Von Antony P. Mueller.
Michael Esfeld hat ein Buch vorgelegt, das nicht nur für Spezialisten gedacht ist. Er sieht in der Machtballung in der Hand der staatlichen Zwangsgewalt das zentrale Problem unserer Zeit und denkt über Lösungen nach. Eine Rezension.
In seinem neuen Buch „Land ohne Mut. Eine Anleitung für die Rückkehr zu Wissenschaft und Rechtsordnung“ (2023) unternimmt Michael Esfeld, Professor der Wissenschaftsphilosophie an der Universität Lausanne, den Versuch, die Mechanismen aufzudecken, „die zum Regime der real existierenden Postmoderne führen“, wie sie bei der politischen Reaktion auf die Corona-Virenwelle exemplarisch zutage getreten sind. Letztlich geht es dem Autor darum, Schritte aufzuzeigen, wie die „Postmoderne“ überwunden werden kann „um den Weg der Moderne wieder aufzunehmen“. (S. 18)
Esfeld sieht in der Machtballung in der Hand der staatlichen Zwangsgewalt das zentrale Problem unserer Zeit. Diese Machtballung führt zu Hybris und lädt dazu ein, dass eine ideologisch homogene Gruppe unter dem Deckmantel der Wissenschaft versucht, ihre Dominanz in den Medien, im Bildungswesen und im Wissenschaftsbetrieb zu gewinnen. Ein neuer Kollektivismus ist im Entstehen begriffen, der dabei ist, Wissenschaft und Rechtsordnung zu zerstören. Im Wissenschaftsbetrieb hat sich die Hybris breitgemacht, die Naturwissenschaft für allumfassend zu halten. Ein „politischer Szientismus“ ist entstanden, der die Gesellschaft gemäß wissenschaftlichen Vorgaben steuern will.
Während aber die staatlichen Funktionsträger mit der Macht, die ihnen mit dem Gewaltmonopol des Staates gegeben ist, die Durchsetzung des gegebenen Rechts in jeder Situation erzwingen können, werden sie dazu verleitet, den Gebrauch dieser Macht über das gegebene Mandat hinaus auszuweiten. (S. 155) Dabei bleibt aber die Urteilskraft auf der Strecke. In diesem Sinne haben auch die Gerichte bis hin zum deutschen Bundesverfassungsgericht im Corona-Regime versagt. Hybris führt dazu, dass sich der Rechtsstaat selbst zerstört.
Wenn die Staatsgewalt nicht mehr die Freiheit aller negativ sichert als Schutz vor und Bestrafung von ungewollten Eingriffen in die eigene Lebensführung jeder Person, sondern sich anschickt, Freiheit positiv zu befördern, dann schränkt sie Abwehrrechte ein, um Anspruchsrechte zu befördern. Es gilt dann nicht mehr gleiches Recht für alle. Personen haben dann Ansprüche auf bestimmte Förderungen seitens des Staates; die Staatsgewalt holt sich die Mittel, um diese Ansprüche zu erfüllen, indem sie diesbezüglich Abwehrrechte einschränkt. (S. 156)
Die Corona-Politik beruhte auf der postfaktischen Inszenierung einer Bedrohung für alle
Die Funktionsträger der Staatsgewalt werden von der Selbstüberhebung geleitet, dass das zentral beim Staat konzentrierte Wissen dem verstreuten Wissen in der Gesellschaft überlegen sei. Das Wissen, das die Menschen in ihren sozialen Interaktionen und freiwilligen Zusammenschlüssen besitzen, wird beim politischen Szientismus außer Acht gelassen. Dabei wird verkannt, dass ein derartiger Wissensanspruch auf derselben Stufe steht, „wie der vormoderne, religiöse Wissensanspruch um das allgemeine Gute bis hin zum Seelenheil“. (S. 156)
Der auf Platon zurückgehende Anspruch des Szientismus besteht darin, dass die Philosophen, als Experten, nicht nur über technisches Wissen verfügen, sondern auch über die Kenntnis des absolut Guten. Der Szientismus wird politisch, wenn er als ein Programm dient, um Staat und Gesellschaft gemäß wissenschaftlichen Erkenntnissen zu steuern. Wenn es keine Grenze für die politische Herrschaft gibt, da sie sich durch einen umfassenden Wissensanspruch als legitimiert betrachtet, ist das Resultat Totalitarismus. (S. 97)
Für die Wirtschaft bedeutet der „politische Szientismus“, dass der Staat lenkend in die Wirtschaft eingreift. Die Funktionsträger der Staatsgewalt beanspruchen, die wirtschaftlichen Vorgänge besser steuern zu können als der Markt. Dadurch wird aus dem Kapitalismus ein Staatskapitalismus. (S. 159) Eine solche Staatsgewalt, die in Wirtschaft, Bildung und Wissenschaft eingreift, leistet nicht mehr Schutz, sondern stellt eine Gefahr für die offene Gesellschaft dar.
