Von Matthias Moosdorf.
Am 22. August 1977 veröffentlichte das Magazin "Der Spiegel" einen Auszug aus dem schon länger angekündigten Buch „Die Alternative“ von Rudolf Bahro. Am Tag darauf wurde Bahro verhaftet und in das Stasi-Untersuchungsgefängnis Berlin-Hohenschönhausen gebracht. Vorausgegangen waren Erfahrungen des Autors in der Produktion und die dort gewonnene Erkenntnis, dass die wirtschaftliche und gesellschaftliche Krise der DDR mit der Entmündigung der beschäftigten Arbeiter zu tun hat. Der Mangel an Demokratie und Mitbestimmung wurde philosophisch mit den Realitäten des sozialistischen Gesellschaftsexperiments verknüpft. Das Buch löste ein Erdbeben aus, in Ostdeutschland sowieso, aber auch unter den linken Intellektuellen Europas. Herbert Marcuse bezeichnete es als „wichtigste Neuerscheinung... der letzten Jahrzehnte“.
Heinrich Böll, Günter Grass aber auch Arthur Miller, Graham Greene und Mikis Theodorakis reagierten später darauf. Bahro wurde innerhalb von kurzer Zeit zu einer Ikone des freien Denkens in der DDR, viele Ehrungen im Ausland ließen sich kaum vermeiden. Da das Veröffentlichen beim Klassenfeind nicht per se unter Strafe stand, griffen die Kommunisten der Justiz zu einer List und verurteilten ihn 1978 unter anderem wegen “landesverräterischer Sammlung von Nachrichten“ und unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu acht Jahren Gefängnis. Heute zugängliche Unterlagen belegen, dass das Urteil vor Beginn der Verhandlungen bereits feststand. Sogar die Pressemitteilung lag schon fertig formuliert vor. Warum hat dies heute, vierzig Jahre danach, eine Bedeutung?
„Weiter so, eure Bilanz ist gut, Genossen“ - ein Plakatslogan unter vielen stand für die Abwesenheit von einem wesentlichen Teil der gesellschaftlichen Willensbildung. Man kann die Sprengkraft des Buches - ein Bestseller im Westen und im Osten, trotz peinlicher Einfuhrkontrollen, unter der Hand weitergegeben und von Hand vervielfältigt - nur verstehen, wenn man die allgemeine Angst vor der Debatte, vor dem Einbruch von nackter Realität in die rosarote Welt des sozialistisch schönen Scheins, in den Fokus der Betrachtung rückt. Eine Diskussion um Position und Richtung, vielleicht gar noch ergebnisoffen, war zu gefährlich. Allzu deutlich wäre der Unterschied zwischen Marx und Murks vielleicht vom Wind zum Sturm geworden, der am Ende die Genossen in den Orkus der Geschichte befördert hätte. Damit dauerte es bekanntlich noch eine Weile, der Grund war aber unter anderen von Bahro vorweggenommen.
Des Deutschen liebste Gangart
Mein 17-jähriger Sohn kam neulich mit einer Frage zu mir, einer typischen Sohn-Frage. Ich selbst habe sie in ähnlicher Weise gestellt, an meinen Opa. Sie betraf eine Zeit und deren Ereignisse, die nochmals vierzig Jahre vorher stattgefunden hatten. Die Frage lautete: „Warum habt ihr nicht einfach gesagt was war? Ihr müsst doch gemerkt haben, dass da etwas schief läuft. Und überhaupt: warum habt ihr euch das denn gefallen lassen?“
Ja, warum? Warum hatte weder Leni Riefenstahl Mühe, die Komparserie für den „Triumph des Willens“ zu verpflichten, ach was, welche Komparserie? Sie konnte die Kamera ins begeisterte Volk halten. Warum zogen am 1.Mai und am 7.Oktober Hunderttausende mit Fahnen und im Blauhemd durch die größeren Städte der DDR? „Führer befiehl, wir folgen!“ verschwimmt mit „Vorwärts immer, rückwärts nimmer“. Der Gleichschritt war anerzogen, der Erziehung zum Chorgesang standen verwestlichte Abweichler-Individuen als Feindbild zur Verfügung.
