Redaktion / 16.02.2021 / 06:01 / Foto: Viasna96 / 58 / Seite ausdrucken

Weißrussland: “Einfache Worte in Blut”

Einige Wochen lang - im Spätsommer und im Herbst - war Weißrussland in allen deutschen Nachrichten präsent. Nachdem sich Machthaber Lukaschenko mit mehr als zweifelhaften Wahlergebnissen erneut zum Präsidenten ernannt hatte, wurden die Demonstrationen gegen den Diktator von der deutschen Öffentlichkeit eine Zeit lang mit Sympathie begleitet. Inzwischen ist es kaum noch ein Thema, dass die weißrussische Opposition immer noch mutig gegen die Lukaschenko-Diktatur protestiert, obwohl das Regime brutal gegen Protest vorgeht. Wie es dort den Festgenommenen und Verhafteten ergeht, war ohnehin selten ein Thema in unseren Medien. Den meisten Kollegen reichte das Zeichen, auf die deutschsprachige Landesbezeichnung Weißrussland zu verzichten und künftig nur noch Belarus zu schreiben und zu sagen.

Die EU hatte ein paar neue weiche Sanktionen gegen einzelne Personen aus dem Umfeld des Diktators beschlossen. Dieser Tage müsste der Brüsseler Apparat auch wieder ein älteres Waffenembargo einschließlich eines „Ausfuhrverbots für Ausrüstung, die zu interner Repression verwendet werden kann“ verlängern. Das würde sonst zum Monatsende auslaufen. In den letzten Jahren war es immer im Februar um je ein weiteres Jahr verlängert worden. Um eine Ahnung zu bekommen, was „interne Repression“ im Lukaschenko-Regime konkret heißt, veröffentlichen wir an dieser Stelle die Geschichte von Olga Pawlowna, die von dem Team aus Journalisten und Freiwilligen, die sich zu dem Projekt „August 2020“ zusammengeschlossen haben, dokumentiert wurde:

Wir haben keine Zeit, Olga Pawlowa zu fotografieren - sie verschwindet nach dem Interview. Später kommt ihr Vater in die Redaktion und sagt, dass gerade das Strafverfahren gegen seine Tochter beginnt und sie im Zhodino Gefängnis festgehalten wird, wo sie bereits 17 Tage in einer Strafzelle verbrachte, in Hungerstreik trat und in einem Gefängniskrankenhaus untergebracht war. Olga wurde viermal festgenommen und ihr 6-jähriger Sohn hat seine Mutter weder an seinem Geburtstag, an Neujahr noch an Weihnachten gesehen. Sie ist immer noch im Zhodino Gefängnis.

„Ich habe einfache Worte in Blut an die Wände des Gefangenentransportes geschrieben: Volk, Frieden, Ehre, Gewissen, Gott“

Minsk vor zwei Monaten: Wir sitzen in einer kleinen Küche. Olga will von ihren August Erlebnissen berichten. Zunächst fragt sie: Kaffee oder Adaptol? (angstlösendes Beruhigungsmittel)

Wir begannen mit Kaffee, wechselten aber nach ein paar Stunden schrecklicher Erinnerungen zu Adaptol. Während wir redeten wurde es kühl und herbstlich in Minsk, jetzt schneit es vor dem Fenster. An diesem Abend nehmen Silowiki (Vertreter von Sicherheitskräften und Militär) mit Masken und Gewehren Menschen fest, die friedlich in Nachbarhöfen Tee trinken.

Eine traurige rote Katze rollt sich in einem Ball zu unseren Füßen zusammen. Aliaksandar Paulau, Olgas Vater, sitzt am gleichen Tisch, zieht einen Stapel Briefumschläge heraus und liest Briefe seines einzigen Kindes vor. Er erzählt uns, dass seine Tochter Olga ihren Abschluss an der medizinischen Universität gemacht hat und einen guten Job hatte. Und bis 2020 war Olga ein ruhiges Mädchen, das ihren kleinen Sohn großzog und sich nicht für Politik interessierte.

[...]

Olga liebt ihren Job in einer großen belarusischen Kosmetikfirma, aber dort wird ihr klar gemacht, dass aktives bürgerliches Engagement nicht erwünscht ist. Bereits Mitte Juli 2020 fordert sie in einem mutigen Videoappell das belarusische Militär und die Sicherheitskräfte auf, sich für die verfassungsmäßigen Rechte des Volkes einzusetzen. Von den ersten Tagen an gehört Olga zum Wahlkampfteam von Swetlana Tichanowskaja.

Aus dem Interview mit Olga Pawlowa:

„Am 9. August fahre ich zusammen mit meiner Freundin Julia, einer Vertrauensperson von Swetlana Tichanowskaja und meinem Bekannten Pjotr durch die Wahllokale im Bezirk Perwomaiskij - es gibt Bitten von Bürgern die zahlreichen Verstöße zu protokollieren. Im Wahllokal Nr. 76 schließt die Vorsitzende der Wahlkommission die Tür vor Julia zu und weigert sich, sie die Stimmenauszählung beobachten zu lassen. Sie ruft eine Spezialeinheit der Polizei.

Die Polizisten kommen sehr schnell, sie sehen aggressiv aus, rennen mit Sturmgewehren im Anschlag in die Schule und ich habe Angst um Julias Sicherheit, also rufen auch wir von meinem Telefon die Polizei an (eine mir wichtige Tatsache). Daraufhin verlassen Julia und die Polizisten die Schule - die Beamten erklären, dass sie die Vorsitzende der Kommission Nr. 76 nicht beeinflussen können. Julia habe in Ihrem Wunsch die Stimmenauszählung zu beobachten, absichtlich gegen den Kodex verstoßen.

Wir bleiben zurück, um zusammen mit den anderen Wählern auf die Ergebnisse der Stimmenauszählung zu warten. Gegen 22:00 Uhr ruft ein Bekannter an und sagt, dass es in der Nähe der Stele „Heldenstadt Minsk“ Explosionen gibt. Ich habe Medikamente dabei und bitte Julia, mich dorthin zu bringen, denn ich bin wehrpflichtige Ärztin und es ist meine staatsbürgerliche Pflicht der Bevölkerung Erste Hilfe zu leisten.