Das Corona-Regime dient dem Autor als anschauliches Exempel der „postfaktischen“ Vorgehensweise, die zum Totalitarismus führt. Die von 2020 bis 2022 praktizierte Pandemiepolitik beruhte nicht auf Fakten, sondern auf der postfaktischen Inszenierung einer die gesamte Bevölkerung umfassenden Bedrohung. Man konnte beobachten, wie sich ein neuer Kollektivismus anbahnte, der wesentliche Merkmale mit früheren Kollektivismen teilte. Wie die vergangenen, so erhebt auch der neue Kollektivismus den Anspruch auf ein moralisch-normatives Wissen um das allgemein Gute in einer Elite von Wissenschaftlern; ein technokratisches Menschenbild, das die Menschen als Objekte ansieht, deren Lebenswege auf dieses Gute hin gesteuert werden können und sollen; die Aufnahme dieses Wissensanspruchs und dieses Menschenbildes in Politik, Wirtschaft und Medien mit dem Herrschaftsanspruch, die Gesellschaft entsprechend zu steuern. (S. 16)
Gefährlicher Trend: das Versagen von Urteilskraft
Kennzeichen dieser postmodernen Politik ist, dass Urteilskraft durch hochspezialisiertes Expertenwissen ersetzt wird, die sich mit der Machtkonzentration in den Händen der Staatsgewalt verbindet. Exemplarisch dafür ist der ursprüngliche Ansatzpunkt der Pandemiepolitik. Eine falsche Modellrechnung wurde von der Politik als wahr und gültig übernommen und führte die politisch Verantwortlichen dazu, drakonische Maßnahmen einzuleiten, die nicht nur unnötig waren, sondern sich zudem noch als äußerst schädlich erweisen sollten. Eine solche Vorgehensweise ist charakteristisch für den politischem Szientismus. Die Anmaßung des Szientismus, alles für das menschliche Leben relevante Wissen sei mit den Methoden der modernen Wissenschaft erfassbar, verbindet sich mit der Macht der Politik. Unter dem Schlagwort „Follow the science“ werden dann Forderungen abgeleitet, um durch politische Zwangsmaßnahmen das menschliche Handeln zu lenken.
Die Corona-Pandemie war eine „postfaktische Pandemie“. Zu keinem Zeitpunkt gab es Fakten, die eine außerordentliche Gesundheitsgefahr für die allgemeine Bevölkerung hätten belegen können. (S. 39) Aber die Panikmacher unter den Wissenschaftlern wurden nicht gestoppt. Vielmehr schafften sie es, sich derart ins Rampenlicht zu stellen, dass einflussreiche Medien den Eindruck vermittelten, sie würden die gesamte Wissenschaft repräsentieren. (S. 55) Diese postfaktische Politik des politischen Szientismus, als ein politisches Programm, das der verfügbaren wissenschaftlichen Evidenz entgegenstand und von der politischen Macht mit Unterstützung der Justiz und der Medien rücksichtslos durchgezogen wurde, hat sich selbstzerstörend für die Wissenschaft und den Rechtsstaat ausgewirkt. Es war nicht Wissenschaft, sondern Scharlatanerie, mit der die deutsche Bundeskanzlerin am 9. Dezember 2020 auf der Grundlage der Stellungnahme der Deutschen Nationalen Akademie der Wissenschaften den harten Lockdown begründete. (S. 47) Die Pandemiepolitik ist ein Musterbeispiel für ein tiefgreifendes und umfassendes Versagen von Urteilskraft bei der sogenannten „Elite“.
