Kanadas Premierminister Trudeau hat den Notstand verhängt und lässt nun die protestierenden Trucker mit Polizeigewalt räumen. Mehr als 100 Festnahmen wurden am Samstagnachmittag gemeldet. Dabei hätte er wie ein guter Premier reagieren können.
Ein Blick aus dem Fenster seines Amtssitzes zeigt ihm, wie viele gekommen sind. Sie rollen langsam und hupend die Straße vor dem Parlament entlang. Die Einwohner der Hauptstadt empfangen sie jubelnd, die Maple-Leaf-Fahnen sind in allen Größen zu sehen. In den Fahrerhäusern sitzen die eigentlich Unsichtbaren, die Dienstleister auf der untersten Stufe der Gesellschaft. Viele Migranten sind darunter, aus Rumänien, aus Haiti, besonders viele indische Sikh mit ihren hohen Turbanen sind unter den Fahrern zu finden.
Das da draußen in der Kälte sind nicht die aufschneiderischen Zungen der politischen Kannegießer, die klarsichtigen Augen der Medien oder die leicht-fahrlässige Hand der politischen Gestaltung, nein. Da rollen die Blutzellen des Landes, und die arbeiten für gewöhnlich im Verborgenen. Erst wenn sie nicht mehr arbeiten, bemerken die Augen und Zungen und flinken Hände, dass es ohne diese Blutzellen nicht geht. Der geerdete Politiker weiß das. Als umsichtiger Politiker sieht er auch die Gefahr, wenn der Ahornsirup stockt. Und weil er Realpolitiker ist, legt er beim Blick aus dem Fenster seine Krawatte ab, zieht seinen Mantel an, setzt seine Mütze auf; und da er sich auf seine diplomatischen Instinkte verlassen kann, geht er allein nach draußen. Als praktisch denkender Mensch hat er eine Thermoskanne mit heißem Tee dabei, als Medienprofi auch noch zwei Tassen.
Er geht zum ersten Truck, klopft an die Tür des Fahrerhauses, wünscht dem Fahrer einen guten Tag und fragt, wie die Fahrt war und ob es der Familie gutgeht. Als Politiker mit einem guten Gedächtnis erinnert er sich, dass er sich immer wieder und zuletzt vor zwei Jahren klar auf die Seite von streikenden Arbeitern gestellt hatte, weil Kanada natürlich immer auf der Seite friedlicher Proteste stehe. Der Politiker schenkt dem Fahrer Tee ein und reicht dem hinzugetretenen zweiten Fahrer die zweite Tasse, die eigentlich für ihn selbst bestimmt war. Da die Menschenmenge um ihn herum immer dichter wird, fragt er die Umstehenden, ob wohl jemand noch ein paar Tassen besorgen könne.
Man setzt sich auf Campingstühle und der Politiker spricht mit den Fahrern, die aufdringliche Presse bittend, nicht zu stören, man werde das später erklären. Nun wolle und müsse er mit den Truckern reden. Ganz gleich, wie die Gespräche ausgehen, dem schlauen Politiker nützt dieses Gespräch. Es ist seine Rückversicherung, sein Ausweg, sein Plan „B“, sein PR-Stunt, sein Gandhi-Moment, sein „Ich sehe euch“-Augenblick der ausgestreckten Hand.
Mehr als 20 Tage ist es nun her, dass all dies nicht geschah. Justin Trudeau ist ganz offensichtlich kein schlauer Politiker, ebenso wenig wie er geerdet, umsichtig, praktisch, diplomatisch, professionell oder ein Realpolitiker ist. Und ein gutes Gedächtnis hat er offenbar auch nicht.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf Roger Letschs Blog unbesorgt.de.