sich umschauen kann, findet die Belege.

Klaus Klinner / 05.04.2021

Lieber Herr Cueni, danke für den sehr differenzierten Beitrag. Meine Erfahrungen mit der Institution Religionen und deren Institutionen war zum Glück nie so hautnah negativ. Eine kleine Geschichte dazu: Meine Frau Mutter, nicht gläubig aber traditionell, hatte vom Pfarrer die Rolle zugedacht bekommen, für seine wöchentliche Gesprächsrunde regelhaft einen selbstgebackenen Kuchen abzuliefern, wobei seine Wünsche in Zeiten der absoluten Lebensmittelrationierung, nicht von Bescheidenheit geprägt waren. Der Frust meiner Mutter stieg beinahe wöchentlich, da er a) nie “Lebensmittelmarken” beisteuerte, b) sie zu den Verköstigungen nie eingeladen war und c) das Wort “danke” nicht zu seinem bevorzugten Vokabular gehörte. Nach mehreren Jahren aufgestauten Ärgers, mußte sie ihn um eine kleine amtliche Dienstleistung bitten, die er ihr verweigerte. Ich sehe noch heute ihren hochroten Kopf, als sie ihn mit überschlagender Stimme anschrie: “Ach so, aber meinen Kuchen fressen sie jede Woche.” Ich gebe zu, die harsche Wortwahl lässt - nach heutigen Kriterien - zu wünschen übrig. Allerdings hat sie ihm nie wieder einen Kuchen gebacken. Später hatte ich als knochenharter Atheist mehrmals Gelegenheit auch beeindruckende Männer des Glaubens (bewußt maskulin) kennenzulernen. Es gibt eben, wie überall “solche und solche”.

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