Henryk M. Broder / 23.09.2024 / 06:25 / Foto: K.I / 82 / Seite ausdrucken

Wenn der Schaffner nicht mehr klingelt – Deeskalation auf Thüringer Art

Bahnfahren kann auch ein Abenteuer sein, zum Beispiel auf der Strecke von Suhl nach Erfurt in Thüringen. Da können die Zugbegleiter seit Kurzem selbst entscheiden, ob sie die Fahrscheine ausländischer Gäste kontrollieren oder es sein lassen und „Deeskalation“ praktizieren.

Wer seinen „Erlebnishunger an aufregenden Destinationen stillen“ oder sich „im Urlaub wie ein Entdecker aus dem 19. Jahrhundert fühlen“ möchte, dem bietet eine auf „Abenteuer-Reisen“ spezialisierte Agentur „Erlebnisreisen“ in ferne Länder an, wo der Besucher „faszinierende Tierwelten entdecken, einmalige Pflanzen bewundern und erlebnisreiche Ausflüge und Touren in unberührte Natur unternehmen“ kann, u.a. in Patagonien, Botswana und auf der russischen Halbinsel Kamtschatka.

Solche Reisen sind natürlich nicht billig, sie müssen sorgfältig geplant und vorbereitet werden. Menschen mit einem kleineren Geldbeutel oder einer ausgeprägten Flugangst, die nicht um die halbe Welt fliegen können, um unberührte Natur zu erleben, müssen dennoch nicht zu Hause bleiben. Sie können ihren „Erlebnishunger“ auch in der Heimat stillen. Indem sie mit einem Zug der Süd-Thüringen-Bahn von Erfurt nach Suhl fahren oder andersrum von Suhl nach Erfurt.

Diese Verbindung wird gerne von „Personen“ benutzt, die „weder im Besitz gültiger Fahrausweise“ sind noch „über entsprechende Zahlungsmittel zum Erwerb eines gültigen Fahrausweises“ verfügen. Was zur Folge hat, dass die Schaffner und Schaffnerinnen bei derartigen Kontrollen „nicht selten verbal und in immer stärkeren Maßen auch handgreiflich attackiert (werden)“. Mit etwas Glück kann man auch erleben, „dass Vertreter dieser ‚Reisegruppe(n)‘ sich ihrer Beinkleider“ entledigen und „tiefste Einblicke in ihre Intimbereiche“ gewähren oder „auf freier Strecke“ die Notbremse betätigen. Fragt man den Schaffner, warum solche „Fahrgäste“ nicht des Zuges verwiesen werden, sagt er, so eine Maßnahme könnte für das Personal des nachfolgenden Zuges „eine noch größere Gefahr“ darstellen, da die des Zuges Verwiesenen dann „noch aggressiver auf diese Kollegen losgehen“ würden. 

Ein Hilferuf an den Ministerpräsidenten

Diese Sätze stammen nicht aus dem Katalog eines Erlebnisreisen-Anbieters, sie stehen in einem vier Seiten langen Brief des Betriebsrates der Süd-Thüringer Bahn an den Ministerpräsidenten des Freistaates Thüringen, Bodo Ramelow. Es ist ein Hilferuf, nachdem „in den letzten Wochen und Monaten die Sicherheitslage in den Nahverkehrszügen der STB eine dramatische und mehr als bedrohliche Wendung und Entwicklung annahm“. Ursächlich für die Situation seien „vermehrt Fahrgäste unserer Züge, welche im Allgemeinen als ‚Personen mit Migrationshintergrund‘ beschrieben werden“; „nicht alle, aber die meisten“ seien Bewohner der „Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge“ in der Stadt Suhl.

Ramelow reagierte umgehend, bedankte sich „herzlich“ für „Ihr aufrüttelndes Schreiben“ vom 15.3. und versicherte, „als Ministerpräsident Thüringens und als Mensch“, sei er der Auffassung, „dass sich alle, die in unserem Land leben, an die in unserem Land geltende ‚Hausordnung‘, also die Normen, Regeln und Umgangsformen zu halten haben“, egal „ob sie in unserem Land geboren oder zugezogen sind“. Er werde gemeinsam mit der Bahn und anderen Stellen „nach adäquaten Lösungen suchen“. 

Nicht angewiesen, nicht mehr zu kontrollieren

Tatsächlich ist inzwischen einiges passiert, „um das Bahnfahren zwischen Erfurt und Suhl wieder sicherer zu machen“, berichtete die Thüringer Allgemeine Mitte Juli. Die Bundespolizei informiere „Asylsuchende über Regeln im Bahnverkehr“, das Land Thüringen habe 336.000 Euro „für den Einsatz zusätzlicher Sicherheitskräfte“ versprochen.

