Thea Dorn
Eine Armee blutberauschter Gotteskrieger mordet sich bis an die Grenze Europas heran – und die Bundeswehr geht in die “Attraktivitätsoffensive”. Das islamistische Terrorheer rekrutiert junge Männer aus aller Welt mit der Aussicht, Gründer eines waschechten Gottesstaates zu werden, in dem, Allahu Akbar, nach Herzenslust geköpft und gekreu-zigt werden darf. Junge Frauen aus aller Welt folgen dem Ruf in der Hoffnung, Gattin eines waschechten Gottesstaatsgründers zu werden, der ihr womöglich sogar erlaubt, selbst eine Kalaschnikow zu schultern und all jene Geschlechtsgenossinnen das Fürch-ten zu lehren, die noch nicht begriffen haben, was sich für ein rechtgläubiges Mädchen schickt.
Schaut man sich auf der Homepage der Bundeswehr um, erfährt man dort, dass junge Menschen mit der Aussicht auf flexiblere Arbeitszeiten, vorbildliche Kinderbetreuung, ein “hochmodernes” betriebliches Gesundheitsmanagement und renovierte Stuben samt WLAN und Kühlschrank in den Militärdienst gelockt werden sollen.
Was auf den ersten Blick nichts als grelle Satire zu sein scheint, offenbart die Hilflosig-keit unserer anämisch gewordenen Spätmoderne. Wir sitzen vor unseren Bildschirmen und blinzeln wie die letzten Menschen, wenn wir im Netz über eins der Videos stolpern, in denen uns die Gottesschlächter den abgeschlagenen Kopf eines westlichen Journa-listen hämisch entgegenhalten. Wir sitzen vor dem Fernseher und schütteln unsere Köp-fe, wenn uns die Nachricht von einem abgeschossenen Passagierflugzeug ereilt, in dem 298 Menschen saßen, die nichts anderes wollten, als von Amsterdam nach Kuala Lum-pur zu fliegen, um ihren Alltagsgeschäften nachzugehen oder – welch hintergründiger Triumph für Schwulenhasser jeglicher Couleur – an einem Aids-Kongress teilzunehmen.
Vor ziemlich genau einhundert Jahren begann in Europa ein Weltkrieg, nachdem in Sa-rajevo ein Thronfolger samt Gattin erschossen worden war – bloß ein Thronfolger samt Gattin erschossen worden war, bin ich versucht zu schreiben. Was würden unsere Ur-großväter denken, könnten sie uns heute vor unseren Bildschirmen sitzen sehen? Wür-den sie ihrerseits die Köpfe schütteln ob ihrer Nachfahren, die sich – sei’s von islamisti-schen, sei’s von prorussisch-nationalistischen Fanatikern – jegliche Bestialität bieten lassen, ohne ernsthaft zurückzuschlagen? Oder würden sie uns die Hände auf die Schultern legen und leise sagen: “Recht so, dass ihr das Dulden gelernt habt. Wir haben ja gesehen, in welche Abgründe uns unsere kollektive Hitzigkeit, unser patriotischer Zorn geführt haben.”
Die Blutströme von zwei alle vorherigen Menschheitserfahrungen übersteigenden Groß-kriegen haben das Pulverfass Europa, in dem vor hundert Jahren ein Funke wie das Attentat auf Erzherzog Franz Ferdinand genügte, um es explodieren zu lassen, so gründlich getränkt, dass es zu einer der am schwersten entflammbaren Regionen der Welt geworden ist. Dies ist das kostbarste Vermächtnis, das unsere Vorfahren, die un-endliches Leid über die Welt gebracht haben und selbst größtes Leid erdulden mussten, uns – unbeabsichtigt oder nicht – hinterlassen haben. Doch wie sollen wir Erben mit die-sem kostbaren Gut umgehen, wenn wir erleben, dass in unseren östlichen Nachbar-schaften wieder heftige Brände ausbrechen – Brände, die beginnen, ihre Funken bis zu uns zu schicken?