Ich steige aus dem Auto aus und höre Explosionen. Die Leute sagen, dass OMON-Einheiten, Spezialeinheiten der Miliz, mit Gummigeschossen und mit Lärm- und Blendgranaten auf Zivilisten schießen, dass es Verwundete gibt. Wir kommen in die Nähe einer Einheit des „Ministeriums für Notfallsituationen“, die Beamten stehen draußen, aber sie erklären, dass sie die Anweisung haben, nicht in das Geschehen einzugreifen. In der Nähe der Liebfrauenkirche werden die Explosionen lauter, Schüsse sind zu hören, Menschen schreien. Ich gehe den Hügel hinunter und finde mich zwischen OMON-Einheiten und Zivilisten wieder.

Erste Hilfe für Demonstranten

Ich wusste aus meinem Militärmedizinischen Kurs, dass Sanitäter in der Pufferzone zwischen den beiden Lagern bleiben und die Verwundeten nach dem Beschuss versorgen müssen. Aber da die gewaltsame Konfrontation hier nur von den OMON Milizen ausgeht, stellte ich mich vor sie und hebe meine Hände hoch, um zu zeigen, dass wir keine Waffen haben. Die Menschen skandieren: „Wir sind für den Frieden!", „Wir sind ein Volk!", „Die Armee ist mit dem Volk!" und fordern die Milizen auf, ihre Schilder niederzulegen und keinen Völkermord an ihrem Volk zu begehen, das zu verteidigen, sie geschworen haben.

Die Sicherheitskräfte beginnen mit Schlagstöcken auf ihren Schildern zu trommeln, Granaten zu werfen und auf die Demonstranten zu schießen. Die Menschen beginnen auseinander zu laufen. Ich und ein anderes Mädchen mit der nationalen rot-grünen Flagge bleiben mit erhobenen Händen stehen und machen deutlich, dass es ein Verbrechen ist, auf die eigenen Leute zu schießen. Ich hoffe, dass die Sicherheitskräfte verstehen, dass sie auf unbewaffnete Menschen schießen.

Ein Granatsplitter trifft mein Bein und mein Arm wird von einem Geschoss getroffen. Die OMON-Milizen rennen mit Schlagstöcken auf die Zivilisten zu. Einer von ihnen schubst mich hart und beschimpft mich. Ich falle hin, mein linker Arm wird aufgeritzt. Sie packen mich, schleppen mich zu einem Gefangenentransporter und werfen mich in das sogenannte „Glas“ (eine kleine Zelle im Transporter).

Wir sind etwa anderthalb Stunden unterwegs, die ganze Zeit über höre ich, wie sie die Leute in den Transporter zerren und sie schlagen. Meine Hände und Füße hören nicht auf zu bluten. Ich bitte das Personal, mir meinen Erste-Hilfe Rucksack zu geben, um die Wunden zu behandeln oder Erste Hilfe zu leisten - keine Reaktion. Ich beginne, einfache Worte mit Blut an die Zellenwände zu schreiben: Volk, Frieden, Ehre, Gewissen, Gott. Es ist meine Art des Protests gegen die Verletzung meiner Rechte.

Dann befehlen sie uns auszusteigen, und auf meine Bitte sich vorzustellen und uns zu sagen, wohin sie uns bringen, schreien sie: „Schlampe, halt Dein Maul, fick Dich Schlampe!"

„Miststücke, ihr wollt Veränderung?"

Ich höre ausschließlich wüste Beschimpfungen. Wer den Kopf hebt, bekommt einen groben Schlag. Von diesem Moment an habe ich keine Zweifel mehr, dass ich von Banditen entführt wurde, da normalerweise jeder Beamte verpflichtet ist, sich zu identifizieren und den Grund für die Festnahme sowie seinen Dienstrang zu nennen.

Als nächstes kommt der „Korridor“, auf beiden Seiten stehen Banditen, gekleidet in der Militäruniform meines Staates, die mich von hinten schubsen und anschreien:

„Kopf runter! Nicht ins Gesicht schauen! Beweg Deinen Arsch, Schlampe!"

Sie zerren mich in ein anderes Auto und bringen mich in das Gefängnis Okrestina. Wieder müssen wir durch einen „Korridor“ von Banditen, gekleidet in Uniformen der OMON-Milizen, schwarze Masken im Gesicht, Sturmgewehre in den Händen, Geschrei, üble Sprache, Beleidigungen.

Wir werden an den Wänden im Flur aufgereiht. Die Frauen müssen die Hände und den Kopf an die Wand pressen, die Füße müssen „schulterbreit“ auseinander. Die Männer werden etwas weiter entfernt auf die Knie gezwungen, mit den Händen hinter dem Rücken und dem Kopf auf dem Boden. Der aggressivste Bandit, Ewgenij (seine Identität wird dank vielen Zeugen bereits nach dem Verlassen des Gebäudes festgestellt), schlägt die Männer mit seinem Knüppel, mit Händen und Füßen, beleidigt und demütigt alle und schreit dabei: „Miststücke, ihr Biester, ihr wollt Veränderung?!"

Ich erkläre, dass die verfassungsmäßigen Rechte der Bürger verletzt werden – dazu zählt u.a. meine Entführung, der Diebstahl von persönlichen Gegenständen. Woraufhin Ewgenij auf mich zukommt und meinen Kopf mehrmals gegen die Wand schlägt: „Du hast keine verfassungsmäßigen Rechte, Schlampe! Bist du etwa die Klügste hier?!"

Artikel 45 der Verfassung der Republik Belarus garantiert das Recht auf Gesundheitsfürsorge. Also fordere ich, mir medizinische Hilfe zukommen zu lassen, woraufhin Ewgenij erneut meinen Kopf gegen die Wand schlägt.

Eine Zeugin des Geschehens ist Olesja Stogowa, die als russische Staatsbürgerin darum bittet, den Botschafter anzurufen. Daraufhin schlägt Ewgenij sie mit einem Gummiknüppel und schlägt ihren Kopf mehrmals gegen die Wand mit den Worten: „Ich ficke Euer Russland und Euren Präsidenten! Scheiß auf dich, Du kriegst keinen Botschafter!"

Olesja sagt, dass es gegen das Gesetz sei, Bürger anderer Länder zu schlagen, woraufhin Ewgenij erneut ihren Kopf gegen die Wand schlägt und sie in ein Zimmer auf der gegenüberliegenden Seite des Korridors bringt. Ich höre, wie er sie dort schlägt, weil sie erneut verlangt, bei der Botschaft anzurufen. Die ganze Zeit über steht eine „platinblonde“ Mitarbeiterin neben uns. Sie schlägt die Männer auch mit den Füßen, meist mit Tritten in die Leistengegend. Sie schreit die Frauen an, dass sie ihre Beine weiter spreizen sollen und schlägt sie mit ihren Kampfschuhen, so dass die Leistenmuskelbänder bis zur Grenze gedehnt werden - es ist unerträglich schmerzhaft.

