Beim großen Schaukampf im Berliner Regierungsviertel am vergangenen Sonntag durfte natürlich der alte – und historisch nicht unberechtigte – Spruch nicht fehlen: „Wehret den Anfängen“. Heute ist allerdings schon die Frage gestattet: Welche Anfänge bitte? Womöglich können einem da ja auch ganz andere einfallen als diejenigen, die man mit diesen Worten gemeinhin in Verbindung bringt.
Es war eine von vielen Parolen bei der Gegendemonstration gegen die AfD-Demonstration („Merkel muss weg!“). Wahrscheinlich fünfmal so viele Teilnehmer konnten die Linken zusammentrommeln im Vergleich zu den Rechten für deren Kundgebung. Was Zeit online schon als eine Art Bilanz der Kräfteverhältnisse im Lande feierte: „Die Frage des Tages – welcher Teil der Gesellschaft wird mehr Menschen mobilisieren? – konnte also deutlich beantwortet werden.“
Was genau dies allerdings wirklich über die Meinungen aussagt, wird man – wie immer – bei den nächsten Wahlen sehen und nicht auf Demonstrationen. Wahlen waren in letzter Zeit häufig überraschend, vor allem für diejenigen, die sich bei ihren Prognosen auf Umfragen verlassen haben oder auch auf Vergleiche der Anzahl von Teilnehmern vorheriger Demonstrationen und stets lautstärkerer und oft gewalttätiger Gegendemonstrationen andererseits.
Der Schein trog: Wer sich als Halbstarker oder linker Student vor 50 Jahren auf Vietnam-Demos toll vorkam, gerade weil er mit trotzig-stolzer Brust in aller Öffentlichkeit gegen den Strom der herrschenden Meinung schwamm, der sollte aus seiner persönlichen Erinnerung nicht auf diejenigen gutbürgerlichen Kreise schließen, die heute AfD wählen, nur um die CDU aus dem linken Spektrum wieder ins konservative Lager herauszulocken. Denen nämlich ist sehr oft nicht – wie einst jenen – danach zumute, in aller Öffentlichkeit auf dem Präsentierteller gegen das von Medien verbreitete Stigma anzutreten.
Dies auch, weil es da einen anderen, bedeutenden Unterschied gibt: Damals hatte die APO keine Chance bei den geheimen Bundestagswahlen, hatte keine Alternative – heute sieht das anders aus. Demos sind deshalb einfach nicht mehr so wichtig. Wichtig ist im Wahllokal, könnte man in Abwandlung einer alten Fußballerweisheit feststellen. Die Rechnung jedenfalls, die vereinigte Linke sei fünfmal so stark wie die Rechte, nur weil hüben 25.000 gegen drüben 5.000 standen, ist blauäugig.
Der Extremismus der Linken ist salonfähig geworden
Und doch darf man gerade bei solchen Gelegenheiten wie am Sonntag, gerade angesichts der Frontstellung im Berliner Regierungsviertel, angesichts der übergroßen Einigkeit gegen rechts durchaus in Erschrecken darüber verfallen, wie salonfähig der Extremismus inzwischen geworden ist, wie sehr er von der Mitte der Gesellschaft hofiert wird, sich langsam aber sicher, womöglich bald schon mehrheitsfähig ins politische Spektrum eingeschlichen hat – und zwar auf der linken Seite.
„Wehret den Anfängen“, „Nazis“, „Faschismus“, „Rassismus“ – die Vorwürfe in den Parolen, die man jetzt im Vorfeld der Gegen-Demonstration vorm Berliner Reichstag an den Kiosken der „Linken“ lesen konnte, waren die plakative Furcht vor einer neuen Machtübernahme a la ’33 mit anschließendem Bauprogramm für KZ‘s. Man gibt sich historisch verantwortlich, geschichtsbewusst. Wehret den Anfängen! Ach wirklich? Bei Lichte betrachtet, scheint für allzu viele Zeitgenossen die Geschichtslehrstunde mit dem Mai 1945 beendet zu sein.
Natürlich ist es ein unangenehmer Gedanke, für viele beängstigend, dass bundesweit die drittstärkste Kraft derzeit eine Partei ist, in der der Thüringer Landessprecher und Fraktionsvorsitzende Björn Höcke den Faschismus aus der Vergangenheit offenbar ausblenden will, in Deutschland eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad anmahnt, damit nicht allein steht und sein Parteiausschluss offenbar kein Thema mehr ist.