WIR ALLE hier, DU ALLEIN da drüben auf der falschen Seite. Und da fragst Du nach der Alternative? Welche Alternative? Es gibt keine Alternative: zum Frieden zum Beispiel oder zur Liebe zum Klassenbruder. Das war, Verzeihung, ist, des Deutschen liebste Gangart. Wie fühlt man sich doch aufgehoben im Gleichschritt. Die Verantwortung tragen andere, man ist Masse, ein Rädchen für das Gute, ein Teil von etwas ganz Großem. Aber eben nur, solange man den eigenen Verstand nicht mit der Prüfung betraut. Wozu auch?
Unser Faschismus kann auch Antifaschismus
Es lebt sich doch besser wenn der Zuspruch von allen Seiten kommt und die Rechtgläubigen sich immer und immer weiter überbieten: „Deutschland, du mieses Stück Scheiße“ ist kein Problem, „Luther du mieses Stück Scheiße“ war jetzt zum Kirchentag in Halle zu lesen, Sprengstoffanschläge gegen AfD – Politiker werden ebenso toleriert wie Aufrufe „rechtes Personal“ zu „attackieren“.
Christenverfolgung, weltweit sind davon fast 200 Millionen Menschen betroffen, soll „nicht überbewertet“ werden, eine Religion aber, in deren Namen nun auch gezielt Kinder und vor allem junge Mädchen zur Zielscheibe werden, soll uns „Gastfreundschaft und Toleranz“ lehren. Man muss hier einfach mit der Auflistung des Irrsinns aufhören um nicht verrückt zu werden.
Sicher ist nur: Eine Gesellschaft, die dergestalt ihrem Wahnsinn frönt, hat alle Glaubwürdigkeit verloren, mit dem Finger auf vergangene Generationen zu zeigen. Im Gegenteil – das aktuelle Klima macht deutlich, wie leicht es Nazis und Kommunisten mit uns Deutschen doch hatten. Die kritische Betrachtung des eigenen Tuns kommt erst nach der unvermeidlichen Katastrophe zum Tragen, dann aber mit großer Attitüde. Seltsamerweise hatte dies auch schon Napoleon erkannt, der uns attestierte:
"Es gibt kein gutmütigeres, aber auch kein leichtgläubigeres Volk als das deutsche. Zwiespalt brauchte ich unter ihnen nie zu säen. (...) Untereinander haben sie sich gewürgt, und sie meinten ihre Pflicht zu tun. Törichter ist kein anderes Volk auf Erden...Keine Lüge kann grob genug ersonnen werden: die Deutschen glauben sie. Um eine Parole, die man ihnen gab, verfolgten sie ihre Landsleute mit größerer Erbitterung als ihre wirklichen Feinde."
Zweihundert Jahre, mehrfache Trennungen, Reichs- und Wiedervereinigungen, zwei Weltkriege, zwei ideologisch dominierte Staatsgebilde und ein Völkermord haben uns offenbar nicht klüger werden lassen. Unser heutiges Wesen, unser Denken und Handeln, schwingt sich wieder zu der Politik auf, an der die Welt, oder mindestens Europa, genesen soll. Schade, dass der studierte Historiker und glühende Europäer Helmut Kohl dazu keinen Kommentar mehr abgeben möchte.
Bahros „Alternative“ - oder das was seine ostdeutschen Leser darin sehen wollten - vollzog sich in Form der kollabierenden DDR erst nach weiteren 22 Jahren, dann aber mit dem Paukenschlag des Unterganges eines ganzen Systems. Dass er an der Wirklichkeit der realexistierenden BRD ebenfalls keine Freude hatte, gehört zu seiner wenig realistischen Erwartung und zur Ironie dieser Geschichte
Es war übrigens Helmut Kohl, der mit dem Blick auf unsere deutsche Geschichte seinen Landsleuten eine „geistig-moralische Wende“ ins Stammbuch geschrieben hat. Dass diese nie stattgefunden hat, erleben wir gerade jeden Tag. Unsere Tugend ist wie Weimar, für uns werden Goethe und Buchenwald immer zusammengehören. Unser Faschismus kann auch Antifaschismus.
Mein Sohn schaut mich traurig an.
Matthias Moosdorf, geb. 1965 in Leipzig, Musiker u.a. im Leipziger Streichquartett, Konzerte in über 65 Ländern, mehr als 120 CD-Veröffentlichungen, 5 ECHO-Klassik Preise, Texte und Bücher zur Musik u.a. bei Bärenreiter, 2008-2013 Gastprofessor an der Gedai-University of Arts, Tokyo, Gründung mehrerer Kammermusik-Festivals, Gesprächspartner zu Musik und Politik im Radio, seit 2016 auch Politikberatung