Gastautor / 06.06.2017 / 18:00 / Foto: Sandro Halank / 10 / Seite ausdrucken

„Weiter so, eure Bilanz ist gut, Genossen“

Von Matthias Moosdorf.

Am 22. August 1977 veröffentlichte das Magazin "Der Spiegel" einen Auszug aus dem schon länger angekündigten Buch „Die Alternative“ von Rudolf Bahro. Am Tag darauf wurde Bahro verhaftet und in das Stasi-Untersuchungsgefängnis Berlin-Hohenschönhausen gebracht. Vorausgegangen waren Erfahrungen des Autors in der Produktion und die dort gewonnene Erkenntnis, dass die wirtschaftliche und gesellschaftliche Krise der DDR mit der Entmündigung der beschäftigten Arbeiter zu tun hat. Der Mangel an Demokratie und Mitbestimmung wurde philosophisch mit den Realitäten des sozialistischen Gesellschaftsexperiments verknüpft. Das Buch löste ein Erdbeben aus, in Ostdeutschland sowieso, aber auch unter den linken Intellektuellen Europas. Herbert Marcuse bezeichnete es als „wichtigste Neuerscheinung... der letzten Jahrzehnte“.

Heinrich Böll, Günter Grass aber auch Arthur Miller, Graham Greene und Mikis Theodorakis reagierten später darauf. Bahro wurde innerhalb von kurzer Zeit zu einer Ikone des freien Denkens in der DDR, viele Ehrungen im Ausland ließen sich kaum vermeiden. Da das Veröffentlichen beim Klassenfeind nicht per se unter Strafe stand, griffen die Kommunisten der Justiz zu einer List und verurteilten ihn 1978 unter anderem wegen “landesverräterischer Sammlung von Nachrichten“ und unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu acht Jahren Gefängnis. Heute zugängliche Unterlagen belegen, dass das Urteil vor Beginn der Verhandlungen bereits feststand. Sogar die Pressemitteilung lag schon fertig formuliert vor. Warum hat dies heute, vierzig Jahre danach, eine Bedeutung?

„Weiter so, eure Bilanz ist gut, Genossen“ - ein Plakatslogan unter vielen stand für die Abwesenheit von einem wesentlichen Teil der gesellschaftlichen Willensbildung. Man kann die Sprengkraft des Buches - ein Bestseller im Westen und im Osten, trotz peinlicher Einfuhrkontrollen, unter der Hand weitergegeben und von Hand vervielfältigt - nur verstehen, wenn man die allgemeine Angst vor der Debatte, vor dem Einbruch von nackter Realität in die rosarote Welt des sozialistisch schönen Scheins, in den Fokus der Betrachtung rückt. Eine Diskussion um Position und Richtung, vielleicht gar noch ergebnisoffen, war zu gefährlich. Allzu deutlich wäre der Unterschied zwischen Marx und Murks vielleicht vom Wind zum Sturm geworden, der am Ende die Genossen in den Orkus der Geschichte befördert hätte. Damit dauerte es bekanntlich noch eine Weile, der Grund war aber unter anderen von Bahro vorweggenommen.

Des Deutschen liebste Gangart

Mein 17-jähriger Sohn kam neulich mit einer Frage zu mir, einer typischen Sohn-Frage. Ich selbst habe sie in ähnlicher Weise gestellt, an meinen Opa. Sie betraf eine Zeit und deren Ereignisse, die nochmals vierzig Jahre vorher stattgefunden hatten. Die Frage lautete: „Warum habt ihr nicht einfach gesagt was war? Ihr müsst doch gemerkt haben, dass da etwas schief läuft. Und überhaupt: warum habt ihr euch das denn gefallen lassen?“

Ja, warum? Warum hatte weder Leni Riefenstahl Mühe, die Komparserie für den „Triumph des Willens“ zu verpflichten, ach was, welche Komparserie? Sie konnte die Kamera ins begeisterte Volk halten. Warum zogen am 1.Mai und am 7.Oktober Hunderttausende mit Fahnen und im Blauhemd durch die größeren Städte der DDR? „Führer befiehl, wir folgen!“ verschwimmt mit „Vorwärts immer, rückwärts nimmer“. Der Gleichschritt war anerzogen, der Erziehung zum Chorgesang standen verwestlichte Abweichler-Individuen als Feindbild zur Verfügung.

