Es ist eine Crux mit der Aufarbeitung in deutschen Landen. Die berühmt-berüchtigte deutsche Gründlichkeit schlägt regelmäßig nach zwei Seiten hin aus. Beide Positionen sind extrem und beide Positionen werden von denselben Leuten zugleich vertreten. Der Spagat, den sie dabei hinlegen, scheint ihnen – wohlwollend ausgedrückt – gar nicht bewusst zu sein. Wenn die eine Ideologie, die genauso zu Terror, Folter und Massenmord führt wie die andere, trotzdem beschönigt und ihr weiterhin unterstellt wird, für eine gute Sache zu stehen, die bisher – leider, leider! – nur schlecht und von den falschen Leuten ausgeführt worden sei, dann ist das moralisch hochgradig verwerflich und geschichtspolitisch ein Desaster.
Dieses Messen mit zweierlei Maß hat dazu geführt, dass in weiten Teilen der Jüngeren und jener, die heute „mitten im Leben stehen“, das wahre Ausmaß des sozialistischen, respektive des kommunistischen, Terrors (siehe hier und hier) schlicht nicht bekannt ist. Das Wissen darüber war und ist bis heute so gut wie nie Bestandteil des Unterrichts an Schulen gewesen. Namen wie Alexander Solschenizyn („Der Archipel Gulag“) oder Lew Kopelew („Aufbewahren für alle Zeit!“) habe ich in der Schule kein einziges Mal gehört. Wenn denn zu Zeiten der Teilung im Westen überhaupt über den Sozialismus gesprochen wurde, dann gerade nicht über den real existierenden, sondern bestenfalls in dem Sinne, dass die Deutschen drüben das bessere Gesellschaftssystem erwischt hätten und sie sich trotz aller seiner Mängel doch glücklich schätzen könnten.
Theo Sommer und sein Redaktionsteam von der ZEIT waren die Relotiusse ihrer Zeit, bezeugt in einem Buch mit dem Titel „Reisen ins andere Deutschland“ (erschienen 1986), in dem sie aus ihrem Schwärmen über Honeckers Staat gar nicht mehr herauskamen:
„Die DDR ist eine einzige Großbaustelle. Allenthalben wird rekonstruiert, modernisiert, saniert. Straßenzug um Straßenzug wird hergerichtet, Baulücke um Baulücke gefüllt, Stadtkern um Stadtkern erneuert.“
Dass in Wahrheit ganze Straßenzüge zusammenbrachen, die Versorgungslage grottenschlecht war, man gut und gerne zehn Jahre auf seine eigene „Rennpappe“ oder ewig auf ein eigenes Telefon warten durfte und im übrigen jedes „abweichende Verhalten vom Normalen“ (Stasi-Jargon) als „asozial“, andere Meinungen als die der Parteiführung als „staatsfeindlich“ galten, für die man schnell „zugeführt“ und „zersetzt“ werden konnte – das kümmerte nur wenige im freien Westen. Man redete sich das Leben unter einem Regime schön, das man selbst nicht ertragen musste. Den schönen sozialistischen Traum, den wollten viele sich nicht durch den realen Albtraum kaputtreden lassen. Bis heute.
Den Bock zum Gärtner machen
Dies hat einige Leser hier auf der Achse zu der Feststellung veranlasst, die Westdeutschen wären heute „die besseren DDR-Bürger“ gewesen. Ein Kompliment ist das nicht. Zur Ehrenrettung der Westdeutschen sei gesagt, dass längst nicht alle so tickten und ticken. Doch es gab und gibt gerade unter den Tonangebenden in Politik und Medien (sowie nicht zuletzt unter Lehrern) nicht wenige, die sich lange einem verbrecherischen Regime andienten oder es zumindest beschönigten und die ihr damaliges Verhalten bis heute verteidigen oder verniedlichen. Darunter fallen vor allem die Achtundsechziger, die sich, wenn es um die andere, die braune, Vergangenheit geht, gerne das Etikett an die Brust heften, überhaupt erst eine Aufarbeitung veranlasst zu haben. Das stimmt zwar so nachweislich nicht, doch wenn man dies nur oft genug wiederholt, glauben es irgendwann alle.
Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass die interne „Fachtagung“ in dieser Woche, ausgerichtet von der die mit Steuergeldern unterstützten Amadeu Antonio Stiftung, gegen vermeintlich „Rechte“ in der Aufarbeitung der SED-Diktatur, kaum zu Protesten geführt hat ("Der rechte Rand der DDR-Aufarbeitung"). Hier eine kritische Ausnahme in der BZ. Wie mittlerweile bekannt sein dürfte, wird die Amadeu Antonio Stiftung von einer ehemaligen IM (siehe hier und hier) geleitet, die das Bespitzeln und Denunzieren sozusagen von der Pike auf gelernt hat. Hier wird der Bock zum Gärtner gemacht, und die Mehrheit schaut weg. Dabei wäre es so wichtig, dass gerade jene, die persönlich nicht betroffen sind, ihre Stimme für die Opfer erheben, damit sie spüren, dass sie nicht alleingelassen werden.
Ausgerechnet die Verhöhnung der Opfer aber ist geradezu symptomatisch für die (Nicht-)Aufarbeitung der zweiten deutschen Diktatur. Dieses Wegschauen ist kein Randphänomen, sondern geht bis tief in die CDU hinein. Mit der West- und Ost-CDU wuchs nach dem Vereinigungsparteitag am 1. Oktober 1990 zusammen, was nur in den Gründungsjahren der CDU zusammengehörte. Nach der ersten freien Volkskammerwahl blieb der CDU im Westen allerdings gar nichts anderes übrig, als mit der ungeliebten Ost-CDU zusammenzuarbeiten, weil sie bei der einzigen freien Volkskammerwahl am 18. März 1990 die mit Abstand meisten Stimmen auf sich vereinen konnte. Dies lag mitnichten daran, dass die Ostdeutschen einen plötzlichen Gesinnungswandel durchgemacht hätten. Es lag schlicht und ergreifend daran, dass viele wegen desselben Namens in der CDU nur die Partei Helmut Kohls sahen und wohl auch sehen wollten. Kohl sprach sich in den Revolutionstagen 1989/90 klar und unmissverständlich für eine Wiedervereinigung aus. Das war für viele ausschlaggebend. Hier hob Kohl sich scharf ab von dem Kanzlerkandidaten der SPD, Oskar Lafontaine, der gegen die Ostdeutschen, genauso wie gegen die Deutsche Einheit, übel polemisierte.
Schuldiges Schweigen
Der Fehler der CDU lag darin, dass sie sich nicht eindeutig von Funktionären und ehemaligen Stasi-Spitzeln in ihren Reihen abgrenzen mochte. Deshalb geriet auch die „Rote-Socken-Kampagne“ von 1994 für sie eher zu einem Bumerang. Ihre Glaubwürdigkeit litt, weil sie sich nur halbherzig gegen ehemals aktive Mitläufer des SED-Regimes stellte. Die SPD und die Grünen (West) wiederum hatten ohnehin keinerlei Interesse daran, Licht in ihre Kungeleien mit den SED-Machthabern zu bringen.
Die PDS als der lachende Dritte verstand es meisterhaft, sich als Wolf im Schafspelz zu gerieren. Sie, die als umbenannte SED unmittelbare Verantwortung für eine Vergangenheit trug, in der 17 Millionen Deutsche brutal unterdrückt wurden, erklärte sich selbst zur einzig wahren Interessenvertretung der Ostdeutschen. Gleichzeitig gelang es ihr, ein Milliardenvermögen, das sie in nicht unbeträchtlichem Umfang ihren Opfern abgepresst hatte, beiseite zu schaffen. Und weil die demokratischen Parteien selbst keine ehrliche Aufarbeitung der zweiten deutschen Diktatur wünschten, musste die PDS keinen Gegenwind fürchten, der ihr hätte gefährlich werden können.
