Moritz Mücke, Gastautor / 07.10.2018 / 14:00 / Foto: Eastman Johnson / 1 / Seite ausdrucken

Wenn Amerika bei sich selbst in die Schule geht

In Platons Der Staat gibt es eine Szene, die an dramaturgischer Intensität alles in den Schatten stellt, was in anderen – nicht selten arg trockenen – platonischen Dialogen zu finden ist. In dieser Szene springt der Rhetoriklehrer Thrasymachus „wie ein wildes Tier“ in die Mitte der Runde und bezichtigt erzürnt den Gesprächsführer Sokrates des – wie man heute sagen würde – Trollens. Der Vorwurf: Sokrates stelle sich dumm, verstecke immerzu seine eigene Meinung hinter einer Barrage an ironischen Fragen und verbalen Ablenkungsmanövern, weigere sich das eigentliche Thema – Gerechtigkeit – ernsthaft zu besprechen. Der Zorn des Thrasymachus ist nachvollziehbar, immerhin entschieden sich ja schließlich auch die Athener Demokraten, den nervigen Troll Sokrates hinzurichten (Also so ähnlich, wie es die amerikanischen Demokraten aktuell mit Donald Trump versuchen, dem begabtesten Troll der Weltgeschichte. Und das sage ich nur, weil er die Bezeichnung selbst für ein „großes Kompliment“ hält ).

Aber die hitzige Intervention des Thrasymachus hat einen ernsthaften Kern, heute wie damals. Er bezweifelte nämlich, dass Gerechtigkeit mehr als ein müder Slogan ist. Für ihn war sie eine Illusion der Schwachen, ebenso wie eine rhetorische Schutzbehauptung dreister Demagogen. Letztere verstünden insgeheim, was Gerechtigkeit in Wahrheit bedeutet: das Recht des Stärkeren. Da er mit dieser antiken Form des Nihilismus nicht allein stand – die Athener benutzten ganz ähnliche Argumente, um einen veritablen Völkermord zu rechtfertigen  – ist es eine glückliche Fügung, dass uns Platon in Der Staat dabei zusehen lässt, wie Sokrates den Rhetoriklehrer schließlich verbal vermöbelt, indem er ihm den Pfad des Naturrechts aufzeigt (woraufhin Thrasymachus errötet, als wäre er nach seinem animalischen Ausfall zum Menschsein zurückgekehrt).

Das antike Naturrecht wiederzuentdecken und gegen den modernen Nihilismus in Stellung zu bringen – das war das Lebenswerk des vor den Nazis nach Amerika geflohenen Philosophen Leo Strauss. So verwundert es nicht, dass dessen Schüler Harry Jaffa sofort an Platon denken musste, als ihm ein Exemplar der Debatten zwischen Abraham Lincoln und Stephen Douglas in die Hände fiel. Die beiden hatten sich 1858, drei Jahre vor Ausbruch des amerikanischen Bürgerkriegs, in einer Reihe heftiger Wortduelle genauso gezankt wie einst Thrasymachus und Sokrates. Was außer Jaffa niemandem auffiel: Nicht nur die Form, sondern auch der Inhalt der Debatten ähnelte dem platonischen Dialog auf geradezu haarsträubende Art und Weise. 

Der Zankapfel zwischen Lincoln und Douglas war die Frage, ob es der amerikanischen Bundesregierung gestattet war, in den neu entstehenden Westgebieten wie Kansas und Nebraska zu verhindern, dass dort die Sklaverei nach Vorbild der Südstaaten eingeführt würde. Lincoln sagte Ja – denn Sklaverei sei schlicht ungerecht; dass sie im Süden existiere, schlimm genug. Die Position von Douglas war, zumindest oberflächlich, etwas nuancierter: Sobald Siedler in die entsprechenden Gebiete zögen, sollten diese selbst entscheiden dürfen, ob sie dort die Sklaverei einführen möchten oder nicht – ihm persönlich sei es egal. Er beharrte also auf dem Prinzip der Volkssouveränität – popular sovereignty – und rettete sich in das Argument, dass er damit ja nur für die Demokratie einstehe.