Schmuck in den Müllsack

Dann kommt eine Frau in einem weinroten Arztanzug und einem Stethoskop um den Hals und einem Müllsack in den Händen herein und befiehlt allen, ihren Schmuck abzulegen. Ich trage teure goldene Ohrringe mit Smaragden und verlange ein Inventar des beschlagnahmten Schmucks zu sehen. Sie lehnt ab. Ich weigere mich, die Ohrringe abzunehmen, daraufhin sagt sie: „Mach es lieber selbst, sonst reiße ich sie ab.“ So bedroht nehme ich die Ohrringe ab und werfe ihr Diebstahl vor.

Ich bitte erneut um ärztliche Hilfe, aber die medizinische Mitarbeiterin weigert sich. Dann bringen sie uns einen nach dem anderen ins Büro, zwingen uns, uns nackt auszuziehen und zwei Kniebeugen zu machen. Die ganze Zeit hören wir das Stöhnen und Schreien aus dem Nebenzimmer. Dort schlagen die Banditen, angeführt von Ewgenij und der Blondine, weiter auf die Männer ein. Dann wird uns befohlen, im Gänsemarsch die Treppe in den dritten Stock hinaufzugehen. Auf jedem Flur befindet sich ein Bandit mit dem Gesicht schwarz vermummt und einem Sturmgewehr in den Händen.

Neunzehn Frauen sind in der 4 mal 4 Meter großen Zelle Nr. 18 eingepfercht. Olesja Stogowa kommt mit mir. Sie verlangt erneut, mit der russischen Botschaft zu sprechen, woraufhin man sie aus der Zelle holt. Zurück kommt Olesja weinend – man hat sie wieder geschlagen, sie sagen, dass man ihr keinen Zutritt zum Botschafter erlauben werde und dass sie in der Zelle verrotten und niemand jemals davon erfahren werde. Wir stehen alle unter Schock.

Wir stellen uns den Mitgefangenen vor. Es ist eine ganze Familie in der Zelle, eine Mutter und zwei Töchter (eines der Mädchen ist Stipendiatin der präsidialen Ausbildungsförderung). Sie kamen ins Wahllokal, um sich mit den Ergebnissen vertraut zu machen. Wohin der Familienvater gebracht wurde, wissen sie nicht. Die Mutter kann es immer noch nicht glauben und beruhigt ihre Töchter: „Das ist eine Art Fehler, das Gericht wird alles klären, alles wird gut.“

Viele sind zufällig in die Zelle geraten, zum Beispiel Alexandra, die im Bezirk Zentralnyj wohnt, sie ging aus dem Haus, um eine Zigarette zu rauchen. Unter uns ist eine Frau in betrunkenem Zustand, die im Gegensatz zu uns allen weiß, wo wir uns befinden, da sie hier bereits eine Strafe für Vergehen abgesessen hatte. So erfahren wir, dass wir im TsIP (Zentrum zur Isolation von Straftätern - August2020) in der Okrestinstraße sind, im neueingerichteten Flügel.

„Du wirst hier verrotten“

Hinter den Mauern können wir die Brutalität hören, mit der die Männer verprügelt werden. Sie schreien, keuchen und flehen darum, dass die Milizen mit dem Schlagen aufhören. Aber die Schläge gehen weiter. Dann öffnet sich eine Türklappe und eine Frau mit einem Register fordert uns auf, näher zu kommen und unsere Daten anzugeben: Ort und Zeit der Festnahme, angeblich, damit unsere Angehörigen uns finden können. Aber ich habe meine Zweifel, denn wenn die Festnahmen legal gewesen wären, stünden all diese Informationen in dem Bericht. Ich gebe nur meinen vollen Namen an (das reicht, damit meine Verwandten wissen, wo ich bin) und bitte die Frau sich vorzustellen, ihren Dienstgrad und den Grund für meine Festnahme zu nennen.

Sie fängt an zu schreien und ruft zwei Banditen (einer trägt eine OMON-Uniform, der andere hat einen „Militsiya“-Streifen); die Platinblondine schließt sich ihnen an. Sie holen mich heraus, stellen mich mit schulterbreit gespreizten Beinen an die Wand und beginnen mich einzuschüchtern: Wenn ich die Daten nicht liefere, werden sie mich wegen Ungehorsam anklagen und ein strafrechtliches Verfahren einleiten. Ich antworte, dass ich ihnen alle Daten geben werde, wenn sie sich namentlich vorstellen, mir den Grund für meine Entführung sagen und mir ihren Dienstrang nennen.

Daraufhin schlägt der Mann in Uniform meinen Kopf gegen die Wand, und die Blondine schlägt mit Fußtritten auf meine Beine ein, reißt immer wieder an meinen Leistenbändern, versucht mir die Finger zu brechen. Ich balle meine Finger zu Fäusten, die Blondine beginnt meinen Arm zu verdrehen, lässt mich knien, drückt meinen Kopf mit dem Fuß auf den Boden und schreit: „Du Schlampe, gib‘ mir Deinen Ausweis!"

Ich antworte, dass alle meine Dokumente, Militärausweis, Pass, Führerschein in dem Rucksack sind, den ihre Kollegen gestohlen haben. Die Blondine springt zurück und geht weg, und sie lassen mich auf dem Betonboden stehen: „Vielleicht wird sie klüger“. Ich kniee nieder und spreche ein Gedicht von Jovan Zmaj:

„Ehre kann kein Gold kaufen,

Ein ehrenhafter Mann kann seine Ehre nicht aufgeben,

Er braucht Ehre wie Licht.

Ein Ehrloser verkauft sie gerne,

Aber, wie jeder weiß,

Kein Ehrloser hat Ehre.“

Ich weiß nicht, wie lange ich da stehe, dann kommt einer der Banditen und öffnet die Zelle:

„Kriech rein, du Ungeheuer! Dein Platz ist am Scheißkübel, Du wirst hier verrotten!"

