Die Leistung anderer als die eigene auszugeben und nicht einmal zu versuchen, die Spuren zu verwischen, das hat schon was. Aber das haben schon ganz andere so dreist gemacht.
Ich erinnere mich noch gut an jenen Morgen im Herbst 1990, als ich erfuhr, dass die beiden Sänger von Milli Vanilli ihre damals weltberühmten Hits (u.a. Girl you know, it’s true; Baby Don’t Forget My Number) nicht selbst gesungen hatten. Annalena Baerbock enttäuscht mich auf ähnliche Weise. Wurde auch sie am Ende von einem skrupellosen Produzenten – einer Art Frank Farian der Politik – nur wegen ihres Aussehens ausgewählt, zum Star gemacht und in die Charts gepuscht? Klingen von Baerbock selbst verfasste Texte – falls es sie gibt – womöglich wie der echte Gesang von Milli Vanilli? Es steht der Verdacht im Raum, dass Baerbock schreibt, wie sie spricht, und darum ihre angeblich geplante Doktorarbeit auch nie geschrieben hat, obwohl ihr die Parteistiftung der Grünen dafür damals über 40.000 Euro zahlte.
Wie viele in diesem Land, die sich für einen Klimawandel einsetzen und von Frauen bewegt sind, spüre ich Wut und Trauer. Aus Baerbocks bisherigem Hauptwerk, dem „Spiegel-Bestseller“ Jetzt. Wie wir unser Land erneuern hatte ich, im Vertrauen auf die Ullstein-Reklame, lernen wollen, wie ich „unser Land für uns und künftige Generationen lebenswert gestalten“ kann. Das hätte ich für 24,00 Euro erfahren, 15,95 Euro weniger, als ich einst beim Scharlatan meines Vertrauens für die 95 Milliliter Fliege-Essenz bezahlt habe, von der der ehemalige ARD-Moderator Jürgen Fliege damals sagte: „Ich habe über sie gebetet wie über Weihwasser. Ich habe immer wieder meine Hände aufgelegt, um den Trost und die Kraft in die Essenz zu geben.“
Wie soll man eigentlich noch ohne Zynismus weiterleben, wenn die Strahlkraft einstiger moralischer Vorbilder wie Annalena Baerbock, Jürgen Fliege oder Milli Vanilli verblasst?
Ich begreife andererseits nicht, warum jemand wörtlich von anderen abschreibt, ohne wenigstens zu versuchen, die Spuren zu verwischen. Ist er zu einfältig, zu nachlässig, zu überheblich? Dass man das nicht tut, habe ich in der Schule gelernt. Wir hatten einen Lateinlehrer, der vor Klausuren einige Vokabeln an die Tafel schrieb, die wir für die Klausur zu lernen hatten. In meinem Kurs war ein Schüler namens M***, dessen Eltern so reich waren, dass er einen Nachhilfelehrer hatte – in Latein! Anhand jener Vokabeln konnte M***s Nachhilfelehrer sehen, welcher Text von Seneca, Sallust, Horaz oder wem auch immer in der Klausur drankommen würde und ihm die Übersetzung geben, die dieser freundlicherweise kurz vor der Klausur mit uns teilte: M*** hatte also ein Blatt mit der Übersetzung, das dann einmal unter uns kleinen Lateinern die Runde machte.
Ein Buch, das aussieht wie ein Erpresserbrief
Es war mir eine große Hilfe, den Inhalt vorab zu kennen und so dagegen gefeit zu sein, den zu übersetzenden Text völlig falsch zu verstehen, was anderenfalls nicht selbstverständlich gewesen wäre. So schaffte ich mit M***s Hilfe mehrmals eine zwei. M*** aber machte Minerva zornig, indem er die Übersetzung, die er unter der Bank hatte, wörtlich abschrieb. Das merkte der Lehrer nicht beim ersten Mal, beim dritten oder vierten Mal aber schon. Zum Glück waren wir zu diesem Zeitpunkt alle schon tief im Latinum. Auch für M*** ging es gut aus, später wurde er sogar zweifacher Europameister, wenn auch nicht in Latein. Doch sein wörtliches Abschreiben der Übersetzung hätte die Gesellschaft teuer zu stehen kommen können. Einige meiner Mitschüler wären vielleicht keine Ärzte geworden, wenn sie bei den Lateinklausuren schon ein paar Monate früher auf sich selbst gestellt gewesen wären.