Der oft erhobene Einwand, die Ostdeutschen selbst wollten von einer Aufarbeitung über die Entstehung, Methoden, Verbrechen und Folgen der SED-Diktatur nichts wissen, ist so nicht richtig. Erstens war es ihnen nach dem Krieg strengstens verboten, über die brutalen Gewaltakte der sowjetischen Besatzungsmacht zu reden. Zweitens wurde auch entlassenen politischen Häftlingen des SED-Regimes absolutes Stillschweigen über die Erlebnisse, Zustände und Misshandlungen in den Haftanstalten auferlegt. Das Leid dieser Menschen ist unvorstellbar. Ihre seelische Not hat im Westen des damals noch geteilten Landes nur wenige interessiert. In dieser Situation wurden diese Menschen einer doppelten Pein ausgesetzt. Im Osten durften sie nicht darüber reden, im Westen nahm man sie vielfach nicht ernst. Auch nicht nach der Wiedervereinigung. Das wird bei etlichen dazu geführt haben, dass sie lieber schwiegen, als dass sie sich der Gefahr aussetzten, für ihr Schicksal verlacht oder gar angefeindet zu werden. Wir, die wir nicht betroffen sind, aber machen uns schuldig, wenn wir dazu schweigen; und alle, die jene diffamieren, die eine ehrliche Aufarbeitung der SED-Verbrechen fordern, machen sich erst recht schuldig.
„Vorwärts und vergessen!“
Es waren gerade auffallend viele Westdeutsche, die sich im Zuge der Wiedervereinigung dem Ansinnen einer konsequenten Aufarbeitung der SED-Diktatur entgegen stellten. Sie waren es, die quer durch alle altbundesrepublikanischen Parteien eine nicht völlig unberechtigte Angst davor hatten, bei dieser Aufarbeitung könnte ein grelles Licht auf ihre Anbiederung an eine menschenverachtende Diktatur fallen. Sie waren es, die sich mit der PDS darin einig waren, dass die Akten des Ministeriums für Staatsicherheit mindestens verschlossen, besser noch vernichtet gehörten. Man malte das Gespenst von Mord und Totschlag an die Wand, das umgehen würde, wenn die Ostdeutschen erführen, wer sie bespitzelt, verraten, drangsaliert und gequält hatte. Dieses Szenario trat erwartungsgemäß nicht ein. Es war ohnehin an Niederträchtigkeit kaum zu überbieten, den Opfern der SED-Diktatur die Methoden ihrer Schinder zu unterstellen.
Obwohl die Überprüfung auf eine Mitarbeit beim MfS vor allem die Ostdeutschen traf, waren es gerade sie, die sich 1990 einer Vernichtung der Stasi-Akten entgegenstellten. Es waren die Ostdeutschen, die im Einigungsvertrag darauf drangen, die Akten des MfS weder zu schließen noch zu vernichten, und es waren wiederum die Ostdeutschen, die die Erkenntnisse der Zentralen Erfassungsstelle in Salzgitter zur rechtlichen Aufarbeitung des SED-Regimes genutzt sehen wollten. Ihr Interesse an Salzgitter war groß. Doch die Erfassungsstelle wurde 1992 in einer übereilten Aktion und entgegen dem ausdrücklichen Rat von Experten geschlossen. Die Akten verschwanden in einem Gerichtskeller, wo sie lange verstaubten. Erst fünfzehn Jahre später wurden sie ins Bundesarchiv überführt. Es handelt sich um nicht weniger als 32 Kubikmeter Akten, die eine Zentralkartei mit den Namen von 70.000 Opfern, von 10.000 Beschuldigten und mit gesicherten Beweisen von 42.000 staatlichen Willkürhandlungen enthält.