Bald öffnet sich die Zellentür wieder und man bietet mir einen Kompromiss an: Wenn ich Ihnen meine Daten gebe, lassen sie mich mit einer Geldstrafe raus. Ich lehne ab, da ich nicht gegen das Gesetz verstoßen habe und keine Geldstrafe für meine Entführung, illegale Festnahme und moralische und physische Misshandlung zahlen will. Wieder einmal erinnere ich sie daran, dass sie die verfassungsmäßigen Rechte der Bürger und die Anforderungen von SanPiN (Regeln und Vorschriften der Gesundheitsverordnung) verletzen - die Zelle für vier Personen war überfüllt. Ich bitte sie mir auch das „Gefängnis-Heft für Bemerkungen und Vorschläge“ zu geben. Als Antwort bekomme ich: „Du sture Närrin, fick Dich, Du wirst es bereuen!"

Keine Luft zum Atmen

Die Frauen in der Zelle sind verängstigt, denn für achtzehn von ihnen ist es die erste Festnahme in ihrem Leben. Wir wissen nicht, wie wir uns verhalten sollen und was uns erwartet. Wir bekommen nichts zu essen, wir trinken Leitungswasser und der Toilettenkübel stinkt fürchterlich. Es gibt praktisch keine Luft zum Atmen, und obendrein öffnet sich die Tür und ein Eimer Wasser wird in die Zelle geschüttet.

Dann kommen weitere Frauen dazu - wir sind jetzt 36 (zwischen 18 und 55 Jahre alt). Es ist sehr heiß und stickig und wir bitten sie, die Türklappe zu öffnen. Stattdessen öffnet sich die Tür und ein weiterer Eimer Wasser wird in die Zelle geschüttet, dieses Mal direkt auf mich. Es macht alles noch schlimmer - das Wasser verdunstet, und die Luftfeuchtigkeit steigt weiter.

Wir sind auf den 4x4 Metern wie folgt verteilt: zwei Personen liegen unter den Stockbetten, vier auf den unteren Etagen, vier auf der zweiten Etage, zwei weitere auf dem Boden unter dem Tisch, sechs auf den Bänken, ein Mädchen sitzt auf dem Nachttisch, eines sitzt im Nachttisch, die anderen liegen zusammengerollt auf dem Boden in der Nähe des Scheißkübels.

Ein Mädchen bekommt eine Panikattacke, erbricht vierundzwanzig Stunden lang und verliert das Bewusstsein. Eine Frau mit Diabetes verlangt drei Tage lang nach den Tabletten aus ihrer Tasche, aber ohne Erfolg. Ich bekomme einen schrecklichen Husten durch die Unterkühlung, meine Wunden eitern. Uns allen wird medizinische Hilfe verweigert.

Hinter der Wand werden die Männer weiter gefoltert. Einer wird so schwer geschlagen, dass er sich mit Blut benetzt. Sie schreien ihn an, er solle alles vom Boden wischen. Der Mann weint und sagt, er habe nichts, womit er das Blut abwischen könne, er sei nackt. Aber sie schlagen ihn weiter und schreien ihn an, er solle das Blut mit seinem Körper abwischen.

Es wird auch für uns immer schlimmer. Wir bitten darum, die Türklappe zu öffnen, um Luft zu bekommen, aber niemand reagiert darauf. Abwechselnd dösen wir für 15-20 Minuten und wachen dann auf - das ist die Reaktion des Körpers auf den Sauerstoffmangel. Die aktive Atmung und der Aufwach-Mechanismus reagieren so, wenn eine Person kurz davor ist, das Bewusstsein zu verlieren. Das Mädchen, das auf dem Nachttisch schläft, weigert sich Wasser zu trinken, vor dem Hintergrund der Hypoxie, des Sauerstoffmangels, entwickelt sie eine Dehydrierung; von Zeit zu Zeit prüfe ich, ob sie noch atmet.

Die Mädchen beginnen nacheinander eine terminale Dyspnoe, Atemnot zu bekommen. Ich selbst werde öfter ohnmächtig, meine Gedanken sind verwirrt, mein Körper beginnt abzuschalten. Mitten in der Nacht wird mir klar: Wenn wir nicht zum Luft holen rauskommen, wachen wir am Morgen nicht mehr auf. Also klopfe ich an die Türen. Ich bitte den Diensthabenden Wachmann auf der Etage, uns wenigstens für 10 Minuten auf dem Korridor atmen zu lassen, sonst hätte er unseren Tod auf dem Gewissen.

Den vierten Stock von Blut reinigen

Nach 15 Minuten öffnet er die Zelle, bittet uns leise auf den Korridor hinauszugehen und die Hände an die Wand zu legen. Ein Mädchen mit Behinderung wird durch die plötzliche Sauerstoffzufuhr ohnmächtig. Wir vereinbaren, dass der Wachmann uns nach einer Stunde wieder herauslässt und die Türklappe offen lässt. Er erkennt, dass die überfüllte Zelle sonst zu einer Art Gaskammer wird. Am Morgen, als er seine Schicht beendet, entschuldigt er sich, dass er uns nicht weiterhelfen könne, da der Chef bald käme. Daraufhin schließt er die Türklappe wieder.

Am Morgen wird die betrunkene vorbestrafte Frau aus der Zelle geholt, das Personal kennt sie noch – und sie erkennt das Personal. Am Abend kommt sie zurück und erzählt, dass sie den gesamten vierten Stock von Blut reinigen musste, bevor die Richter anrücken.
Am 11. August beginnen dann die Verhandlungen. Als der Wachmann, der die Richterin bewacht, ein Angestellter des ROVD (Bezirksabteilung für innere Angelegenheiten), in unsere Zelle kommt - ist er verblüfft: „Wie viele von Euch sind denn da?! Wissen Eure Angehörigen, wo Ihr seid?

Er sagt, er könne nur unsere Namen aufschreiben und unsere Verwandten anrufen. Ich bitte ihn, das Menschenrechtszentrum „Viasna“ über mich zu informieren, woraufhin er mich von der Liste streicht. Als er herausfindet, dass wir nichts zu essen bekommen, bringt er zwei Tüten mit Lebkuchen, Waffeln, Keksen, Saft – aus den Paketen, die uns nicht ausgehändigt wurden.

Ironischerweise werde ich ausgerechnet von der Blondine zum Gericht gebracht, die mich zuvor geschlagen hat. Die Richterin, Tatjana Motyl, bittet mich, mich vorzustellen. Ich gebe meinen vollen Namen und mein Geburtsdatum an. Beim Blick in meine Akte ist sie überrascht als sie meine Meldeadresse sieht. Ich habe nie unter der in meiner Akte angegebenen Adresse gewohnt. Die Richterin schreibt mit zitternden Händen meine Daten auf und fragt:

„Irgendwelche Anträge?"