Esfeld weist die These zurück, es habe sich bei der Pandemiepolitik um eine Verschwörung gehandelt. Die Sachlage ist schlimmer. Wir haben es mit einem „Trend“ zu tun, mit einer schädlichen geistigen Entwicklungsrichtung: dem Versagen von Urteilskraft. Dieser Trend umfasst Politik, Wissenschaft und Justiz. Er stellt einen Bruch mit den Grundsätzen dar, die die Moderne prägten. (S. 59).
Die Menschenrechte gelten nicht mehr bedingungslos. Der selbstbestimmte Mensch, der eine unveräußerliche Würde hat und grundlegende Rechte der Abwehr ungewollter Eingriffe in die eigene Lebensführung, tritt ab. An seine Stelle tritt ein Mensch, der Rechte zur eigenen Lebensgestaltung von einer politischen Autorität erwirbt, indem er die Bedingungen akzeptiert, die diese Autorität für die Ausübung dieser Rechte setzt. (S. 62)
Neue Form des Kollektivismus führt zu postmodernem Totalitarismus
Eine neue Form des Kollektivismus ist entstanden, der zu einem neuen Totalitarismus führt. Die Privatsphäre schwindet, und die engsten sozialen Kontakte bis hin zum eigenen Körper unterstehen der Verfügungsgewalt des Staates. Experten beanspruchen nicht nur Fachwissen, sondern auch, die maßgebliche Autorität der Moral zu sein. Bei diesem Machtanspruch dominiert die technokratische Sicht auf den Menschen als Objekt, das beherrscht werden kann und soll. Ein Anspruch, der zu Ende gedacht, zur Eugenik führt. (S. 66)
Besonders gefährlich wird der postmoderne Totalitarismus dadurch, dass sein jeweiliger Bezugspunkt dem Zufall je nach den sich bietenden Gelegenheiten unterworfen ist. Die sich abwechselnden Narrative führen in ihrem Zusammenwirken dazu, dass die offene Gesellschaft zu einer geschlossenen wird. Ohne faktische Grundlage folgt ein Ausnahmezustand dem anderen. Eine Inszenierung folgt der nächsten. Nach der Bedrohung durch angebliche Killerviren kommt die Warnung vor einem menschengemachten Klimawandel. Soziale Gerechtigkeit zu beanspruchen, erlaubt es allen möglichen Gruppierungen, sich als Opfer darzustellen und Solidarität einzufordern. Der Anspruch reicht weltweit. Nationale Grenzen gelten dabei nicht. Wir haben es mit einer Regimefolge zu tun, wobei jede Phase die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der heimischen Wirtschaft künstlich schwächt. Durch diese von der Politik herbeigeführten Erlahmung wird dann der Anspruch erhoben, die staatlichen Kontrollen weiter auszubauen und die knapper werdenden Mittel seitens der Regierung zuzuteilen. (S. 75)
Die „real existierende Postmoderne“ manifestiert sich als Regime des reinen Machtgebrauchs. Von früheren totalitären Regimen unterscheidet sich dieses Regime dadurch, dass an die Stelle des einen großen Narrativs viele kleine Narrative treten. Deshalb geht die real existierende Postmoderne – im Unterschied zum Kommunismus oder Nationalsozialismus – nicht zu Ende. Wenn eines dieser Narrative (wie das Corona-Narrativ) zusammenbricht, folgt dann schnell das nächste Narrativ (wie zum Beispiel das Klima-Narrativ). Dadurch wird das Regime umfassender sozialer Kontrolle aufrechterhalten. (S. 92)
Wiederbelebung der Moderne
Esfeld entwickelt seine Analyse auf der Grundlage von Etappen der europäischen Geistesgeschichte, die ihn von den griechischen Philosophen (Sokrates, Platon, Aristoteles) ausgehend, über die Philosophie der Neuzeit (Hobbes, Descartes und Kant) zur „Postmoderne“ führen. Dabei interpretiert der Autor die Postmoderne als Abirrung vom Pfad der Moderne und bestimmt die Wiederbelebung der Moderne als Ziel der Analyse. Dass die Freiheitsrechte bedingungslos gelten, ist das Kennzeichen der Moderne, das in der Postmoderne unterging. Für die Moderne besitzen die Freiheitsrechte bedingungslose Geltung, weil sie in der Natur des Menschen begründet sind. Freiheit steht über der Wissenschaft. Wissenserwerb und Macht sind der Freiheit untergeordnet. Diesem Grundsatz steht allerdings die Existenz der Staatsgewalt entgegen, denn wenn einmal eine Staatsgewalt mit Gewaltmonopol auf einem Gebiet besteht, dann geht dies mit der Tendenz zur Ausweitung ihrer Macht einher – und zwar unabhängig davon, wie diese Gewalt aufgebaut sein mag und welche Mechanismen zu ihrer Kontrolle bestehen. (S. 151).