WIR ALLE hier, DU ALLEIN da drüben auf der falschen Seite. Und da fragst Du nach der Alternative? Welche Alternative? Es gibt keine Alternative: zum Frieden zum Beispiel oder zur Liebe zum Klassenbruder. Das war, Verzeihung, ist, des Deutschen liebste Gangart. Wie fühlt man sich doch aufgehoben im Gleichschritt. Die Verantwortung tragen andere, man ist Masse, ein Rädchen für das Gute, ein Teil von etwas ganz Großem. Aber eben nur, solange man den eigenen Verstand nicht mit der Prüfung betraut. Wozu auch?

Unser Faschismus kann auch Antifaschismus

Es lebt sich doch besser wenn der Zuspruch von allen Seiten kommt und die Rechtgläubigen sich immer und immer weiter überbieten: „Deutschland, du mieses Stück Scheiße“ ist kein Problem, „Luther du mieses Stück Scheiße“ war jetzt zum Kirchentag in Halle zu lesen, Sprengstoffanschläge gegen AfD – Politiker werden ebenso toleriert wie Aufrufe „rechtes Personal“ zu „attackieren“.

Christenverfolgung, weltweit sind davon fast 200 Millionen Menschen betroffen, soll „nicht überbewertet“ werden, eine Religion aber, in deren Namen nun auch gezielt Kinder und vor allem junge Mädchen zur Zielscheibe werden, soll uns „Gastfreundschaft und Toleranz“ lehren. Man muss hier einfach mit der Auflistung des Irrsinns aufhören um nicht verrückt zu werden.

Sicher ist nur: Eine Gesellschaft, die dergestalt ihrem Wahnsinn frönt, hat alle Glaubwürdigkeit verloren, mit dem Finger auf vergangene Generationen zu zeigen. Im Gegenteil – das aktuelle Klima macht deutlich, wie leicht es Nazis und Kommunisten mit uns Deutschen doch hatten. Die kritische Betrachtung des eigenen Tuns kommt erst nach der unvermeidlichen Katastrophe zum Tragen, dann aber mit großer Attitüde. Seltsamerweise hatte dies auch schon Napoleon erkannt, der uns attestierte:

"Es gibt kein gutmütigeres, aber auch kein leichtgläubigeres Volk als das deutsche. Zwiespalt brauchte ich unter ihnen nie zu säen. (...) Untereinander haben sie sich gewürgt, und sie meinten ihre Pflicht zu tun. Törichter ist kein anderes Volk auf Erden...Keine Lüge kann grob genug ersonnen werden: die Deutschen glauben sie. Um eine Parole, die man ihnen gab, verfolgten sie ihre Landsleute mit größerer Erbitterung als ihre wirklichen Feinde."

Zweihundert Jahre, mehrfache Trennungen, Reichs- und Wiedervereinigungen, zwei Weltkriege, zwei ideologisch dominierte Staatsgebilde und ein Völkermord haben uns offenbar nicht klüger werden lassen. Unser heutiges Wesen, unser Denken und Handeln, schwingt sich wieder zu der Politik auf, an der die Welt, oder mindestens Europa, genesen soll. Schade, dass der studierte Historiker und glühende Europäer Helmut Kohl dazu keinen Kommentar mehr abgeben möchte.

Bahros „Alternative“ - oder das was seine ostdeutschen Leser darin sehen wollten - vollzog sich in Form der kollabierenden DDR erst nach weiteren 22 Jahren, dann aber mit dem Paukenschlag des Unterganges eines ganzen Systems. Dass er an der Wirklichkeit der realexistierenden BRD ebenfalls keine Freude hatte, gehört zu seiner wenig realistischen Erwartung und zur Ironie dieser Geschichte

Es war übrigens Helmut Kohl, der mit dem Blick auf unsere deutsche Geschichte seinen Landsleuten eine „geistig-moralische Wende“ ins Stammbuch geschrieben hat. Dass diese nie stattgefunden hat, erleben wir gerade jeden Tag. Unsere Tugend ist wie Weimar, für uns werden Goethe und Buchenwald immer zusammengehören. Unser Faschismus kann auch Antifaschismus.

Mein Sohn schaut mich traurig an.

