Rainer Grell / 07.07.2018 / 16:30 / Foto: Bundesarchiv / 3 / Seite ausdrucken

Weihnachtsgans und hospitalisiertes Nilpferd

In der Generaldebatte des Bundestages zum Haushalt 2018 hatte die AfD-Fraktionsvorsitzende Alice Weidel in ihrer Rede am 16. Mai 2018 Folgendes erklärt:

„Burkas, Kopftuchmädchen und alimentierte Messermänner und sonstige Taugenichtse werden unseren Wohlstand, das Wirtschaftswachstum und vor allem den Sozialstaat nicht sichern.“ 

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) rief Weidel daraufhin zur Ordnung und erklärte, mit der Formulierung „Kopftuchmädchen und sonstige Taugenichtse“ diskriminiere sie alle Frauen mit Kopftuch.

Ein Leser von RP Online fragte daraufhin: „Ob wohl Schäuble aus demselben Grund auch die Grünen zur Ordnung rufen würde, wenn wieder einmal die Rede von den Glatzen oder Springerstiefeln ist? Schließlich werden hier alle Glatzenträger und Springerstiefelfreunde in einen Topf geworfen. ...“

Der Einspruch Weidels gegen die Maßnahme blieb übrigens erfolglos. Dieser Vorgang veranlasst den Verfasser, sich einmal näher mit dem Thema Ordnungsrufe im Deutschen Bundestag zu befassen. Weitere parlamentarische Maßnahmen, die dem Sitzungsleiter (Präsidenten, Vizepräsidenten) außerhalb der Geschäftsordnung nach parlamentarischem Brauch zur Verfügung stehen wie „Rüge“ oder Qualifizierung einer Äußerung als „unparlamentarisch“, werden hier ebenso wenig behandelt wie Ordnungsgeld und Ausschluss.

Als Fazit lässt sich vorweg sagen: Wenn auch zuweilen bezweifelt wird, dass der Bundestag ein Spiegel der Gesellschaft sei (Stichworte: Zu viele Lehrer, zu wenige Frauen), bei der Verwendung von Schimpfwörtern wird die ganze Breite der Gesellschaft repräsentiert: „Auf das Tierleben – Ratte, Schlange, Stinktier, feiger Hund, Karnickel – griffen die Volksvertreter ebenso zurück wie auf eine deftige Fäkalsprache. Festgehalten sind auch Begriffe wie Berufsrandalierer, Gangster, Galgenkandidat, Harzer Roller, Lackschuh-Panther, Möchtegern-Schimanski, Nadelstreifen-Rocker, Petersilien-Guru, Putzlumpen, Massenmörder, Pistolero, Pogromhetzer oder Giftspritze.“

An Phantasie fehlt es unseren Volksvertretern nicht

Zu den ausgefallenen Tiervergleichen (bitte ziemlich weit nach unten scrollen), mit denen sich Politrowdies früher überzogen, gehörten: Kläffender Goldhamster, scheinheilige Schlange, Weihnachtsgans, Beamtenkuh, Schnarchhahn, Lackschuh-Panther oder hospitalisiertes Nilpferd. Also an Phantasie fehlt es unseren Volksvertretern wahrlich nicht.

Eine gewisse Berühmtheit erlangte Peter Ramsauer mit seiner Bezeichnung der Grünen-Abgeordneten Kristin Heyne als "freches Luder". Auch die Bezeichnung des Grünen-Politikers Rezzo Schlauch als „Brüllaffe“ ging auf sein Konto. Er wurde allerdings zuvor von dem späteren Außenminister Josef (Joschka) Fischer getoppt, der am 18. Oktober 1984 dem damaligen Bundestagsvizepräsidenten Richard Stücklen zurief: „Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch“, nachdem dieser das Gründungsmitglied der Grünen Jürgen Reents ausgeschlossen hatte, weil er Helmut Kohl als "von Flick freigekauft" bezeichnet hatte.