Wie die Wissenschaft wird auch der Rechtsstaat durch seinen eigenen Erfolg zu Hybris verführt. Dessen Hybris besteht in der Ausweitung der Machtballung, die mit dem Gewaltmonopol des Staates verbunden ist, dahingehend, Freiheit nicht nur negativ zu schützen, sondern auch positiv durch die Erfüllung von allerlei Ansprüchen zu befördern: der Fürsorgestaat. Die Existenz eines solchen Staates provoziert Hybris bei wirtschaftlichen Akteuren, ihre Risiken auf den Staat abzuwälzen und staatliche Eingriffe zu ihren Gunsten unter dem Vorwand eines angeblichen Beitrags zum Allgemeinwohl zu fordern. Diese Entwicklung führt zur ersten Phase der real existierenden Postmoderne. (S. 167 f.)
Für einen Lösungsansatz der mit der Machtkonzentration verbundenen Problemlage, wie sie exemplarisch in der Pandemiepolitik ab März 2020 zum Ausdruck gekommen ist, führt Esfeld die Leitmotive der Französischen Revolution von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit als Orientierung an: Ziel ist eine sich selbst organisierende Gesellschaft statt einer durch Machtkonzentration bei der Staatsgewalt organisierten. Daraus ergibt sich der Anknüpfungspunkt, um die Moderne wiederzubeleben und die Zukunft zurückzugewinnen. Sich auf Rudolf Steiner beziehend, deutet der Autor eine Orientierung an einer Dreigliederung des sozialen Lebens an, wonach Gleichheit sich auf das Rechtsleben mit gleichem Recht für alle bezieht, die Brüderlichkeit auf das arbeitsteilige Wirtschaftsleben und die Freiheit auf das Geistesleben. (S. 174)
Michael Esfeld hat ein Buch vorgelegt, das nicht nur für Spezialisten gedacht ist. Seine Ausführungen sind reich an konkreten Beispielen, die vor allem aus der Pandemiepolitik entnommen sind. Die Theorien der Postmoderne und des politischen Szientismus werden nicht speziell vertieft, sondern dienen als Anker, um die Analyse zu leiten. Es ist so eine Arbeit gelungen, die sich nicht in Abstraktheiten verliert, sondern in erster Linie auf hohem intellektuellem Niveau anschaulich informiert.
Antony Peter Mueller ist promovierter und habilitierter Wirtschaftswissenschaftler der Universität Erlangen-Nürnberg. Diese Rezension erschien zuerst bei misesde.org.
Redaktioneller Hinweis:
Michael Esfelds neues Buch „Land ohne Mut“
Eine Allianz aus Wissenschaft und Politik erhebt immer häufiger den Anspruch, über Erkenntnisse zu verfügen, die es rechtfertigen, sich über die Freiheit der einzelnen Menschen hinwegzusetzen. Die leidvollen Erfahrungen in der Covid-Krise haben gezeigt, wie auf diese Weise großer Schaden angerichtet werden kann. Das neue Buch von Professor Michael Esfeld ist ein Aufruf zu mehr Widerspruch und Zivilcourage. Durch die Rückkehr zur Vernunft können wir den Angriff der Kollektivisten auf die offene Gesellschaft und den Rechtsstaat abwehren.
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