Wolfgang Meins / 02.01.2019 / 06:25 / Foto: Hani.md / 58 / Seite ausdrucken

Wenn der Spiegel-Reporter ein Gefühl hat

Im Zuge der aufkommenden Flüchtlingskrise war das ebenso einfache wie vollmundige Mantra: „Sagen, was ist!“, endgültig zu einem running gag verkommen. Dass nun aber ausgerechnet die Spiegel-Geständnis-Ausgabe vom 22.12.2018 dieses Motto trägt, offenbart ein Ausmaß von Desorientiertheit bei den Verantwortlichen, das auch für die Zukunft des Blattes nichts Gutes verheißt. Denn wer es schafft, über einen Zeitraum von mehreren Jahren die Konstruktion einer fiktiven Realität nicht unterscheiden zu können von dem, was tatsächlich ist, sollte sich, wenn nicht gar einen neuen Beruf, so doch zumindest einen neuen Slogan zulegen. 

Als Lichtblick in der Affäre wird von einigen Kommentatoren angesehen,  dass dieses mediale Desaster schließlich mit journalistischen Mitteln aufgeklärt worden sei. Gemeint ist die entsprechende Undercover-Recherche des Spiegel-Reporters Juan Moreno. Liest man allerdings dessen Beschreibung mit einem kritischen medizinischen Blick, fällt doch reichlich Schatten auf die vermeintliche Lichtgestalt Moreno. 

Seine Geschichte trägt den Titel: „Es war ein Gefühl“. Entstanden sei bei ihm dieses auf den Kollegen bezogene Gefühl „lange bevor Relotius beim Spiegel anfing“. Und zwar durch die Lektüre eines Relotius-Artikels, in dem es um den „angeblich ersten Steuerberater im sozialistischen Kuba“ gegangen sei. Moreno lässt sehr deutlich durchblicken, damals wesentliche Aussagen dieses Artikels nicht geglaubt, also für  erlogen gehalten zu haben. Bei dem vermeintlich in erster Linie emotionalen Vorbehalt gegenüber Relotius handelte es sich tatsächlich also zunächst um Kognitionen im Sinne von Gedanken, erst dann folgte die emotionale Etikettierung eben dieser Gedanken.

In den folgenden, ja wohl etwa zehn Jahren habe er Relotius nie persönlich getroffen oder bei Spiegel-Weihnachtsfeiern auch nur bewusst wahrgenommen. Das mag sein, auch wenn es nicht sonderlich überzeugend klingt. Schließlich war Relotius bald nach dem Kuba-Artikel ja nicht nur Kollege beim Spiegel, sondern stieg deutschlandweit und sogar ein bisschen darüber hinaus (CNN!) zum Starreporter auf. Und da will es Moreno so überhaupt nicht interessiert haben, was dieser Stern am deutschen Journalistenhimmel für ein Typ ist und wie er aussieht?

Aber es kommt noch besser beziehungsweise unglaubwürdiger. Denn Moreno erweckt damit auch den Eindruck, er habe seit dem Kuba-Artikel keinen weiteren Text seines Kollegen gelesen. Erwarten würde man aber doch wohl, dass ein Reporter, der bei einem Kollegen einen starken Fake-Verdacht oder gar die entsprechende Gewissheit hegt, fortan alles, was dieser produziert, mit Argusaugen dahingehend prüft, ob es sein initiales Urteil bestätigt oder nicht. Besonders, wenn dieser Kollege mit Auszeichnungen überschüttet wird. 

Männer und Gefühle

Hätte er tatsächlich Relotius und dessen Schaffen über die Jahre völlig ausgeblendet, wäre zudem seine emotionale Reaktion auf die im Herbst 2018 von oben angeordnete, gemeinsame Reportage völlig unplausibel. Als er nämlich den Auftrag erhielt, mit Relotius zusammen eine Geschichte zu schreiben, habe er das innerlich nicht gewollt und sich benommen „wie ein selten bockiger Idiot“. Warum, habe er sich selbst gegenüber nicht „vernünftig erklären“ können. „Wie gesagt, ein Gefühl.“ 

Tja, könnte man jetzt sagen: Männer und Gefühle. Ein zweifellos großes, aber oft auch schwieriges Thema. Oft, aber eben nicht immer. Denn der vorliegende Fall ist überhaupt nicht schwierig. Moreno möchte offenbar nur den Eindruck erwecken, es verhielte sich so, indem er das Stereotyp vom Mann bedient, der ob seiner Geschlechtszugehörigkeit keinen Zugang zu seinen Gefühlen und ihren Ursachen hat. Dabei dürfte es ihm schlicht nicht opportun erschienen sein, sein Innenleben in dieser Sache öffentlich zu machen. 