Gleichwohl entging Fischer einem Ordnungsruf, weil er zu diesem Zeitpunkt bereits ebenfalls von der Sitzung ausgeschlossen war (am nächsten Tag hat er sich entschuldigt). Einsamer Rekordhalter ist allerdings der SPD-Abgeordnete Herbert Wehner: „34 Jahre saß Herbert Wehner im Bundestag, 14 Jahre davon führte er die SPD-Fraktion. In dieser Zeit trug er sich 77 Ordnungsrufe ein.“ Allerdings bin ich nicht sicher, ob bei dieser Zählung immer exakt zwischen Ordnungsruf und Rüge unterschieden wurde und ob nicht auch Ordnungsrufe aus Wehners früherer parlamentarischer Tätigkeit mitgezählt wurden.

In jeden Fall konnte Wehner sich rühmen, als „größte parlamentarische Haubitze aller Zeiten“ (Heiner Geißler) bezeichnet worden zu sein. Den zweiten und dritten Platz in der Ordnungsrufen-Rangliste nehmen die Abgeordneten Heinz Renner (KPD, 47) und Ottmar „Schreier“ Schreiner (SPD, 40) ein. Franz-Josef Strauß, ebenfalls ein Mann starker Worte, brachte es dagegen nur auf einen einzigen Ordnungsruf. Hätten Sie das gedacht?

Die Mutter aller Wutreden

Eine vom Aussterben bedrohte Art der parlamentarischen Rede ist die „Wutrede“. Am 10. März 1998 hielt der damalige Trainer des FC Bayern München, Giovanni Trapattoni, die Mutter aller Wutreden, wie die Stuttgarter Nachrichten (StN) formulierten. Nachdem Herbert Wehner 1983 und FJS (Franz Josef Strauß) 1987 aus dem Deutschen Bundestag ausgeschieden waren (Strauß starb 1988, Wehner 1990), fehlte es an geeigneten Kandidaten für diese Form der parlamentarischen Auseinandersetzung: „Die Wutrede ist ein qualifiziertes Mittel in der Politik. Für Choleriker ist der parlamentarische Schlagabtausch die perfekte Bühne“ (nochmal die StN). Und: „Schon der antike griechische Philosoph Aristoteles wusste: Wem der Zorn fehlt, dem fehlt auch die Selbstachtung.“ Also, das wäre doch eine Erklärung.

Die Paragraphenlage stellt sich folgendermaßen dar. § 36 der Geschäftsordnung des Bundestages (GO) regelt den Sach- und Ordnungsruf sowie die Wortentziehung:

(1) Der Präsident kann den Redner, der vom Verhandlungsgegenstand abschweift, zur Sache verweisen. Er kann Mitglieder des Bundestages, wenn sie die Ordnung oder die Würde des Bundestages verletzen, mit Nennung des Namens zur Ordnung rufen. Der Ordnungsruf und der Anlass hierzu dürfen von den nachfolgenden Rednern nicht behandelt werden.

(2) Ist ein Redner während einer Rede dreimal zur Sache oder dreimal zur Ordnung gerufen und beim zweiten Male auf die Folgen eines dritten Rufes zur Sache oder zur Ordnung hingewiesen worden, so muss ihm der Präsident das Wort entziehen und darf es ihm in derselben Aussprache zum selben Verhandlungsgegenstand nicht wieder erteilen.

Weiter bestimmt die Geschäftsordnung zu diesem Thema

§ 37 Ordnungsgeld

Wegen einer nicht nur geringfügigen Verletzung der Ordnung oder der Würde des Bundestages kann der Präsident gegen ein Mitglied des Bundestages, auch ohne dass ein Ordnungsruf ergangen ist, ein Ordnungsgeld in Höhe von 1 000 Euro festsetzen. Im Wiederholungsfall erhöht sich das Ordnungsgeld auf 2 000 Euro. § 38 Absatz 2 gilt entsprechend.

§ 38 Ausschluss von Mitgliedern des Bundestages

(1) Wegen gröblicher Verletzung der Ordnung oder der Würde des Bundestages kann der Präsident ein Mitglied des Bundestages, auch ohne dass ein Ordnungsruf ergangen oder ein Ordnungsgeld festgesetzt worden ist, für die Dauer der Sitzung aus dem Saal verweisen. Bis zum Schluss der Sitzung muss der Präsident bekanntgeben, für wie viele Sitzungstage das betroffene Mitglied ausgeschlossen wird. Ein Mitglied des Bundestages kann bis zu dreißig Sitzungstage ausgeschlossen werden.