Das amerikanische Volk über sein eigentliches Wesen unterrichten

Und so schrieb Jaffa im Vorwort zu seinem bahnbrechenden Crisis of the House Divided: „[Dieses Buch] entstand in meinem Kopf, als ich entdeckte – zu einer Zeit in der ich Platons Der Staat mit Leo Strauss studierte – dass der Disput zwischen Lincoln und Douglas substanziell [...] identisch ist mit dem zwischen Sokrates und Thrasymachus. Douglas‘ Doktrin der ‘Volkssouveränität’ bedeutete nichts anderes als dies: dass in einer Demokratie Gerechtigkeit im Interesse der Mehrheit liegt, welche ‘der Stärkere‘ ist. Lincoln aber beharrte darauf, dass das Argument für Volkssouveränität auf einem Standard von Recht und Unrecht beruhe, der unabhängig von lediglichen Meinungen war und nicht erst durch das Zählen von Köpfen seine Wahrheit erfuhr. Lincolns Argument für eine Regierung des Volkes durch das Volk beinhaltete immer, dass für das Volk Partei zu ergreifen bedeutet, für einen moralischen Zweck einzustehen, welcher das Volk erst über sein Wesen unterrichtet.“

So unternahm es Jaffa – der heute einhundert Jahre alt geworden wäre –, Lincolns Lektion neu zu entdecken und auf diese Weise das amerikanische Volk über sein eigentliches Wesen zu unterrichten. Dazu bedurfte es keiner Renaissance, sondern nur einer Rückbesinnung. Es war Jaffas Ziel, dass die Demokratie bei sich selbst in die Schule gehen, dass sie mit klarem Blick ein Bewusstsein über ihre eigenen Prinzipien erlangen möge. Damit meinte er die übergesetzliche (und somit überdemokratische) Naturrechtsphilosophie der Gründerväter Amerikas – eine Philosophie, die Lincoln genauso schätzte, wie ihre Begründer es einst taten, und der er als Präsident durch die Abschaffung der Sklaverei zu einer vollkommeneren Entfaltung verhalf. Lincoln korrigierte den einen Geburtsfehler der Vorväter, welche die Sklaverei der Afrikaner in ihrem neuen Land geduldet hatten, was schließlich zur Eskalation des Konflikts zwischen Nord- und Südstaaten führte und, so Jaffa, führen musste.

Aber Jaffa wäre nicht Jaffa gewesen, wenn er an der Stelle aufgehört hätte.

Der ungemein wichtigere – aber auch wesentlich weniger bekannte – Teil seiner Arbeit ging erst los, als er erkannte, dass Lincolns ständige Bezugnahme auf die Gründerväter mehr war als nur Rhetorik. Die Lobhudelei war auch Rhetorik – denn wer hätte nicht gern das Beispiel unsterblicher Helden wie Washington und Jefferson auf seiner Seite, wenn er in die Schlacht gegen die Thrasymachisten der modernen Welt zieht? – doch Lincoln wusste etwas, das Jaffa erst noch lernen musste: Die Gründerväter waren zwar selbst oft Sklavenhalter gewesen, aber daraus folgte noch lange nicht, dass sie die Praxis guthießen oder ihrer Zukunft mit Gleichgültigkeit entgegensahen (wie Douglas es später tun würde). 

Mehr noch, die Gründerväter hatten alles in ihrer praktischen Macht Stehende getan, die von ihren eigenen Vorfahren geerbte Sklaverei einzudämmen, ihre Ausdehnung zu verhindern und ihre Ausmerzung vorzubereiten. Mit der Northwest Ordinance untersagten sie ihr Überschwappen in die „frischen“ Siedlungsgebiete im kontinentalen Westen. Unmittelbar nachdem ein notwendiger, verfassungsrechtlicher Kompromiss mit den Südstaaten ausgelaufen war, verboten sie den Import weiterer Sklaven aus Afrika. Mit dem Abschneiden des „Nachschubs“ von der östlichen Atlantikküste und der gesetzlichen Barriere gegen die Expansion gen Westen war die Sklaverei fortan auf den Süden beschränkt. In der Gründungsära – in Lincolns Zeit allerdings schon lange nicht mehr – waren die Arbeitsbedingungen der Sklaven dort so brutal und tödlich, dass ein Einzäunen notwendigerweise auch das Erlöschen der barbarischen Praxis bedeutet hätte – früher oder später.