Matthias Moosdorf, geb. 1965 in Leipzig, Musiker u.a. im Leipziger Streichquartett, Konzerte in über 65 Ländern, mehr als 120 CD-Veröffentlichungen, 5 ECHO-Klassik Preise, Texte und Bücher zur Musik u.a. bei Bärenreiter, 2008-2013 Gastprofessor an der Gedai-University of Arts, Tokyo, Gründung mehrerer Kammermusik-Festivals, Gesprächspartner zu Musik und Politik im Radio, seit 2016 auch Politikberatung

Foto: Sandro Halank CC BY-SA 3.0 via Wikimedia

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Andreas Rochow / 06.06.2017

Vielen Dank für dieses journalistische Kabinettstück, das vor dem Marsch Heute-Deutschlands in einen neuen Totalitarismus warnt. Rousseau und die Jakobiner, Marx und der real existierende kommunistische Totalitarismus, Stalin und die Bolschewiki - alles Beispiele für die Gefährdung demokratischer Ordnungen durch Totalitarismen. “Unser Faschismus kann auch Antifaschismus”, ist ein bemerkenswerter Satz, der ernst genommen werden sollte, wenn die Regierung dies mit 100 Millionen Parolen zu beweisen versucht.

beat schaller / 06.06.2017

ganz grossartig und treffend geschrieben. hut ab!

Herta Meyer / 06.06.2017

Und warum sagen wir nichts? Warum traut sich keiner, in der Öffentlichkeit frei zu reden, bei der Arbeit, auf der Straße? Die ideologisierte linke Maschinerie läuft in vollen Gängen, der Bürger wird im Griff gehalten. Die Deutschen haben Angst, ihre Arbeit zu verlieren, sich offen als Afd-Wähler zu zeigen oder lediglich als Kritiker des aktuellen Wahnsinns. Dass das Eigentum und die Gesundheit zerstört werden von den linken Schergen, möglicherweise der Job gekündigt wird, weil der Arbeitgeber auf der all übergreifenden Woge der political correctness mitschwimmt. Hat man Angst, dass das Häuschen, das Auto etc. nicht mehr abbezahlt werden kann? Man musste doch zugreifen, weil die Zinsen so niedrig waren. Oh - und nun? Plötzlich hat sich Deutschland verändert, das Häuschen, das Auto alles wird zur Last, weil man nicht frei ist, was kann man da tun? Muss man das alles ertragen, was passiert, über sich ergehen lassen? Die Antwort an die Kinder, welche ist sie dann, wenn es zu spät ist? Wir sind (fast) alle darauf hereingefallen. Das hat die Politik-Elite und die Elite über der Elite sehr gut durchdacht. Es scheint wie ein riesiges sozioökonomisches Experiment, nur mit welchem Ziel? Es kann keine Unwissenheit sein, es ist ein Plan, der zu funktionieren scheint. Man könnte nur noch weinen. Für die Wut fehlt allmählich die Kraft.

Elmar Schlürscheid / 06.06.2017

Solange der Deutsche seinen Jahresurlaub und sein blinkend sauberes Auto hat wird sich nichts ändern. Dazu die trügerische Aussicht auf ein gemütliches Pöstchen und eine Pension. Bloß kein Stress und Haltung zeigen. Wie hat Bismarck zum britischen Außenminister gesagt: ” Sie werden hier viel Heldenmut auf dem Schlachtfeld finden, doch es herrscht mitunter ein erheblicher Mangel an Zivilcourage!” Was hat er doch Recht gehabt der gute alte Kaisermacher.

Bernhard Freiling / 06.06.2017

Wäre das, was Sie schreiben, überwiegend nicht richtig, wären die Verhältnisse in unserem Land andere. Da stellt sich mir die Frage: Wie machen “die”  das? Die Nazis und die Kommunisten haben sich nicht an anderen Meinungen gerieben. Die haben die Andersmeinenden einfach weggesperrt oder Schlimmeres mit ihnen angestellt. Heute wird “der Underground” - so bezeichne ich mal “die Achse” und “Tichyseinblick” und “Cicero” und etliche Andere - geduldet. Versuche, diese Publikationen “auszutrocknen” sind bisher noch immer im Sande verlaufen. Trotzdem, oder gerade deshalb, nehmen die Zugriffszahlen langsam aber stetig zu. Was bringt’s? Unterm Strich eher wenig. Die CDU bewegt sich wieder zügig auf die 40% zu und rd. 2/3 der Wähler können sich nix Schöneres vorstellen, als weitere 4 Jahre mit Mutti zu verbringen. Für die ständige Wiederholung, wie demokratisch und gut Deutschland doch ist, für den permanenten Brainwash des Mainstreams scheinen wir noch empfänglicher zu sein, als für gewaltsame Indoktrinierung.  Das ist ja sowas von frustrierend. ;-)

Weitere anzeigen Leserbrief schreiben:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen

Es wurden keine verwandten Themen gefunden.

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com