(2) Ein Sitzungsausschluss kann auch nachträglich, spätestens in der auf die gröbliche Verletzung der Ordnung oder der Würde des Bundestages folgenden Sitzung, ausgesprochen werden, wenn der Präsident während der Sitzung eine Verletzung der Ordnung oder der Würde des Bundestages ausdrücklich feststellt und sich einen nachträglichen Sitzungsausschluss vorbehält. Absatz 1 Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Ein bereits erteilter Ordnungsruf schließt einen nachträglichen Sitzungsausschluss nicht aus.

(3) Das betroffene Mitglied hat den Sitzungssaal unverzüglich zu verlassen. Kommt es der Aufforderung nicht nach, wird es vom Präsidenten darauf hingewiesen, dass es sich durch sein Verhalten eine Verlängerung des Ausschlusses zuzieht.

(4) Das betroffene Mitglied darf während der Dauer seines Ausschlusses auch nicht an Ausschusssitzungen teilnehmen.

(5) Versucht das betroffene Mitglied, widerrechtlich an den Sitzungen des Bundestages oder seiner Ausschüsse teilzunehmen, findet Absatz 3 Satz 2 entsprechend Anwendung.

(6) Das betroffene Mitglied gilt als nicht beurlaubt. Es darf sich nicht in die Anwesenheitsliste eintragen. 

Natürlich muss sich das betroffene Mitglied dies nicht einfach gefallen lassen:

§ 39 Einspruch gegen Ordnungsmaßnahmen

Gegen den Ordnungsruf (§ 36), das Ordnungsgeld (§ 37) und den Sitzungsausschluss (§ 38) kann das betroffene Mitglied des Bundestages bis zum nächsten Plenarsitzungstag schriftlich begründeten Einspruch einlegen. Der Einspruch ist auf die Tagesordnung dieser Sitzung zu setzen. Der Bundestag entscheidet ohne Aussprache. Der Einspruch hat keine aufschiebende Wirkung.

In der folgenden Übersicht über die Ordnungsrufe der bisherigen 19 Wahlperioden des Deutschen Bundestages sind, nach Klammerzusatz mit der Dauer der Wahlperiode, die jeweiligen Bundestagspräsidenten angegeben, wobei eine Sitzung natürlich auch von einem der Vizepräsidenten geleitet worden sein kann, den jede Fraktion stellt (§ 2 Absatz 1 GO).

1. Wahlperiode 1949-1953: Dr. Erich Köhler (CDU), ab 19.10.1950 Dr. Hermann Ehlers (CDU): 156 Ordnungsrufe

Den ersten Ordnungsruf handelte sich der KPD-Abgeordnete Heinz Renner am 20. September 1949 ein, als er Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) „Hetzer“ nannte. Die lange Latte der Ordnungsmaßnahmen für Parlamentarier, die sich im Ton vergriffen, hat seit 1949 die Tausender-Marke überschritten, wobei allerdings Rügen und unparlamentarische Äußerungen mitgezählt sind. Ordnungsrufe im formellen Sinne gab es bis zum 16. Mai dieses Jahres 630. 

2. Wahlperiode 1953-1957: Dr. Hermann Ehlers (CDU), ab 16.11.1954 Dr. Eugen Gerstenmaier (CDU): 36 Ordnungsrufe

3. Wahlperiode 1957-1961: Dr. Eugen Gerstenmaier (CDU): 41 Ordnungsrufe. Der SPD-Abgeordnete und spätere Bundeskanzler Helmut Schmidt bezeichnete den CSU-Abgeordneten und Vizepräsidenten Richard Jaeger („Kopf-ab-Jaeger“) als „Kriegshetzer“. 