Den wichtigsten Beitrag zur Befriedung der Lage werden allerdings die Zugbegleiter leisten. Man habe sie „nicht angewiesen, Fahrscheine ausländischer Gäste nicht mehr zu kontrollieren“, gab eine Sprecherin der Süd-Thüringer Bahn vor kurzem bekannt, „lediglich in schwierigen Situationen können unsere Mitarbeiter zur Deeskalation selbst entscheiden, wie sie vorgehen“.

Das verdruckste „Nein, aber“ der Bahnsprecherin fasste die Thüringer Allgemeine in einer Titelzeile zusammen: „Keine Kontrolle, wenn es brenzlig wird.“ Praktisch gesehen, mag das durchaus richtig sein. Warum sollen Zugbegleiter für die Fehler und Versäumnisse der Politik haften? Warum sollen sie ihre Gesundheit und ihr Leben aufs Spiel setzen? Sie waren es nicht, die „Wir schaffen das!“ gerufen haben.

Andererseits: Wenn die Zugbegleiter deeskalieren, wird das Bahnreisen langweilig. Und Thüringen begibt sich um die Chance, jemals in einen Abenteuerreisen-Katalog aufgenommen zu werden. 

 

Henryk M. Broder ist einer der Herausgeber der Achse des Guten.

Foto: K.I

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Leserpost

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B. Endres / 23.09.2024

Womöglich wollen sich die von der Bundespolizei über Unsereregeln im Bahnverkehr aufgekärten Asyslsuchenden auch nur bessere Arbeitsmöglichkeiten schaffen. Die zusätzlichen Sicherheitskräfte mit denen Buntland ohnehin schon bis zum Anschlag vollgestopft ist werden ja regelmässig aus diesem Milieu rekrutiert. Was ebenso regelmässig wenig zum Sicherheitsbefinden der weniger als Personen mit Migrationshintergrund Beschreibbaren beiträgt, auch wenn es natürlich ein ganz schlimm rassistisches Vorurteil wäre zu behaupten, dort würde nach Stammeszugehörigkeit, vielfaltssensibel gewissermassen, “gesichert”.

B. Endres / 23.09.2024

Solche Jagdszenen aus dem buntdeutschen Nahverkehr kennt jeder, der sich noch an den Bahnsteig oder gar an Bord wagt. Auch ein Thüringer Betriebsrat kann sich kritische Töne zur Deutschen Vielfalt nur leisten, weil der Genosse Ramelow gerade etwas inkapazitiert ist, laut Rassismus!!! zu brüllen. In 2017 hatte ein Bekannter mal gewagt, im Württembergischen eine “Deeskalation“ gegenüber im Allgemeinen als Personen mit Migrationshintergrund Beschreibbaren zu monieren. Gab penetrante Ermahnungen zu Verständnis und Toleranz vom Zugpersonal und finsterste Blicke vom bestdeutschen Volk. Diese gewaltige Kraft des Miteinander der gemeinsam vielfältigen Gesellschaft, um mal Deutschlands klügste Aussendarstellerin aller Zeiten zu paraphrasieren, lässt sich nirgendwo besser geniessen als in der Bahn. Wobei der Fernverkehr zunehmend mit dem Nahverkehr gleichzieht.

D.Graue / 23.09.2024

Langsam aber sicher kann ich den hohen finanziellen Aufwand, verursacht durch exorbitanten Verschleiß an Tischplatten - hervorgerufen wiederum durch unablässiges Aufschlagen meiner oberhalb des Halses befindlichen Extremität - meiner Frau gegenüber nicht mehr rechtfertigen. Gibt es da Fördermittel oder Ähnliches, an welche Stelle kann man sich als Betroffener wenden?

Sam Lowry / 23.09.2024

Ich stieg mal nachts in Hamburg HBF (Lebensgefahr) in einen Zug nach Koblenz HBF (Lebensgefahr) und wollte nur schlafen. Binnen weniger Minuten stand die Kripo im Abteil und hat mich komplett auf Links gedreht inkl. Taschenkontrolle pp. Bei Deutschen (ich fühle mich als Schweizer) geht das natürlich…

Gerd Heinzelmann / 23.09.2024

Haben Sie kein schlechtes Gewissen, weil Sie mit allen Waffen kämpfen, Herr Broder? Nihilismus ist nicht meins, auch nicht das Japans. Das haben Sie falsch verstanden. Die USA haben mit Shinzō Abe einen Ihrer besten Freunde verloren. Sind Sie mir jetzt böse, Herr Broder?

sybille eden / 23.09.2024

Wozu fährt dieser Zug überhaupt noch ? Gibts da keine Fahrräder ?

Dirk Jürgens / 23.09.2024

Fällt das nicht unter Racial Profiling?

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