„Ja, Antrag zur Beendigung der Folter.“

„Was für eine Art von Folter?"

„Wir bekommen nichts zu essen, wir werden bedroht und geschlagen. In der Vier-Personen-Zelle befinden sich 36 Personen. Gestern haben sie zwei Eimer Wasser über uns gegossen und eine ‚Gaskammer‘ eingerichtet. Sie weigerten sich auch, uns medizinische Hilfe zukommen zu lassen. Meine Wunden am Bein und am Arm eitern und ich bitte schon den dritten Tag darum, sie behandeln zu lassen.

Die Richterin antwortet, dass diese Themen nicht in ihrer Zuständigkeit lägen. Beschwerden über Haftbedingungen solle ich beim Leiter des TsIP (Zentrum zur Isolation von Straftätern) melden. Ich berichte ihr, wohin ich mit Beschwerden hier in TsIP „geschickt“ wurde, also bitte ich die Richterin, das Foltern von Bürgern zu melden.

Die Richterin fragt:

„Wurden Sie persönlich körperlich misshandelt?"
Ich erzähle, was mit mir gemacht wurde, auch weil ich mich weigerte, den Bericht zu unterschreiben, den ich nicht einmal kannte. Die Richterin fragt nach den Namen der Beamten.

„Als sie mich geschlagen haben, haben sie sich geweigert, sich vorzustellen.“

„Und wenn Sie sie sehen, können Sie sie identifizieren?

„Natürlich kann ich das. Diese Frau steht genau hier. Sie ist die Schlägerin und noch einer, der mit den großen Augenbrauen da.

„Das war’s. Gibt es weitere Anträge?"

„Ich bitte um eine Verlesung des Protokolls.“

„Wie? Haben Sie die Abschrift nicht gesehen?"

„Nein. Ich habe sie nicht gesehen und folglich nicht unterschrieben.“

„Pawlowa Olga, festgenommen um 21:00 Uhr auf dem Unabhängigkeitsprospekt, nahm an einer nicht genehmigten Kundgebung teil, sie skandierte Parolen.“

„Ich bitte darum zwei Zeugen nennen zu dürfen, mit denen ich zu dieser Zeit in den Wahllokalen Nr.75 und Nr.76 war.“ Da ich die Telefonnummern der Zeugen nicht auswendig kenne, lehnt die Richterin meinen Antrag ab.

Wir hören die Männer schreien

Ich sage ihr auch, dass zu dieser Zeit ein Anruf bei der Polizei von meinem Telefon aus im Wahllokal erfolgte und dass ich ein kleines fünfjähriges Kind habe. Die Richterin wird wütend und sagt, ich solle in eine Zelle gebracht werden, um behandelt zu werden und erste Hilfe zu bekommen. Die Ärztin bringt mir zwei Wattepads mit Wasserstoffperoxid und drei mir unbekannte Tabletten.

Ich habe das Urteil der Richterin nie gehört. Dann kam ein Angestellter des ROVD herein und sagte: „Pawlowa - 15 Tage Haft.“

Viele Inhaftierte bekommen ihre Berichte nicht ausgehändigt. Es gibt Fälle, in denen Mädchen aufgrund von zwei Berichten mit unterschiedlichen Orten und Zeiten der Festnahme vor Gericht gestellt werden. Es gibt Fälle, in der das Frunzenskij-Bezirksgericht eine Verwarnung ausspricht und das Maskouski-Bezirksgericht eine Geldstrafe verhängt, aber die Person wird trotzdem illegal festgehalten.

Am Abend beginnt eine der Frauen in der Zelle den Bezug zur Realität zu verlieren, ihre Psyche versagt. Sie weigert sich zu akzeptieren, was mit ihr geschieht. Sie sagt, wir seien Puppen. Sie geht zur Tür, klopft und sagte: „Das war’s, tschüss, ich gehe nach Hause“. Sie bringen sie raus, schlagen sie, bringen sie zurück und befehlen uns, sie zu beruhigen. In der Nacht bekommt sie einen hysterischen Anfall, danach Durchfall und dann tritt sie immer wieder auf uns alle ein. Ich weiß bis heute nicht, wie es mit ihr weiterging.

In der Nacht vom 11. auf den 12. August hören wir wieder Männer schreien, die geschlagen werden. Durch einen kleinen Spalt im Fenster sehen wir Krankenwagen kommen und wieder fahren. Wir hören, wie eine Gruppe Männer auf der Straße schwer verprügelt und mit Wasser abgespritzt wird. Sie schreien herzzerreißend, sie werden immer wieder geschlagen, die Leute in den Masken lachen, sie haben Spaß und sagen zu den Geschlagenen: „Wir werden jetzt das Tor öffnen – Ihr habt‘ eine halbe Minute wegzulaufen. Und dann fahren wir mit den Autos raus und zerquetschen diejenigen, die es nicht rechtzeitig geschafft haben.“

Das Beängstigendste war, dass die uniformierten Schläger Freude daran hatten, anderen Leid anzutun. Sie lächelten, lachten und schlugen weiter.

„Ihr Miststücke habt euer Mutterland verkauft“

Am nächsten Tag reihen uns die Banditen mit Sturmgewehren im Hof auf. Sie schreien, dass wir alle zwei Dollar pro Person bekommen, um auf die Straße zu gehen und zu demonstrieren:

„Ihr Miststücke habt‘ euer Mutterland verkauft! Ihr hättet zu Hause bleiben und Borschtsch kochen sollen.“

Ich kann die Beleidigungen nicht länger ertragen und trotz der Angst, wieder geschlagen oder sogar getötet zu werden, hebe ich den Kopf, drehe mich zu demjenigen um und sage:

„Haben wir das Mutterland verkauft? Oder waren Sie es, der es für die Prämien und Gehälter, die wir Ihnen zahlen, verkauft hat? Sie haben einen Eid geschworen, dem Volk zu dienen, aber statt es zu schützen, verstümmeln, schlagen und töten Sie - und begehen Völkermord!"

Seltsamerweise zögert der Mann daraufhin und erlaubt uns zu trinken und den Frauen, die nicht mehr stehen können, sich ins Gras zu setzen.