Ein Jude aus New York und dazu noch Straussianer

Das also meinte Lincoln, als er darauf beharrte, die Gründerväter hätten die Sklaverei politisch so „platziert“, dass das Volk in dem Gedanken Ruhe finden möge: Sie ist auf dem Weg in ihre letztendliche Auslöschung. Lincoln hatte seine Lektion nicht aus dem Hut gezaubert, er selbst hatte sich unterrichten lassen, er selbst ging in die Schule der Demokratie, und zwar bei Sklavenhaltern wie Washington und Jefferson, die den moralischen Großbrand namens Sklaverei nicht nur erkannten, sondern ihm den Sauerstoff zu entziehen fest entschlossen gewesen waren.

Jetzt war Jaffa neugierig geworden. Und je mehr er die politischen und moralischen Überzeugungen der Gründerväter erforschte, desto weniger fand er dort überhaupt Anlass zu intelligenter Kritik. Als unkonventioneller Konservativer – ein Jude aus New York und dazu noch Straussianer – erkannte er plötzlich, dass es vor allem andere Konservative waren, die ein falsches, viel zu negatives Bild der Gründungsära hatten entstehen lassen. Martin Diamond lag falsch, als er behauptete, die Unabhängigkeitserklärung enthalte keinerlei Hinweise darauf, dass ihre Unterzeichner der Demokratie den Vorzug vor anderen Staatsformen gaben. Robert Bork tappte hoffnungslos im Dunkeln, als er dem revolutionären Egalitarismus der Gründerväter die „Schuld“ an den Exzessen der modernen Linken gab. Jaffa schrieb sogar ein ganzes Buch über die unnachgiebig scharfe Auseinandersetzung mit seinen Mitkonservativen . Heute liegen sie ihm zu Füßen.

Das liegt auch daran, dass Jaffa seine Sichtweise auf Lincoln und die Gründerväter in seinem zur Jahrtausendwende erschienenen Opus Magnum A New Birth of Freedom  so überzeugend darlegte, dass niemand mehr an der Größe seiner Interpretation und ihres Gegenstands zweifelt. Als er 2015 starb, hielt sein Schüler Thomas G. West eine Grabrede, in der er dieses Spätwerk als „das beste Buch“ bezeichnete, das je über Amerika geschrieben wurde. Das ist ein bedeutendes Lob von jemanden, der letztes Jahr seine eigene Schrift über die politische Theorie der Gründer vorgelegt hat, welche sich nun rasant zu der autoritativen Abhandlung über das Thema entwickelt.

Professor West ist einer meiner Lehrer, und es gibt mir große Befriedigung, zu wissen, so zumindest indirekt auch bei Harry Jaffa in die Schule gegangen zu sein. Und mit ihm bei Strauss, bei Lincoln, bei Washington und Jefferson, sogar – ist das zu viel gesagt? – bei Platon und Sokrates.

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Gabriele Klein / 07.10.2018

Danke für den interessanten Artikel und Buchhinweise. Das Thema ist brisant zumal mit Hitler auf der einen Seite und dem Kommunismus auf der anderen Seite des eisernen Vorhangs die Sklaverei neu entdeckt wurde.  Ihre Anziehungskraft hat sie bis heute nicht verloren nur dass sich deren Verfechter nicht mehr als Kommunisten oder Nazis, sondern als Sozialisten verkaufen.  Der Konflikt zwischen dem angelsächsisch geprägten Westen auf der einen Seite, in dessen Reihen wir die USA, England, Australien, Neuseeland aber auch einige sich gegen die Migration von Menschenhändlern wendende Europäische Länder finden wie z.B. Polen und Tschechien und Ländern die mit dem Islam und somit auch dessen Verhältnis zur (Sex) Sklaverei liebäugeln wie Deutschland und Konsorten auf der anderen Seite lässt mich fragen ob dies eine Neu Auflage des amerikanischen Nord Süd Konflikts sein könnte? Denn der Kern des Sozialismus der hinter der “Globalisierung” steckt ist Nichts anderes als die Sklaverei bestehend diesmal aus einem Staat für den die Bürger einerseits arbeiten und der andrerseits ihnen ein Gehalt zwar genehmigt es aber sogleich (nach Abzug der Steuern) auch wieder einzieht für Dinge wie:  Straßen, Müllabgaben, Pflege und Krankenversicherung, Demokratieversicherung Tendenz steigend so daß ich bald die 100% Marke erreicht sehe ab der sich der Sklave im globalen Sozialismus eigentlich in Nichts von dem der Antike unterscheiden dürfte, bis auf eines vielleicht:  die Infrastruktur beim Sklavenhalter d. Antike funktionierte, im Sozialismus leider nicht….

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