Gute Schüler, das weiß man, ahmen die Meister nach, versuchen, ihnen ähnlich zu werden. Selbst Goethe tat das. Er wurde von deutschsprachigen Dichtern seiner Zeit wie Klopstock, Gessner oder Brockes ebenso geprägt wie von Homer, Shakespeare, Ariosto oder Hafis. Baerbock jedoch, das wird nun mehr und mehr klar, ist nicht Goethe. Sie ist nicht mal Hermann Hesse. Sie ahmt nicht nach, sie schreibt ab. Für ihr Buch hat sie fremde Texte mit der Schere ausgeschnitten und mit Klebstoff zusammengeklebt, dass es aussieht wie ein Erpresserbrief.
Wer würde die Stirn haben, beim Plagiat ertappt zu werden und so zu tun, als wäre nichts geschehen? Ganz gewiss nicht Carlos Decotelli: Brasiliens ehemaliger Bildungsminister trat im Juni 2020 nach nur fünf Tagen im Amt zurück, nachdem er bezichtigt worden war, in seiner Masterarbeit plagiiert und seinen Lebenslauf gefälscht (Sachen gibt’s!) zu haben. Und Österreichs Familien- und Arbeitsministerin Christine Aschbacher warf Anfang des Jahres das Handtuch, nachdem ihr vorgeworfen worden war, in ihrer Diplomarbeit und ihrer Dissertation plagiiert zu haben.
Auch Joe Biden machte schon den Papagei
Der Vorwurf des Plagiats kann übrigens nicht nur dann folgenschwer sein, wenn es um wissenschaftliche Schriften geht. Der garantiert unwissenschaftliche Roman Axolotl Roadkill von Helene Hegemann – vielleicht erinnert sich noch der eine oder andere Leser – war so ein Fall. Es stellte sich Anfang 2010 heraus, dass das vom Feuilleton noch Ende 2009 hoch gelobte und mit Preisen ausgezeichnete Werk in weiten Teilen von einem Blog übernommen war, inklusive der exzentrischen Sprache und der Schilderung von Situationen, die der Blogger, wie er später sagte, selbst erlebt hatte – Helene Hegemann hingegen nicht.
Hegemann und ihr Verlag, Ullstein, reagierten damals unterschiedlich. Hegemann sagte, sie komme aus „einem Bereich, in dem man auch an das Schreiben von einem Roman eher regiemäßig drangeht, sich also überall bedient, wo man Inspiration findet“. Originalität gebe es „sowieso nicht“. Für den Ullstein Verlag erklärte dessen verlegerische Geschäftsführerin Siv Bublitz: „Die Position des Ullstein Verlages ist eindeutig: Quellen müssen genannt und ihre Verwendung muss vom Urheber genehmigt werden.“ Ullstein entschädigte damals nachträglich die Urheber, wie in der Presse zu lesen war.