Sie setzen uns in einen Gefangenentransporter und bringen uns ins Zhodino Gefängnis. Da verstehe ich plötzlich, warum die Richterin wütend wurde. Bei der Durchsuchung zeigen sie mir meine Akte: Sie enthält Daten einer Namensvetterin, mit einem anderen Foto und einer anderen Meldeadresse. Es gibt keinen Gerichtsbeschluss, nur einen Zettel, auf dem 15 Tage Haft stehen, einfach mit dem Kuli dazugeschrieben. Die Aufseherin, die mich durchsucht, ruft jemanden an: „Was ist zu tun? Ich habe einen Fall gegen eine Person und da steht eine andere vor mir…?"

Ich diktiere meine Daten und unterschreibe zum ersten Mal in dieser Zeit den eigentlichen Durchsuchungsbericht. Es ist spät in der Nacht, als sie uns durch die Unterführungen auf das Gelände der Untersuchungshaftanstalt bringen. Niemand sagt uns, wohin sie uns bringen und warum. Als sie uns in einen Raum mit einer Rohrleitung mit Löchern führen, denke ich, sie werden die Türen schließen und Gas freisetzen oder uns erschießen. Ich befinde mich in einem Duschraum.

Bevor man uns in die Zellen bringt, sage ich dem Diensthabenden, dass ich illegal festgehalten werde und dass dies eine Entführung sei. Ich sage, die Daten in der Akte seien nicht von mir, das Geburtsdatum sei nicht von mir und sogar das Foto sei nicht von mir. Er sieht sich das Foto an, bekommt Angst und rennt zum Chef. „Scheiße, sie gehen mir auf den Sack. Es ist nicht das erste Mal, dass sie sich mit den Daten anderer Leute vertun.“
„Lass diese Scheiße und bring sie in die Zelle zu den anderen.“

Hungerstreik

Die Haftanstalt Zhodino erscheint wie das Paradies nach Okrestina! Wir sind nur 22 Personen in der Acht-Personen-Zelle, und jede kann sich hinlegen, wenn auch auf den nackten Boden, aber dennoch ausgestreckt.

Und auch hier gibt es wieder viele, die durch Zufall ins Gefängnis geraten sind. Ich erinnere mich an die schreckliche Geschichte von Tatjana, einer Witwe, deren Mann ein Jahr zuvor gestorben war. Sie brachte ihre Kinder ins Bett (11 und 7 Jahre alt) und ging einkaufen. Sie wurde verhaftet und die Kinder wurden in der Wohnung allein gelassen. Am Morgen wachten sie auf - Mama war weg, was die Kinder fünf Tage lang gemacht haben, ist unbekannt. Ich würde sie gerne finden.

Am Morgen erinnere ich den Diensthabenden daran, dass ich hier illegal festgehalten werde und schreibe eine Erklärung zur Verweigerung von Mahlzeiten. Ich frage nach meiner Registrierungsnummer. Ich habe fünf Tage lang nichts gegessen, ich habe kein Protokoll, auch nicht den Gerichtsbeschluss zu Gesicht bekommen. Ich kapiere, dass der einzige Beweis für meinen Aufenthalt die Registriernummer meiner Erklärung zum Hungerstreik ist. Allerdings wurde mir die nie gesagt.

Am nächsten Tag bringen sie mich wieder zum Chef. Wieder erinnere ich ihn an die strafrechtliche Verantwortung für unrechtmäßige Inhaftierung. Er sagt der Mitarbeiterin:

„Na gut, lass sie raus. Zerreiße ihre Akte und wirf sie weg.“

In Zhodino kann ich meine Sachen, unter anderem meinen Wohnungsschlüssel nicht finden. Freiwillige fahren mich zum TsIP, dort treffe ich meinen Vater. Vor den Mauern des TsIP bekomme ich Panikattacken und fahre für ein paar Tage aus der Stadt, um mich zu erholen.

Mit Kaffeebechern verhaftet

Kurz darauf bekomme ich eine Antwort vom Maskouski Bezirksgericht, dass es kein Verwaltungsverfahren gegen mich geben wird. Meine Strafe hätte ich bereits verbüßt! Während dieser ganzen Zeit habe ich nie den Grund für meine Festnahme erfahren. Tatsächlich haben sie mich einfach entführt, mich fünf Tage lang festgehalten und mir dann gesagt, ich solle gehen.“

Am 6. September wird Olga erneut festgenommen, als sie mit Freunden auf dem Partisanskij-Prospekt Kaffee trinkt.

„Mit zwei Bechern in der Hand nehmen sie mich fest und bringen mich zu einem Kleinbus ohne Erkennungszeichen und ohne Kennzeichen (es existiert ein Video, das von Passanten und von der Überwachungskamera des Geschäfts aufgenommen wurde).

Sie bringen mich in die Leninskij-RUVD (Bezirksverwaltung für innere Angelegenheiten) und halten mich etwa sechs Stunden lang in einer Garage fest. Dann werde ich für drei Tage in das IVS, das Untersuchungsgefängnis in der Okrestinstraße gebracht. Ich erfahre aus der Akte, dass ich an einem nicht genehmigten Streikposten teilgenommen und „provokative Parolen“ gerufen haben soll - „Es lebe Belarus“ und „Geh weg“. Die Geldstrafe beträgt 230 Euro.

Im Untersuchungsgefängnis Zhodino weigere ich mich, die Aufseher zu begrüßen und werde 17 Tage lang in die Strafzelle gesteckt.“

Am 1. November wird Olga erneut festgenommen. Sie sieht, wie ein Mann gepackt wird, geht auf die Leute mit den Sturmhauben zu und bittet sie, sich zu identifizieren. Sie findet sich im Gefangenentransporter und dann in der Garage der Leninskij-RUVD (Bezirksverwaltung für innere Angelegenheiten) wieder.

„Ich habe dort zwei geschlagenen Jungs geholfen. Einer von ihnen wurde mit Basic Green markiert, (grün gefärbtes Antiseptikum, siehe auch P.P.S. Farbstigmatisierungen definieren die spätere Härte der Strafe und Folter) - sie schütteten es ihm direkt ins Gesicht. Die ersten zwei Stunden danach dachte er, er sei blind.

Wiedersehen mit den prügelnden Beamten

In der Leninskij- Bezirksverwaltung konfiszieren sie mein Telefon, erstellen zwei Berichte nach Artikel 23.34 und 23.4 des Gesetzbuches für Ordnungswidrigkeiten und schicken mich für drei Tage in das TsIP in der Okrestinastraße. Dort erkenne ich an den breiten Augenbrauen den prügelnden Beamten vom August wieder und rufe ihn beim Namen:

„Ewgenij! Du warst es, der mich, Olesja und die Männer am 9., 10. und 11. August geschlagen hat! Ich möchte, dass Du weißt, dass ich einen Antrag, auch unter Olesjas Namen, beim Ermittlungskomitee, bei der Generalstaatsanwaltschaft und dem Internationalen Gerichtshof eingereicht habe. Er flucht laut und rennt weg.“

Olga erkennt sowohl die Blondine als auch die Sanitäterin wieder.