4. Wahlperiode 1961-1965: Dr. Eugen Gerstenmaier (CDU): 7 Ordnungsrufe

5. Wahlperiode 1965-1969: Dr. Eugen Gerstenmaier (CDU), ab 05.02.1969 Kai-Uwe von Hassel (CDU): 6 Ordnungsrufe

6. Wahlperiode 1969-1972: Kai-Uwe von Hassel (CDU): 13 Ordnungsrufe

7. Wahlperiode 1972-1976: Annemarie Renger (SPD): 28 Ordnungsrufe

8. Wahlperiode 1976-1980: Prof. Dr. Karl Carstens (CDU), ab 31.05.1979 Richard Stücklen (CSU): 30 Ordnungsrufe

9. Wahlperiode 1980-1983: Richard Stücklen (CSU): 13 Ordnungsrufe

10. Wahlperiode 1983-1987: Dr. Rainer Barzel (CDU), ab 05.11.1984 Dr. Philipp Jenninger (CDU): 132 Ordnungsrufe. Für den Zwischenruf „Eine Nazi-Rede halten Sie!" bekam der Abgeordnete Walter Althammer (CSU) einen Ordnungsruf. Auch der „Rotzjunge“ des Abgeordneten Hermann Scheer (SPD) gegenüber MdB Volker Rühe (CDU) ging nicht ohne Ordnungsruf durch. Joschka Fischer bezeichnete übrigens Althammer als „christliche Dreckschleuder“. Und Otto Schily (damals Grüne) musste sich von dem Kollegen Dietmar Kansy (CDU) als „Mini-Goebels“ titulieren lassen. Bis heute erfreuen sich Nazi-Vergleiche ungebrochener Beliebtheit. Aber auch das gab es: der Abgeordnete Alfred Dregger (CDU) sagte über die SPD: „Die SPD ist sowjetischer als die Sowjetunion“ (das war der kommunistische Staat, der am 26. Dezember 1991 durch Beschluss des Obersten Sowjets [Parlaments] offiziell aufgelöst wurde.).

11. Wahlperiode 1987-1990: Dr. Philipp Jenninger (CDU), ab 25.11.1988 Prof. Dr. Rita Süßmuth (CDU): 78 Ordnungsrufe. Off the records: In seiner Rede am 10. November 1988 zum Gedenken an die Reichspogromnacht am 9. November 1938 bezeichnete Bundestagspräsident Jenninger (als Parlamentarische Geschäftsführer der Union [1973-1982] von Herbert Wehner als "Geschwätzführer" verunglimpft) die Jahre von 1933 bis 1938 als „Faszinosum“; aufgrund der Kritik an seiner Rede trat er am nächsten Tag zurück. „Lügen haben kurze Beine, kürzer sind dem Vogel seine", reimte Heiner Geißler (von 1977 bis 1989 Generalsekretär der CDU) über Hans-Jochen Vogel (SPD). 

12. Wahlperiode 1990-1994: Prof. Dr. Rita Süßmuth (CDU): 35 Ordnungsrufe. Der SPD-Abgeordnete Ottmar Schreiner, der in der ewigen Bestenliste in Sachen Ordnungsrufe hinter Herbert Wehner (SPD) und Heinz Renner (KPD) den dritten Platz belegt, hatte sich – laut Günter Pursch – sogar zum "erklärten Ziel" gemacht, Wehner zu übertreffen, dieser Schreiner also erklärte gegenüber dem Bundesarbeitsminister Norbert Blüm (CDU, „Die Rente ist sicher"): „Ihnen gelingt es sogar, ein Stück Kuhscheiße in einen Goldklumpen zu reden“. Bundestagsvizepräsident Hans „Johnny“ Klein (CSU) vermied eventuell einen Ordnungsruf, indem er vorschlug, „vielleicht können wir das Wort im Protokoll durch ‚Fladen‘ ersetzen.“

Dagegen kam der SPD-Abgeordnete Peter Reuschenbach nicht so glimpflich davon. Obwohl Vizepräsident Hans Klein (CSU) ihm zur Mäßigung riet, blieb er bei der Bezeichnung des Abgeordneten Hans-Joachim Fuchtel (CDU) als „Heuchler“ und erhielt dann den unvermeidlichen Ordnungsruf. Ihm folgte gleich ein zweiter, als der Abgeordnete Ottmar Schreiner (ebenfalls SPD) gegenüber Fuchtel noch eins draufsetzte: „Er ist aber ein vornehmer Heuchler.“