Das alles kann man akribisch in dem Buch „Vorwärts und vergessen! Kader, Spitzel und Komplizen: Das gefährliche Erbe der SED-Diktatur“ von Uwe Müller und Grit Hartmann nachlesen. Die Autoren zogen schon vor zehn Jahren eine vernichtende Bilanz: „Die Aufarbeitung der zweiten Diktatur auf deutschem Boden ist gründlich gescheitert, der friedlichen Revolution ist die stille Restauration gefolgt.“ Sie schrieben weiter: „Der Rechtsstaat war unfähig, die Staatsverbrechen der DDR zu ahnden, nur vierzig Täter wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt.“ Und: „Der Westen weigert sich standhaft, seine Komplizenschaft mit dem SED-Staat aufzuklären.“
Opfer erster und zweiter Klasse
Dasselbe Fazit zog Hubertus Knabe in seinem Buch „Die Täter sind unter uns. Über das Schönreden der SED-Diktatur“ (List 2008). Zum Inhalt des Buches steht präzise zusammengefasst auf Seite 2: „Er beschreibt die mangelhafte strafrechtliche Verfolgung der Täter und deren Reorganisation in schlagkräftigen Vereinen. Er zeigt, wie die SED durch Umbenennung und geschicktes Taktieren ihr Überleben in der Demokratie sicherte, und schildert die Lage Tausender Opfer, die unzureichend entschädigt wurden und deren Kampf für Freiheit und Demokratie kaum öffentliche Wertschätzung erfährt. Im Gegensatz zur gründlichen Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur wird das SED-Regime vielfacht verharmlost und schöngeredet. Insbesondere in der jüngeren Generation herrscht eine erschreckende Unkenntnis über die Realität der kommunistischen Diktatur und das Ausmaß politischer Verfolgung in der DDR.“
Daran hat sich bis heute nichts geändert. Weder in der Politik noch in den Medien und auch nicht in den Schulen ist die Bereitschaft erkennbar, eine schonungslose Aufarbeitung der SED-Diktatur zu fordern. Stattdessen wird neuerdings gegen vermeintlich „Rechte“ wie Hubertus Knabe agitiert, die dieses Thema für sich vereinnahmt hätten. Die Folgen einer jahrzehntelangen Politik der Verdrängung kommen heute mehr denn je zum Tragen. Ein Bewusstsein für das vielfältige Unrecht, das im Namen des real existierenden Sozialismus verübt wurde, ist kaum vorhanden; so kann sich weiterhin ungehindert die Mär verbreiten, der Kommunismus sei an für sich eine gute Idee. Dass und warum der Kommunismus die Anlage zum Terror in sich selbst trägt, wird bis heute nicht vermittelt.
„Der Nationalsozialismus war in Idee und Praxis ein Verbrechen. Der Kommunismus ist nur in der Praxis ein Verbrechen. Für die Opfer ist das kein Unterschied.“
Dieser Satz stammt von niemand anderem als Simon Wiesenthal. Er brachte damit sehr prägnant auf den Punkt, weshalb es sich eigentlich von selbst verbieten müsste, bei der Betrachtung der beiden menschenverachtenden Ideologien mit zweierlei Maß zu messen. Es darf keine Opfer erster und zweiter Klasse geben. Faktisch geschieht in Deutschland aber genau dies, obwohl einem geradezu ins Auge springen müsste, dass die Gemeinsamkeiten der beiden totalitären Ideologien viel frappierender sind als ihre Unterschiede.
Dies nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen, bedeutet, blind zu sein für die Gefahren, die von totalitären Diktaturen ausgehen. Ihnen allen gemein ist der Absolutheitsanspruch, im alleinigen Besitz einer vermeintlichen Wahrheit zu sein; wer anderer Meinung ist, wird verfolgt, drangsaliert, „zersetzt“, „vernichtet“. Dies zu erkennen bewahrt davor, falschen Heilsversprechungen zu glauben, die so viel Unglück über die Menschheit gebracht haben.
Wir haben einen Holocaust-Gedenktag, an dem wir überlebende Opfer zu Wort kommen lassen. Wir hätten sehr wohl auch einen mehr als geeigneten Gedenktag für die Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft in Deutschland. Aber wir lassen am 17. Juni im Deutschen Bundestag nicht jene zu Wort kommen, die unter dieser menschenverachtenden Diktatur gelitten haben. Und ich kann mich auch nicht erinnern, dass irgendein Politiker sich jemals dafür stark gemacht hätte, diesen Menschen eine kraftvolle Stimme zu geben, damit auch ihr Leid nicht vergessen wird. Es ist ein Armutszeugnis.