Viele der am 1. November beim „Marsch gegen den Terror“ Festgenommenen werden zu Verdächtigen nach Artikel 342 des Strafgesetzbuches deklariert. Am 4. November wird Olga vor Gericht gestellt – Geldstrafe dieses Mal 645 Euro. Sie wird freigelassen, aber es wird ein Strafverfahren eröffnet.

Am 15. November geht Olga mit einem Freund zum „Platz des Wandels“, um Altarlämpchen in Erinnerung an Raman Bandarenka aufzustellen (Raman Bandarenka starb am 12. November durch Schläge der Sicherheitskräfte, Anm. der Redaktion). Dort wird sie zum vierten Mal festgenommen. Man bringt sie in die Okrestina-Straße und am 18. November wird ihr nach Artikel 23.34 des Gesetzbuches für Ordnungswidrigkeiten der Prozess gemacht. Sie bekommt wieder eine Geldstrafe, dieses Mal 276 Euro. Aber sie wird nicht freigelassen. Direkt vom Okrestina-Gefängnis wird sie zur Leninskij- Bezirksverwaltung transportiert. Ihr Anwalt findet heraus, dass Olga wegen ihrer Teilnahme am 1. November Marsch für 72 Stunden festgenommen und nach Teil 1 des Artikels 342 des Strafgesetzbuches („Gruppenhandlungen, die die öffentliche Ordnung grob verletzen“) angeklagt und ins Gefängnis Zhodino überstellt worden ist.

Laut Aliaksandar Paulau, Olgas Vater, kam es seitdem zu keinen Prozesshandlungen vorgenommen. Der Ermittler sagt, er habe keine Zeit, sich mit dem Fall zu beschäftigen, es gäbe andere Dinge zu tun: Am 20. Januar hat Olga bereits zwei Monate im Gefängnis ohne Verhandlung verbracht. In Zhodino wird Olga zehn Tage lang in einer Vier-Bett-Zelle eingesperrt. Sie schreibt über ihre Zellengenossin: "...eine besonders gefährliche, sie verbüßt hier ihre dritte Strafe wegen Mordes, aber ich kann mit Sicherheit sagen, dass die Menschen, mit denen ich zusammen bin, mehr Menschlichkeit beweisen als die, die hier arbeiten“.

Danach wird sie in eine Doppelzelle verlegt. Olga teilt ihrem Vater mit, dass sie ein Paket bekommen hat und dass sie einen halben Tag damit verbracht hat, Toilettenpapier zusammenzurollen. Sie berichtet darüber, dass sie auch eine Falle für Kakerlaken bekommen hat, die es im Gefängnis reichlich gibt - und dass sie sich selbst treu bleiben will, zur Freude ihres Vaters. Sie klärt die Aufseher auf, dass „laut SanPiN Regeln und Vorschriften der Gesundheitsverordnung) das Vorhandensein von Insekten ein Verstoß gegen die Haftbedingungen ist“. Und sie berichtet, dass sie eine Verwarnung bekommen habe, weil sie das Personal nicht grüße. „Ich sage ihnen dann, dass ich nur diejenigen grüße, die ich respektiere und sie fallen nicht in diese Kategorie. Und die Regeln verpflichten mich nicht dazu, dies zu tun. Während der Meldungserstattung an den Diensthabenden erzähle ich, wie viele Kakerlaken ich gefangen habe“. Olga leiht sich das Strafgesetzbuch, das Gesetzbuch für Ordnungswidrigkeiten sowie die Verfassung der Republik Belarus aus der Gefängnisbibliothek aus. Sie will „lernen und lehren“.

Am 3. Dezember wird Olga für eine Woche in eine Strafzelle gesteckt. Danach für weitere fünf Tage „wegen Beleidigung des Regimes“. Am 14. Dezember teilt der Anwalt dem Vater mit, dass seine Tochter „blass und schwach sei, aber trotzdem in den Hungerstreik treten werde“. Sie erhält fünf weitere Tage in der Strafzelle. Olga beginnt an Panikattacken zu leiden, der Gefängnispsychologe rät ihr „sich mit etwas zu beschäftigen“.

Wieder im Hungerstreik

Das „Gefängnis-Radio“ verbreitet die Nachricht, dass das Mädchen Olga seit zehn Tagen im Hungerstreik sei. Als Zeichen der Unterstützung treten daraufhin auch Männer in anderen Strafzellen in den Hungerstreik. Am 20. Dezember wird Olga, geschwächt vom Hungerstreik und nach „17 Tagen in der Hölle“, in die medizinische Abteilung des Gefängnisses verlegt. „Aber ich grüße das Personal trotzdem nicht“, sagte Olga zu ihrem Vater. „Verstehst Du, durch moralische und körperliche Vergewaltigung erzwingt man keinen Respekt.“ Ihr wird erneut die Strafzelle angedroht. In einem Brief an ihren Vater schreibt Olga, dass sie nicht den Mut verliert, obwohl sie nicht weiß, ob sie stark genug sein wird, einen weiteren Hungerstreik durchzustehen, und dass sie nach ihrer Freilassung eine lange Zeit der Genesung brauchen werde.

Beim Abschied frage ich den Vater Aliaksandar, ob er es bedauert, dass seine Tochter diese Richtung eingeschlagen hat. Er antwortet, dass er Olgas Entscheidungen respektiert. Sie hätten gemeinsam über die Gefahren des bürgerlichen politischen Aktivismus im aktuellen Klima diskutiert und sich gegenseitig versprochen, sich immer zu unterstützen. In dem Gespräch sagte Olga zu ihrem Vater: „Was auch immer passiert, ich werde meinen Teil dazu beitragen. Und mein Tropfen wird schließlich das Meer erreichen.“

Sie können unsere Heldin unterstützen, indem Sie einen Brief oder eine Postkarte senden:

Zhodino, Sowetskaja ul 22a., 222163 ST-8.

An Pawlowa Olga Aleksandrowna

P.S. Seit zwei Monaten wird Olga Pawlowa in der Untersuchungshaftanstalt in Zhodino festgehalten, der Ermittler sagt, er habe keine Zeit, sich mit dem Verfahren zu beschäftigen. Im Januar 2021 wurde sie als politische Gefangene anerkannt.

