Heute startete der Strafprozess gegen Harvey Weinstein in Manhattan mit den Auftaktplädoyers auch inhaltlich.
Die Esslinger Zeitung schrieb im Vorfeld ganz richtig:
Es gab wohl nur wenige Fälle in der Geschichte, in der ein Angeklagter in der Öffentlichkeit schon vor dem Prozess so eindeutig als schuldig dargestellt wurde. Die unzähligen Artikel mit den Beschreibungen von Dutzenden Frauen zeichnen das Bild eines aggressiven Mannes, der junge Frauen mit dem Versprechen ihre Karriere zu fördern immer wieder in Hotelzimmer lockte und Gegenwehr mit all seiner Macht beiseite wischte. Die Wirkung der Berichterstattung spiegelt sich auch darin, wie viele potenzielle Juroren sich in den ersten Prozesstagen für befangen erklärten und sagten, sie könnten nicht unvoreingenommen am Prozess teilnehmen. Doch Geschichten, die sich in großen Zeitungen vernichtend lesen, sind noch lange keine gerichtsfesten Fälle mit der Garantie einer Verurteilung.
Eine Verurteilung ist denn auch – sollte alles mit rechten Dingen zu gehen – recht unwahrscheinlich, zumindest in Manhattan. Die Schwierigkeiten der Anklage sind immens. Aus drei Opfer-Zeuginnen wurden wegen Unglaubwürdigkeit zwei. Die behaupteten Vorfälle liegen Jahre zurück, beide mutmaßlichen Opfer sollen nach der „Tat“ Beziehungen mit Weinstein fortgesetzt, ihm gar Liebesbriefe per E-Mail geschrieben beziehungsweise Ersuche um Treffen auf dem Anrufbeantworter hinterlassen haben.
Aber auch ein Freispruch könnte der MeToo-Kampagne und den sie stützenden Massenmedien egal sein, denn bei „Weinsteins Schuld“ ging es ohnehin nie um justiziable Sexualverbrechen, sondern um zwei ideologische Momente, die vor allem eine Frage der Perspektive sind.
Eine politische Regression
Zum einen soll jede Verantwortung für die freiwillige Selbstverstrickung erwachsener, karrieristischer Frauen in später bereute Handlungen, die „Weinsteins Macht“ fürs persönliche gesellschaftliche Fortkommen gebrauchen wollten, im Sinne eines antifeministischen Rollbacks auf Weinstein abgewälzt und auch in zukünftig denkbaren Szenarien vom eigenen Selbst abgespalten und pathisch (auf wen auch immer) projiziert werden.
Zum anderen soll man(n) im Sinne einer konformistisch-antikapitalistischen Schizzo-Moral zwar nach wie vor Karriere machen dürfen, ohne aber anschließend in der sozialen Interaktion von dem zu profitieren, wofür Männer wie Frauen überhaupt erst und gemeinhin Karriere machen wollen: die Vorteile gesellschaftlicher Macht- und Einflusspositionen. Sofern Frauen involviert sind, ist damit jeder männliche Gebrauch von Macht und Einfluss schlicht Missbrauch.
Eine politische Regression also, die auch dann nicht ins Recht käme, wenn Weinstein sich tatsächlich eines oder mehrerer Sexualverbrechen(s) schuldig gemacht haben sollte.
„Flirt“ und „Business“
Die verlinkte Szene – als ein von, soweit ich weiß, nur zwei Dokumenten, die von Weinsteins „Verhalten“ aussagenunabhängig, quasi objektiv, Zeugnis ablegen –, die den kontextual erhobenen Vergewaltigungsvorwurf weder bestätigt noch entkräftet, wird schon für sich von Feministinnen und ihrem männlichen Anhang als sexuelle Belästigung und Machtmissbrauch Weinsteins interpretiert.
In Wirklichkeit sieht jeder, der sich nicht vom tendenziösen Schnitt des Materials und den entsprechenden Kommentaren aus dem Off dumm machen lässt, dass die Dame Weinsteins anfängliches Angebot, „Business“ und „Flirt“ zu verquicken, ganz im Sinne der schwedischen Gesetzgebung ausdrücklich – verbal sowie gestisch – annimmt. Im weiteren Verlauf zeigt sie ihm nicht nur Grenzen auf, die er respektiert (Oberarm streicheln: ok, Schenkel, gar unterm Rock: nicht ok), sondern streichelt zwischendurch selbst „proaktiv“ seinen Oberarm, beugt sich immer wieder zu ihm. Ebenfalls gibt sie Weinstein mit der bewusst doppeldeutig fischenden Frage, ob ihre dargebotene Marketing-Plattform, die er kaufen soll, nicht „hot“ sei, Gelegenheit, den Ball aufzunehmen und zu antworten: „Ja – und du bist auch hot“. Durchgängig signalisiert sie ihm, in zumindest kleinen Krümeln von ihrer Hotheit kosten zu dürfen, solange man dabei auch beim Business bleibe.