Wie später Hegemann hatte sich 1987 auch der heutige amerikanische Präsident Joe Biden Teile aus einem fremden Leben geborgt. Biden kandidierte damals für die Nominierung seiner Partei für die US-Präsidentschaftswahl 1988. Aus einer gefeierten Parteitagsrede des britischen Labourvorsitzenden Neil Kinnock übernahm Biden Stellen teils wörtlich. Hier ein Vergleich:
Neil Kinnock: „Warum bin ich der erste Kinnock in tausend Generationen, der in der Lage war, die Universität zu besuchen? Warum ist [meine Frau] Glenys, die erste Frau in ihrer Familie in tausend Generationen, die in der Lage war, die Universität zu besuchen?“
Joe Biden: „Woran liegt es, dass meine Frau, die dort im Publikum sitzt, die Erste in ihrer Familie ist, die zur Universität gegangen ist?“
Neil Kinnock: „Ist es, weil [ihre Vorfahren] schwach waren? Jene Leute, die acht Stunden unter Tage arbeiten konnten und dann nach oben kamen und Fußball spielten?“
Joe Biden: „Waren sie schwach, meine Vorfahren, die in den Kohleminen in Nordost-Pennsylvania gearbeitet haben und nach zwölf Stunden rausgekommen sind und Football gespielt haben?“
Neil Kinnock: „Es lag daran, dass es keine Plattform gab, auf der sie stehen konnten.“
Joe Biden: „Es lag daran, dass sie keine Plattform hatten, auf der sie stehen konnten.“
Baerbock kann sich ja 2054 nochmal bewerben
Biden übernahm, was in seinem Fall gar nicht passte: Joe Bidens Frau Jill war nicht die Erste in ihrer Familie, die eine Universität besucht hat, und Joe Biden hatte zwar Vorfahren, die in Minen gearbeitet haben, aber als Ingenieure. Bidens Großvater Joseph Harry Biden wurde als Manager von Rockefellers American Oil Company (Amoco) reich, und der Vater des derzeitigen Präsidenten erbte zumindest Teile dieses Reichtums, als Joseph Harry Biden 1941 starb. Eine arme Familie von Kohlebergarbeitern waren die Bidens nie. Biden kopierte also nicht nur Kinnocks Worte, sondern Teile von dessen Leben, um sich als ein anderer zu geben als der, der er war. Als das Plagiat im Spätsommer 1987 bekannt wurde und Biden auch noch gestehen musste, dass er schon bei seinen Arbeiten im Jurastudium plagiiert hatte, musste er seine Präsidentschaftsambitionen beenden – zumindest vorerst.
Baerbock könnte es ja so machen wie Joe Biden: Sie gibt nun auf, weil die Sache zu peinlich geworden ist, bewirbt sich dafür aber in 33 Jahren noch einmal um das wichtigste politische Amt im Staat. Und der Ullstein Verlag könnte so handeln, wie er es vor zehn Jahren im Fall Hegemann getan hat: alle Urheber, bei denen sich Baerbock bedient hat, entschädigen.
Auch der Fall Milli Vanilli kann als Präzedenzfall dienen: Ein Gericht in den USA entschied damals, dass jeder Käufer eines Milli-Vanilli-Albums eine Entschädigung von drei Dollar verlangen konnte, weil die beiden ja entgegen dem von ihnen erweckten Anschein nicht selbst gesungen haben. Auf Baerbock übertragen, würde das bedeuten: Der Ullstein Verlag bestellt einen Sachverständigen, der ermittelt, welche Ideen in Baerbocks Buch wirklich von ihr stammen. In einem zweiten Schritt rechnet er aus, was diese wert sind. Anschließend addiert er den Wert von Baerbocks Gedanken zum Papierpreis. Dann wird die Differenz zum Verkaufspreis von 24 Euro den Käufern erstattet. Das wäre fair und ein erster Beitrag dazu, unser Land für uns und künftige Generationen lebenswert zu gestalten.
Für Annalena Baerbock bin ich natürlich traurig: Sie wird nicht Bundeskanzlerin werden (oder, wenn sie es macht wie Joe Biden, frühestens 2054), und das, obwohl das Amt wie geschaffen ist für jemanden, der keine Qualifikationen hat. Wenigstens aber kann sie nun in ihren Lebenslauf wahrheitsgemäß schreiben, dass sie Kanzlerkandidatin war.