Zunächst einmal weist das bei den Gedanken an die anstehende Zusammenarbeit mit Relotius aufkommende starke und ganz offensichtlich irgendwie ungute Gefühl überdeutlich darauf hin, dass Moreno sich sehr wohl wiederholt mit Relotius und dessen Arbeiten beschäftigt haben muss. Denn eine etwa zehn Jahre zurückliegende, einmalige und wahrscheinlich unscharfe emotionale Etikettierung eines Gedankens reicht in aller Regel nicht aus, um eine stabile Konditionierung zwischen Gedanken und Gefühl herbeizuführen. Denn letztlich basiert eine solche Konditionierung auf einem organischen Substrat, also einer neu entstandenen Verschaltung im Gehirn. Lediglich bei einer starken traumatischen Erfahrung – etwa einer Vergewaltigung oder einem Überfall – kann bereits ein einziges Ereignis mit den dazugehörigen Gefühlen sich dauerhaft oder langanhaltend verknüpfen. Im Falle Relotius dürften sich dem Reporter Moreno in den letzten Jahren mehrfach – mal mehr und mal weniger – die Nackenhaare gesträubt haben, wenn er dessen teils unglaubliche Geschichten las. Bis schließlich der Name Relotius und die dadurch immer wieder ausgelösten Gefühle eine feste Verbindung eingegangen waren. 

Keine "good vibrations" ausgelöst

Klar ist, dass bei Moreno im Herbst 2018 der Gedanke an die bevorstehende Zusammenarbeit mit Relotius keine good vibrations ausgelöst hat, sondern das pure Gegenteil, nämlich vorrangig Ärger, aber wahrscheinlich auch Wut und Angst. Wer würde sich nicht über den super erfolgreichen Kollegen ärgern, der mit seinen Lügengeschichten reüssiert und locker an allen vorbeizieht. Da kann dann bloßer Ärger auch leicht in pure Wut umschlagen. Auch weil ansonsten niemandem – und schon gar nicht den Häuptlingen – irgendetwas aufzufallen scheint. 

Und damit sind wir bei der zweiten starken Gefühlsquelle: der Unfähigkeit und Verblendung von Kollegen und Vorgesetzten. Wie kann es sein, dass die Relotius immer noch auf den Leim gehen? Gemeinsam mit einem Gefühl zunehmender Hilflosigkeit wächst nun bei Moreno auch der Ärger auf Kollegen, Vorgesetzte und schließlich sich selbst: Kann er wirklich bei diesen ignoranten Vorgesetzten nichts gegen Relotius unternehmen? Oder kann er es doch – und ist vielleicht einfach nur zu feige, weil er um seinen Arbeitsplatz fürchtet? Emotionen über Emotionen, Fragen über Fragen. Und dann soll er auch noch mit dieser Person zusammenarbeiten? Das weckt zusätzlich Ängste, nämlich im schlimmsten Fall als Mitautor eines Fakes (mit) unterzugehen. 

Moreno hatte also gute Gründe, seinen Gefühlshaushalt, der grundsätzlich nie von den dazugehörigen Gedanken zu trennen ist, für sich zu behalten. Auch wenn er sich schlussendlich mit seiner Undercover-Ermittlung elegant aus der Affäre gezogen und dem Relotius-Spuk ein Ende bereitet hat, bleibt sein Beitrag für die Gesamtaufklärung der Affäre bisher sehr überschaubar. Da geht eindeutig noch mehr. 

Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Wolfgang Meins ist Neuropsychologe, Arzt für Psychiatrie und Neurologie und apl. Professor für Psychiatrie. In den letzten Jahren überwiegend tätig als gerichtlicher Sachverständiger im sozial- und zivilrechtlichen Bereich.

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Leserpost

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Mathias Kleinert / 02.01.2019

Zufällig las ich heute nachmittag das Buch “Eine Stimme in der Nacht” von Andrea Camilleri. Im Buch biedert sich der Journalist Ragonese bei der Politik und der Mafia an. Die folgende Passage hat mich direkt an diesen Artikel erinnert: “Journalisten wie Ragonese dagegen hörten nur eine Seite, die Seite ihrer Herren. Und oft konnte man nicht einmal sagen, dass sie es für Geld taten. Aber warum dann? Darauf gab es nur eine Antwort: Sie waren die geborenen Untertanen. Gemäß ihrer Natur unterwarfen sie sich freiwillig jedem, der die Macht in Händen hielt.” Ich denke, das passt auch hier. Moreno dürfte die “Werke” von Relotius über die Jahre genau verfolgt haben. Ob er das nicht schreiben durfte oder in vorauseilendem Gehorsam gleich selbst beschönigt hat, werden wir wohl nie erfahren.

Michael Genniges / 02.01.2019

Von diesem psychologischen Verdammungsversuch halte ich wenig.  Das von Moreno verwendete Wort “Gefühl” entspricht nicht dem, was der Psychologe meins daraus macht, es hat eher die Bedeutung von “Ahnung”. Ich sehe keinen Grund, an Morenos Darstellung an irgendeinem Punkt zu zweifeln, sie erscheint mir vielmehr durchaus schlüssig.

Peter Bruder / 02.01.2019

SPON hat sich nun nach 4 Tagen doch noch zu Amberg geäussert. Offenbar aber nur um die sozialen Netzwerke als Trollfabriken zu denunzieren und kritische Stimmen mundtot zu machen. Die sozialen Netzwerke sind zusammen mit Adblockern die grösste Bedrohung für die Presse weil sie die Werbeeinnahmen zum versiegen bringen, deshalb der pathologische Hass. Getrackt, ausspioniert mittels Trackern, manipuliert bzw. belogen wird man auch von den herkömmlichen Medien.