Dennoch erreicht die Partei erklecklich viele Wähler aus der früheren Mitte, weil diese sich, zumindest subjektiv, einer ansonsten alternativen Einheitsfront von Links gegenübersehen – und weil das AfD-Parteiprogramm selbst harmlos ist und keine Spur von Rassismus oder Systemwechsel aufweist. Natürlich ist es an einem Tag, an dem in Berlin Links und Rechts gegeneinander demonstrieren, durchaus ein lauteres Anliegen von den Medien, gegen unappetitliche, rassistische Auswüchse auf der rechten Seite hinzuweisen.
Kurze Zwischenbemerkung: Dass sich solche Töne in der AfD halten können, ist zum nicht unbeträchtlichen Teil darauf zurückzuführen, dass die Stigmatisierung der Partei durch die schwergewichtigen Medien schon von Anfang an – noch als Lucke nur gegen das Unrecht bei der Griechenland-Rettung ankämpfte – dafür gesorgt hatte, dass niemand, der noch etwas werden wollte, auch wenn er Luckes Anliegen teilte, mitmachen wollte. Dass es rechts von der Union ja doch wohl bitte keine satisfaktionsfähige Partei geben könne, war hierzulande über viel zu lange Zeit gehätschelter und gepäppelter gesellschaftlicher Konsens, der in dem Moment, da die Union ihn nicht mehr als bürgerliches, konservatives Bollwerk stützen wollte und nach links wanderte, schwankte und schließlich zusammenbrach – genau wie nach der Wende der staatlich verordnete Antifaschismus der DDR. In den damals neuen Bundesländern, deren Bewohner von beidem betroffen waren, mit umso größerem Getöse.
Die linke Systemwechselpartei als „gutes Berlin“
Zurück zur Vergangenheitsbewältigung: Das Erschreckende am Sonntag war jedoch, wie dagegen unhinterfragt von aller Öffentlichkeit auf der anderen Seite, im Zentrum der von allen bejubelten Gegendemonstrationen eine Kraft steht, die ihre 180-Grad-Wende in der Erinnerungskultur längst vollzogen hat, die einen Systemwechsel anstrebt, die ihn bereits betreibt, und die dazu deshalb in der Lage ist, weil sie – laut letzter Umfragen – zum Beispiel in Berlin bereits stärkste Partei ist, noch vor CDU und SPD: Die Linke nämlich. Hat sich irgendein Kommentator in den öffentlich-rechtlichen Anstalten darüber mokiert, dass diese Partei an diesem heißen Sonntag ohne jedes Hinterfragen zum „guten Berlin“ gezählt wurde? Anlässe dazu gäbe es genug. Doch auf dieser Seite herrscht Schweigen im Blätterwalde. Schon immer.
Was treibt die 22 Prozent Berliner um, die jetzt angaben, diese Partei wählen zu wollen, die auf ihrem letzten Parteitag sich zum venezolanischen Modell des Sozialismus bekannte? Die dem Präsidenten jenes südamerikanischen Landes jetzt, vor wenigen Tagen, zu seiner Scheinwahl ganz offiziell und öffentlich gratulierte. In Venezuela, in dem die Opposition unterdrückt wird, aus dem Hunderttausende fliehen, weil die Wirtschaft zusammengebrochen ist und es deshalb nichts mehr zu essen gibt, in dem Nepotismus herrscht wie bei Erich und Margot und 500 Meter lange Schlangen vor dem Supermarkt anstehen.
Das ölreichste Land der Welt, einst eines der wohlhabendsten Südamerikas, ist heute ein Hungerland – aber eben sozialistisch, und das ist natürlich Grund genug, um dem Präsidenten, der das Land seit über fünf Jahren regiert, herzlich zu gratulieren. „Die Linke erklärt sich solidarisch mit der bolivarianischen Revolution, wie sie von Hugo Chavez eingeleitet wurde, um die demokratischen und sozialen Errungenschaften in Venezuela zu bewahren und zu entwickeln“ (demokratischen und sozialen Errungenschafen, sic.). Ein Bekenntnis, von dem sich die Parteispitze offenbar keinen Ansehensverlust erwartete. Völlig zu Recht. „Wehret den Anfängen“? – dazu ist es hier längst zu spät, aber es will niemand wahrhaben.
Die Achse Karl-Liebknecht-Haus – Caracas ist wichtig zur Beurteilung dessen, was die Partei will, zur Aufklärung darüber, dass sie nicht „ein bisschen mehr Sozialstaat“ will, sondern „den“ Sozialismus, und sich zu ihm in „den“ Traditionen bekennt in ihrem Programm, das es übrigens vergleichsweise zum AfD-Programm in sich hat, wenn wir vom Systemüberwindung sprechen. Wir müssen davon ausgehen, dass der venezolanische Sozialismus auch zu „den“ Traditionen gehört. Wenn „Die Linke“ sich in ihrem Programm immer wieder zur Demokratie bekennt, muss das natürlich nicht verwundern bei einer Partei, die aus der Staatspartei der „Deutschen Demokratischen Republik“ hervorgegangen ist, auch wenn man in dieser – notgedrungen – heute rückblickend Demokratie-Defizite beklagt. Ansonsten findet die entsprechende Vergangenheitsbewältigung ja auch statt, verkürzt zusammengefasst so ungefähr wie: „es war nicht alles schlecht, damals“.