Zu keinem Zeitpunkt der Szene macht Weinstein ein großes Geheimnis darum, dass er irgendeine läppische Marketing-Plattform nicht wirklich nötig hat und einen dennoch möglichen Kaufvertrag von ihrer Bereitschaft abhängig macht, „Business“ und „Flirt“ (am liebsten mehr) aneinander zu koppeln.
Und sie lässt sich unter dezenten Grenzziehungen durchaus offensiv darauf ein, „spielt“ also mit, lässt im Nachhinein als Zudringlichkeit geltende „Anmachen“ über sich ergehen, die sie sich von weniger einflussreichen Männern womöglich nicht gefallen lassen würde, weil sie ein Geschäft machen will. Daher willigt sie am Ende der Szene auch in eine Verabredung (explizit auf einen Drink) ein, auf dass es, wie sie hofft, dabei dann endlich zu einer Vertragsunterzeichnung kommen möge.
Von der erfolgreichen Geschäftsfrau zum armen Hascherl
Die Dame war beim Entstehen der Szene über 20, hatte einen hippen Beruf (Vertrieb hipper Marketing-Plattformen), gewisse Karriere-Sprünge und ein entsprechendes Standing bereits hinter sich, andernfalls hätte ihr Boss sie wohl kaum zum potenziellen Neukunden Weinstein-Company geschickt und ein Treffen mit deren Marketing-Abteilung abgesegnet.
Dass stattdessen ein älterer, in den Augen vieler: hässlicher Herr mit eindeutigen Absichten zum Meeting erschienen ist, diese Überraschung – oder, wenn man will, Überrumpelung – macht aus der gestandenen Karrierefrau kein armes, naives Hascherl. Sie hätte auf Business ohne Flirt bestehen und seine Avancen bestimmter zurückweisen können, dann aber möglicherweise in Kauf nehmen müssen, dass sie nichts verkauft. Sie hätte androhen können, auf der Stelle zu gehen, falls er seine Hände nicht bei sich behalte, und hätte dann auch – unter Umständen mit leeren Händen – gehen sollen. Sie hätte im 21. Jahrhundert ihrem Boss berichten können, dass der potenzielle Neukunde mehr Interesse an ihrem Körper als an ihrem Produkt zeigte, weshalb sie gegangen sei, und nun auf die Loyalität ihres Arbeitgebers setze. Sie hat sich anders entschieden, nämlich dafür, ihre Attraktivität und ihren „Charme“ als Verkaufsargument einzusetzen.
Beides ist legitim. Legitim ist auch, die getroffene Entscheidung später zu bereuen. Nichts aber macht Melissa Thompson allein darum zum Opfer Weinsteins, der Männerwelt, des Patriarchats oder des Kapitalismus. So viel Feminismus sollte schon noch sein.
P.S.
Was die im Video behauptete anschließende Vergewaltigung betrifft, waren die Anschuldigungen offensichtlich nicht wasserdicht genug, um mit ihnen eine Anklage im Strafverfahren zu begründen – und das, obwohl die Latte dafür in New York nicht besonders hoch hing…
Melissa Thompson hat sich mit ihrem Video der zivilrechtlichen Sammel-Klage gegen Weinstein angeschlossen und wird sich ca. 25 Millionen Dollar (Vergleich ohne Schuldeingeständnis) mit den Opfern ungewollter Massagen von vor 20 Jahren teilen müssen. Zahlen werden die Versicherungen der Weinstein-Company, die mit weiteren Millionen die Prozesskosten begleichen.
Dass die mutmaßlichen Weinsteinopfer einmal „auf ihre Privilegien“ gegenüber tatsächlichen Opfern erwiesener Sexualverbrechen „reflektieren“, wie es immer so schön heißt, steht indes nicht zu erwarten…
Thomas Maul schließt mit diesem Artikel an die Artikelserie „Akte Weinstein“ an.