13. Wahlperiode 1994-1998: Prof. Dr. Rita Süßmuth (CDU): 32 Ordnungsrufe. Der CDU-Abgeordnete Paul Breuer bezeichnete die PDS-Abgeordnete Andrea Lederer (von 1996 bis 2013 Andrea Gysi) als „Kollaborateur des Henkers“. Man beachte: Gendergerechte Sprache gab es damals (1994) noch nicht. Die PDS-Abgeordnete Barbara Höll wollte da offenbar nicht nachstehen und nannte den damaligen Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer (CSU) einen „Heuchler“. Dies brachte ihr einen Ordnungsruf der Bundestagspräsidentin ein, was Frau Höll nach einige Zeit zu der Bemerkung veranlasste: „Ich habe vorhin einen Ordnungsruf erhalten, laut Geschäftsordnung zu Recht. Aber ich bleibe bei meiner Meinung ...“ Inzwischen hatte Vizepräsident Hans-Ulrich Klose (SPD) die Sitzungsleitung übernommen und erklärte: „Dafür, verehrte Kollegin Dr. Höll, rufe ich Sie zum zweiten Mal zur Ordnung und weise Sie ausdrücklich darauf hin, dass ein dritter Ordnungsruf nach der Geschäftsordnung Konsequenzen hat“ (Der Präsident muss dem Redner dann das Wort entziehen und darf es ihm in derselben Aussprache zum selben Verhandlungsgegenstand nicht wieder erteilen.). 

Den Stuttgarter Abgeordneten Roland Sauer (CDU) ereilte ein paar Monate später ein ähnliches Schicksal, als er die Sozialministerin des Landes Schleswig-Holstein Heide Moser als „Hasch-Ministerin Moser“ bezeichnete. Sauer kommentierte den Ordnungsruf mit den Worten: „Den nehme ich gerne zur Kenntnis“, worauf Vizepräsident Burkhard Hirsch (FDP) konterte: „Herr Kollege Sauer, ich erteile Ihnen hierfür einen zweiten Ordnungsruf.“

14. Wahlperiode 1998-2002: Wolfgang Thierse (SPD): 7 Ordnungsrufe

15. Wahlperiode 2002-2005: Wolfgang Thierse (SPD): 10 Ordnungsrufe

16. Wahlperiode 2005-2009: Dr. Norbert Lammert (CDU): 2 Ordnungsrufe. Wie Vizepräsident Hans Klein (CSU) so war auch Wolfgang Thierse (SPD) als Vizepräsident offenbar kein Freund von Ordnungsrufen. Den Satz der Grünen-Abgeordneten Ulrike Höfken in Richtung Schwarz-Rot „Was Sie mit der einen Hand geben, reißen Sie mit dem ‚Arsch“ wieder ein“, kommentierte er mit den Worten: „Kollegin Höfken, ich unterstelle, dass Sie jenes Wort ohne Zweifel als ein Zitat unseres größten Klassikers verwendet haben. Insofern geht es unbeanstandet durch.“ Etwas weit hergeholt für meinen Geschmack, aber immerhin: „Wer immer strebend sich bemüht ...“

17. Wahlperiode 2009-2013: Dr. Norbert Lammert (CDU): 1 Ordnungsruf, ein einzigartiger Rekord. Der einzige Ordnungsruf dieser Legislaturperiode ging auf das Konto der Linken und zwar erteilte ihn Vizepräsident Wolfgang Thierse dem Abgeordneten Jan van Aken für den folgenden Satz: „Herr Mützenich, wenn ich Sie  hier heute höre, muss ich sagen: Sie von der SPD sind im Moment die größten Kriegstreiber im Bundestag.“ Der Abgeordnete quittierte die Sanktion mit den Worten: „Ich nehme diesen Ordnungsruf mit Stolz an“ (Seite 38) Diese Äußerung wurde nicht gerügt, während der Abgeordnete Roland Sauer in der 13. Wahlperiode für seine Reaktion auf einen Ordnungsruf „Den nehme ich gerne zur Kenntnis“ einen weiteren Ordnungsruf kassierte. 