„An der Zeit, Höchstlöhne ins Gespräch zu bringen“
Die Behauptung im Programm, „Sozialismus und Demokratie sind untrennbar“ gehört offenbar auch zu den Traditionen des Sozialismus, sie klingt ja auch so schön vollmundig. Aber wo eigentlich? In Venezuela? In China, der UdSSR, Osteuropa? Vielleicht in Kuba? Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch beriefen sich in Ihrer Würdigung Fidel Castros nach dessen Tod auf eine Äußerung von Danielle Mitterand, der Frau des früheren französischen Präsidenten. Die hatte über den Maximo Lider („Größter Führer“) gesagt, der sei „durch und durch ein Demokrat“ gewesen. War den beiden früheren Parteivorsitzenden diese hohnsprechende Charakterisierung als eigenes Statement über den Mann, der sein Volk zu Duckmäusern machte, dann doch zu peinlich? Vielleicht, entlarvend ist es dennoch.
Dass sie sich bei ihrem Verständnis von Sozialismus von Marx abgewandt hätte, das wüsste man. Und dieses läuft immer noch auf die Abschaffung des Privatbesitzes an Produktionsmitteln hinaus, Gegenteiliges ist im Programm auch nicht zu finden, nur das Bekenntnis zur Möglichkeit der Vergesellschaftung. Dazu passt auch, dass Parteichefin Kipping kürzlich meinte, nach Einführung des Mindestlohnes sei es jetzt „an der Zeit“, Höchstlöhne ins Gespräch zu bringen. Was kommt als nächstes? Der Fünfjahresplan? Mit obligatorischer Übererfüllung?
Der Kapitalismus gehöre jedenfalls abgeschafft, überwunden. Das steht nicht nur so im Parteiprogramm, das sagt auch die linke Berliner Bausenatorin Lompscher in Ausübung ihres Amtes. Sie beginnt dabei schon mal mit der Umsetzung und drängt die privaten Wohnungsbauunternehmen an die Wand. Dass die Wohnungsnot in der Hauptstadt ohne die privaten Bauherrn, die 90 Prozent der Investitionen tätigen, ins Astronomische steigen würde, schert sie nicht, Sozialismus ist eine Prinzipienfrage. Konsequenterweise sind die Baugenehmigungen auf einen neuen Tiefststand eingebrochen. In Berlin!
Wenn sie könnte, wie sie wollte, sähe es sowieso schon ganz anders aus in unserem Land: „Es ist richtig zu sagen: Wir müssen dem Kapitalismus den Kampf ansagen“, zitiert die Zeitung „Neues Deutschland“ die Senatorin, „aber wir müssen mit den Verhältnissen arbeiten, die sind, wie sie sind.“ Den „Profit“ will das Parteiprogramm natürlich auch abschaffen. Profit in der Wohnungswirtschaft hört sich ja auch ganz besonders anrüchig an. Wahrscheinlich lässt sich die Bausenatorin von älteren Parteikadern einflüstern, wie wunderbar es mit dem Wohnungsbau und den Liegenschaften in der DDR ganz ohne Profit geklappt hat.
Ob das alle wissen, die die Partei wählen? Wenn es so weitergeht, werden wir uns also auf einige Experimente gefasst machen müssen. Auf eine völlig andere Politik. „Wir setzen uns dafür ein, neue Formen einer Politik von unten zu entwickeln. Dazu gehören auch der politische Streik und der Generalstreik.“ Da darf man dann doch gespannt sein, wie lange diese Parole ausgegeben wird. Generalstreiks sind ungefähr das Letzte, was zu den „Traditionen“ von sozialistischen Ländern gehört, wenn erst die Sozialisten an der Macht sind. Das wird nämlich sowas von abgeschafft…
Der Sonntag in Berlin und seine mediale Aufbereitung haben es wieder gezeigt: „Der Sozialismus bleibt das Ideal der linken Intellektuellen“, schreibt Stefan Groß gerade im „The European“. Was schon wundert, sind doch im Namen von Karl Marx und unter dem Banner des Sozialismus wohl mehr Opfer zu beklagen gewesen als im Namen des Faschismus. Der Marsch durch die Institutionen – und vor allem durch die Redaktionen – war einfach nachhaltig. Nichts gegen Kritik an der richtigen Stelle, aber bitte keine komplette Blindheit auf einer Seite. Zugegeben ein frommer Wunsch.