*Die Redaktion dankt dem Internationalen Komitee zur Untersuchung von Folter in Belarus-2020 für die Unterstützung bei der Erstellung dieses Materials.

P.P.S. Anmerkung der Redaktion
Seit Anfang August 2020 wurden zahlreiche Vorfälle über die Verwendung unterschiedlicher Farben zur Kennzeichnung der inhaftierten Demonstrierenden bekannt. Von der farblichen Markierung der Festgenommenen hängt ab, welcher Art von Folter die Person ausgesetzt sein wird.

Die folgende Farbcodierung für inhaftierte friedliche Demonstrierende ist derzeit in Gebrauch:

  1. Farbe Gelb- Der/Die Gefangene wird gefoltert und misshandelt, trägt aber in der Regel keine schweren gesundheitlichen Schäden davon.
  2. Farbe Rot- Der/Die Gefangene wird gefoltert, erleidet schwere gesundheitliche Schäden, die teils dauerhaft bleiben.
  3. Farbe Grün - Mit dieser Farbe werden Gefangene mit einem untypischen Aussehen gekennzeichnet (Dreadlocks, blaue Haarfarbe, Piercing usw.). Sie sind Folter und Misshandlung ausgesetzt, begleitet von verbalen Beschimpfungen und Beleidigungen.
  4. Farbe Schwarz - So markierte Personen werden heftigsten Arten von Folter ausgesetzt, und, nach unbestätigten Informationen, sogar getötet.

Quelle: https://www.boell.de/de/2020/12/11/belarus-die-farben-der-polizeigewalt

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Richard Kaufmann / 16.02.2021

Und in der nächsten Folge: Das traurige Leben des P. Paulitschek, der es vom Milliardär zum Tellerwäscher gechafft hat. Eine sehr wahre Geschichte.

Karl Eduard / 16.02.2021

Erinnert sich noch jemand an den tränenreichen, emotionalen Auftritt der Tochter des saudischen Botschafters (wußte da noch niemand)  vor der UNO, wie irakische Truppen in Kuwait aus den Brutkästen rissen. Alles Lüge. Daraufhin begann der erste Irakkrieg. Der 2. nachdem Colin Powell mit einem Röhrchen mit Pulver herumwedelte. Der Krieg gegen Serbien wurde nach Scharpings Massakerlüge losgetreten, der gegen Gadaffi, weil der angeblich Vergewaltigungsviagra verteilen ließ. “Reiche mögen vergehen, Berge zu Staub zerfallen und Kontinente im Meer versinken. Was aber immer bleiben wird, das ist die menschliche Dummheit.” Visigota von Corvo (sinngemäß)

Daniel Oehler / 16.02.2021

In Deutschland sollte man bezüglich Weißrussland am besten die Klappe halten und sich jeder Einmischung enthalten. Denn dort im Osten weiß jedes Kind, was für ein Blutbad deutsche Soldateska im Zweiten Weltkrieg angerichtet hat. Von 9 Millionen Menschen wurden über eineinhalb Millionen umgebracht, oft unter dem Vorwand der Partisanenbekämpfung. Hinzu kommen mehrere Hunderttausend als Soldaten umgekommene Weißrussen. In der nationalen Gedenkstätte Chatyn auf dem “Friedhof der verbrannten Dörfer” der für immer verschwundenen Dörfer gedacht wird. Es gibt auch Bäume zur Erinnerung an die wiederaufgebauten Dörfer. Das Ghetto in Minsk haben nur wenige der mehreren zehntausend Bewohner überlebt. Von den aus Frankfurt am Main über 1000 dorthin deportierten Juden haben gerade mal 8 überlebt. Im Vernichtungslager Maly Trostinez bei Minsk wurden über 40000 Menschen umgebracht. Deutschland ist das letzte Land in Europa, das ein Recht hätte, den moralischen Zeigefinger gegen Weißrussland zu erheben.

T. Merkens / 16.02.2021

Ich möchte den Lesern von Achgut gerne empfehlen, den im Artikel unten als “Quelle” angegebenen Link nach dem zweiten “de” zu kappen, die Startseite der Böllstiftung einmal von oben bis unten zu überfliegen, und abschließend die Glaubwürdigkeit subjektiv zu beurteilen. Ich habe dies vor vielen Jahren das letzte Mal getan, und es hat sich bis heute nichts an zumindest meiner persönlichen Einschätzung geändert.

Mathias Rudek / 16.02.2021

Danke der Achgut-Redaktion für die Veröffentlichung dieser eindrücklichen Schilderungen aus Weißrussland. Folter ist wirklich etwas Schreckliches und Unhaltbares. Im Osten leider nichts neues, die Polizeimethoden haben sich in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion nicht geändert. Unsere Linken wollen doch gerne diese Zustände, dann sollte aber einem Herrn Blechschmidt, der er auch viel selbiges redet, als Vertreter der Roten Flora auch klar sein, daß diese gerne immer wieder herbeizitierte Gesellschaftsform einen Staat im Staate nicht zuläßt. So oder so. Aber so ist das mit den Unverbesserlichen, sie lernen nichts dazu, immer wiederholt sich mantra-artig dieser Schwachsinn. Keine Macht für niemand und am Ende gibt’s die Macht nur für eine kleine Clique und die ist gleicher als gleich. Nach wie vor heißt die eiserne Regel: Gleichheit im Elend – ausgenommen für eine kleine Gruppe der Gleicheren.

Silvia Orlandi / 16.02.2021

Asyl für alle pol. Gefangenen, Gefolterten- egal aus welchem Land.

Udo Meier / 16.02.2021

Dafür ist es dort auf den Strassen sicherer. Wie man Revolutionen macht haben gewisse Leute ja sogar stolz in einer Doku. erzählt.

Friedrich Richter / 16.02.2021

Dieses Regime wird am wachsenden Widerstand der eigenen Bevölkerung scheitern. Eine Einlassung der deutschen Regierung würde nichts bewirken und ausserdem Mut und diplomatischen Sachverstand erfordern. Beides fehlt. Schliesslich hat das auch etwas mit den Beziehungen zu Russland zu tun. Allein die Vorstellung, Klein-Maasschen würde in diesem Konflikt herumstolpern oder Frau Merkel empfände die Behandlung der dortigen Opposition durch das Lukaschenko-Regime als nicht hilfreich lässt einem die Haare zubergestehen.

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