Rainer Bonhorst / 09.07.2016 / 09:45 / 11 / Seite ausdrucken

Was man auf der Fähre so erlebt

Das war wirklich ein seltsames Erlebnis auf der Fähre von Dover nach Calais. Der Übergang vom Brexit-Land auf den EU-Kontinent verlief bei leichtem Seegang eigentlich ganz normal. Wäre da nicht diese vierköpfige Familie am Nebentisch gewesen.Vater, Mutter und zwei erwachsene Söhne. Die saßen da und keiner von ihnen fummelte an einem Smartphone herum. Die beiden Söhne hatten zwar jeder eines von den Dingern auf dem Tisch liegen, aber sie lagen da unbenutzt herum. Und keiner der vier hatte Earplugs in den Ohren. Weder Smartphone noch Earplugs. Da stellt sich natürlich die spannende Frage: Wie vertrieben sich die vier denn die Zeit? Die Kanalüberfahrt dauert ja ihre eineinhalb Stunden! Schliefen sie? Aßen sie? Soffen sie?

Nein, das Merkwürdige war: Sie lasen. Alle vier saßen da und lasen. Und zwar keine Zeitung oder irgendein Auto- oder Computermagazin. Alle vier lasen Bücher. Vater, Mutter und beide Söhne (Söhne, nicht Töchter!) und jeder las in einem Buch. In einem Buch aus Papier. Sie hielten vier papierne Gebilde mit Seiten zum Umblättern in den Händen. Und es waren keine Fachbücher mit Tabellen und Torten-Diagrammen. Es müssen, soweit ich das sehen konnte, Romane gewesen sein! Eine ganze vierköpfige Familie und jeder las einen Roman.

Es war ein unbeschreiblicher Anblick. Waren sie vielleicht Zeitreisende aus einer versunkenen Epoche? Waren sie Darsteller in einem Historienfilm, der im vorigen Jahrhundert spielt? War es ein Trugbild? Ich wagte nicht, zu fragen, aus Furcht, dass sich die ganze schöne Erscheinung wie eine Fata Morgana vor meinen Augen auflösen würde. Ich schaute unentwegt, aber unauffällig zu ihnen hinüber und staunte stumm vor mich hin.

Dann kam die Durchsage, dass die Ankunft in Calais unmittelbar bevorstand. Vater gähnte, Mutter ging zum Klo, und die beiden jungen Männer griffen nach ihren Smartphones und schauten irgend etwas nach. Aha, dachte ich mir, das sind vielleicht doch ganz normale Leute. Doch dann legten die beiden Jungen nach kurzem Fingerspiel ihre Smartphones beiseite und vertieften sich wieder in ihren Romanen. Ich war perplex. Dieses wahrhaft ungewöhnliche Reise-Abenteuer geht mir nicht mehr aus dem Sinn. Könnte es sein, dass die Menschheit doch noch nicht verloren ist? 

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Frank Stricker / 09.07.2016

Wirklich eine sehr seltene Beobachtung Herr Bohnhorst. Der Smartphone-Wahn geht ja ansonsten in eine nicht mehr beherrschbare Spähre, wo die reale Welt mit der virtuellen Welt verschmilzt Wenn die Entwicklung so weitergeht, werden Babys in ca. 20 Jahren bereits mit Aux-Anschluß geboren um gleich mit allen systemrelevanten Menüs kompatibel zu sein…..... Ich habe große Zweifel, dass jeglicher technischer Fortschritt auch ein mehr an Lebensqualität darstellt. Ich erlaube mir die Freiheit, mein Handy auch mal auszuschalten !

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