Andreas Rochow / 02.01.2019

Moreno müsste sich selbst “belasten”, wollte er die jahrelange Verschleppung seiner Anzeige anders als “gefühlsbedingt” erklären. Das hat weniger mit spezifisch männlichen Seelenfunktionen als mit Strategie und Taktik des Selbstschutzes zu tun. Vielmehr dürfte er schon frühzeitig clever (Kognition!) wahrgenommen haben, dass es bei der herrschenden Stimmung des SPIEGEL Wahrheiten gab, die weniger willkommen waren. Ohne klare Beweise hätten seine Zweifel an der Ehrlichkeit gegen den Überflieger Relotius auch als Ausdruck von Neid und Missgunst gewertet werden können. Gleichzeitig hätten sie als Kritik an der Verantwortungshierarchie im Verlagshauses gedeutet werden können, mit nicht kalkulierbaren Konsequenzen. - Die lächerlichen Bemühungen, den Fall Relotius als einen “bedauerlichen Einzelfall” darzustellen, gilt es heute zu entlarven. Die Hürden für ein reinigendes Mea Culpa des Spiegel-Verlagshauses, des Schlachtschiffs sind extrem hoch! Entsprechend hoch wird der Druck auf Kollegen/Zeugen sein, denn im Hintergrund steht immer die Frage: Wie wird es für mich persönlich weiter gehen? So funktionieren Clans.

Mike Loewe / 02.01.2019

Der Spiegel muss nun öffentlich etwas zum Skandal hochpushen, was aus interner Sicht gar keiner ist, weil ziemlich normal. Das ist die eigentliche Anstrengung. Innerhalb des homogenen Schleims aus Auslassungen, Hinzudichtungen und Veränderungen muss nun ein sichtbarer Unterschied konstruiert werden, ansonsten würden wahrscheinlich die meisten übrigen Spiegel-Reporter wie Dominosteine ebenfalls fallen. Aber auch in der Mehrheit der Medienkonkurrenz wird man sich fragen, ob man das Szenario decken oder aufdecken soll, aber ein Aufdecken würde auch in den jeweils eigenen Häusern zu weiteren Dominoeffekten führen, also lieber mitspielen. Die Minderheit der Medien, die an Wahrheit interessiert sind, wird es dagegen weiterhin schwer haben.

Claudia Maack / 02.01.2019

Ein Journalist kennt den Stil der eigenen Kollegen ganz genau. Und wenn ein Journalist einen echten Verdacht hat, dann sucht er im Text akribisch nach Bestätigung seiner Vermutung und findet auch die Fehler.  Angeblich waren “singende Kinder” so ein bemühtes Bild des Herrn Relotius. Moreno hat sich vermutlich bei singenden Kindern und ähnlichen wiederkehrenden Relotius-Stereotypen lachend auf die Schenkel geklopft. Aber wozu zum Chef gehen und sich eine blutige Nase holen? Lass den Kollegen doch weiterlügen. Haarig wurde es für Moreno erst, als sein eigener Name betroffen war. Den wollte er nicht versauen. Erst da wird ein Journalist aktiv. Vorher doch nicht. Bringt doch nichts. Zudem hatten die Amerikaner schon durchgeladen. Wie praktisch! Gewusst hat es Moreno schon lange, da bin ich sicher.

H. Volkmann / 02.01.2019

Wenn ein Psychologieprofessor und Sachverständiger das fragwürdige Verhalten eines Tatverdächtigenn beschreiben soll, das ein kluger Bauer durch Nachdenken genauso sicher kann, dann benutzt er Beschreibungen, wie: “wahrscheinlich unscharfe emotionale Etikettierung ( was ist das denn? ) eines Gedankens ... (und ) ...basiert eine solche Konditionierung auf einem organischen Substrat ....  dauerhafte Verknüpfung ”  u. Ä. Das iWortgeklingel hört sich ja fast analog zu Relotius’ Texten an.  Diese Unsitte unangebrachter Beschreibungen, durch die kein Mensch klüger wird, scheint es neben dem Journalismus genauso in den Wissenschaften schon immer zu geben. Also , lieber Herr Professor Meins, kommen Sie den einfachen Menschen mal entgegen und drücken Sie sich einfach aus.

Jutta Berg-Schlosser / 02.01.2019

Herzhaft gelacht - wenn auch mit sehr bitterem Beigeschmack - habe ich bei Lektüre der SPIEGEL-Reportage über Chemnitz an der Stelle, wo es um den Auslöser für den Mord an Hillig ging: ” Einer meint, es sei um ein Feuerzeug gegangen. Ein anderer, jemand habe eine EC-Karte haben wollen, womöglich um eine Linie Kokain zu ziehen. Am Ende liegt Hillig am Boden, einer der fünf Messerstiche hat seinen Herzbeutel getroffen, die Lunge ist verletzt…” Also ich benutze meine EC-Karte fast ausschließlich zum Geld abheben. Ok, ich kokse nicht.

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