18. Wahlperiode 2013-2017: Dr. Norbert Lammert (CDU): 2 Ordnungsrufe. Interessant ist eine Rüge, die Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (ab 3:20) dem Abgeordneten Peter Tauber (seinerzeit auch Generalsekretär der CDU) für seinen Zwischenruf an die Linken „Ihr seid doch die rot lackierten Faschisten“ erteilte, mit der Begründung, „dass Vergleiche mit dem Nationalsozialismus hier im Hause nichts zu suchen haben.“ Dabei waren ihr offensichtlich zwei Dinge nicht bekannt: 

  • „Die Verallgemeinerung des Faschismus-Begriffs von einer zeitlich und national begrenzten Eigenbezeichnung [von Benito Mussolini in Italien] zur Gattungsbezeichnung einer bestimmten Herrschaftsart ist umstritten, besonders für den Nationalsozialismus in Deutschland.“ (Wikipedia)
  • Die von Tauber benutzte Formulierung stammt von dem ersten SPD-Vorsitzenden der Nachkriegszeit, Kurt Schumacher: „Kommunisten sind rotlackierte Faschisten.“                                                                                       

19. Wahlperiode 2017- 20: Dr. Wolfgang Schäuble (CDU): 1 Ordnungsruf – eben jener eingangs erwähnt, für die AfD-Dame Weidel

„Parlamentarische Schimpfbücher“

In seinen "Parlamentarischen Schimpfbüchern" (seit 1980) hat Günter Pursch die denkwürdigsten Ausrutscher aus 60 Jahren Bundestag gesammelt und dabei 240.000 Seiten der stenografischen Wortprotokolle durchsucht. Allerdings vermerkt er nur selten, welche Äußerungen einen Ordnungsruf nach sich gezogen haben.

Erwähnenswert ist sein „Zeugnis für die Abgeordneten des Deutschen Bundestages“ (Seite 302):

Führung: könnte besser sein

Plenarbesuch: unregelmäßig, ist aber steigerungsfähig

Deutsch: Mündlicher Ausdruck schießen häufig über das Ziel hinaus. Lesen                             ihre Reden gut, fließend und schnell ab

Rechnen: nur in Milliardenhöhe

Raumleere: ist häufig vorhanden

Musik: viele Dissonanzen quer durch die Fraktionen

Leibesübungen: im Umfallen haben bereits einige Perfektion erreicht

Schwimmen: hin und wieder sogar gegen den Strom

Bemerkung: Die Versetzung in die nächste Legislaturperiode ist für viele gesichert. Ob verdient oder nicht, darüber entscheiden letztlich die Wähler.

Das Schlusswort erteile ich dem Kabarettisten Werner Finck (1902-1978), außerparlamentarischer Vertreter und Gründer der „radikalen Mitte“:

„Ich beneide immer alle Leute, die fließend sprechen, also flüssig, wie unsere Politiker, meistens sogar überflüssig. Aber ich kann eben nicht so schnell sprechen. ... Ich muss so oft über das nachdenken, was ich sage. Das hält natürlich kolossal auf“ (Alter Narr – was nun? Schlusssatz ab 47:34).

Foto: Bundesarchiv CC BY-SA 3.0 de via Wikimedia

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Andrèe Bauer / 07.07.2018

Ich finde den von Carstens an Wehner klasse und immer noch ein Hit: “ ...wenn Höflichkeit eine Glückssache ist, werden Sie von einer permanenten Pechsträhne verfolgt “...

Hans-Peter Dollhopf / 07.07.2018

Ein Klassiker: “Who are you Mr President? Nigel Farage asks Van Rompuy” (auf youtube).

Dietrich Herrmann / 07.07.2018

Viel interessanter wäre doch die Veröffentlichung der Zwischenrufe, wenn Merkel eine ihrer verschwurbelten “Reden”, sogenannte Regierungserklärungen, redet.

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