Für uns Kinder des Kalten Kriegs ist jeder “Heiße Krieg” unvorstellbar geworden. Zwar sind wir mit der diffusen Dauerangst aufgewachsen, eine der beiden atomar hochgerüs-teten Weltmächte könnte die Nerven verlieren, den roten Knopf drücken und damit eine Kettenreaktion auslösen, die unseren schönen Kontinent binnen weniger Augenblicke in eine auf Jahrhunderte verstrahlte Einöde verwandeln würde. Der Gedanke jedoch an einen Krieg, in dem sich feindliche Armeen blutig gegenüberstehen, in dem Soldaten töten und getötet werden, in dem die Gewalt auch vor Zivilisten nicht haltmacht – dieser Gedanke ist uns so fremd geworden, dass wir uns ihm allenfalls noch aussetzen, wenn er im Gewand des patinaträchtigen Historienschinkens oder des aseptischen Baller-spiels daherkommt.
“Das Leben ist der Güter höchstes nicht.” Dieses Bekenntnis, mit dem Generationen von Deutschen aufgewachsen sind – wer würde es heute noch ins Poesiealbum schreiben beziehungsweise bei Facebook posten? Das Einzige, was uns Durchsäkularisierten zu Beginn des 21. Jahrhunderts uneingeschränkt heilig ist, ist das konkrete, einzelne Men-schenleben, von dem Schiller vor gut 200 Jahren in seinem Trauerspiel Die Braut von Messina den Chor noch sagen lassen konnte, dass es der Güter höchstes eben nicht sei. Das individuelle Menschenleben ist uns Europäern so unantastbar geworden, dass wir – anders als die US-Amerikaner, die in weiten Teilen noch immer der Todesstrafe anhängen – auch im Angesicht von barbarischsten Verbrechen nicht nach dem Henker, sondern nach dem Therapeuten rufen. Und gerade diese Milde, dieser Glaube, dass kein Mensch das Recht hat, eines anderen Menschen Leben auszulöschen, ganz gleich, wie unmenschlich sich dieser auch verhalten haben mag, macht die tiefe Zivilität unserer Gesellschaften aus.
Die Kehrseite dieser Zivilität ist allerdings die Feigheit. So wie wir gelernt haben, dass es kein Verbrechen gibt, das grausam genug wäre, die Todesstrafe zu rechtfertigen, wird uns tagtäglich – zwar nicht explizit, dafür umso suggestiver – beigebracht, dass es kein Ziel, keinen übergeordneten Wert mehr gibt, der hehr genug wäre, das eigene Leben in seinem Namen aufs Spiel zu setzen. Zwar wird jeder, der noch ein Herz im Leib hat, nicht lange zögern, wenn er sieht, wie sein Kind, sein bester Freund, seine Schwester zu ertrinken droht, und sich, um Rettung bemüht, ins Wasser stürzen, ganz gleich, ob er ein guter Schwimmer ist oder nicht.
Aber bereits im öffentlichen Raum erleben wir, dass die Bereitschaft, verteidigend da-zwischenzugehen, wenn Schläger sich über ein Opfer hermachen, zu sinken scheint. Auf Dauer zeigt sich die “Ich bin doch nicht blöd”-Mentalität nicht nur beim Kauf von Elektrowaren, sondern sie prägt das gesamte Verhalten. Soll ich dieses mein nach allen Regeln der Vorsorgemedizin, Ernährungskunde und Sportwissenschaft gepäppeltes Leben wirklich aufs Spiel setzen, bloß weil auf der anderen Straßenseite ein Wildfrem-der zusammengetreten wird? Oder, noch abwegiger: weil einige Tausend Kilometer ent-fernt noch viel wildfremdere Menschen vergewaltigt, gefoltert und dahingeschlachtet werden?
Doch nicht nur das Ritterliche, die Bereitschaft, Schutzbedürftigen zu Hilfe zu eilen, ist im Begriff, endgültig zu verschwinden. So zäh jeder Einzelne um den Erhalt all jener Pri-vilegien, vom wärmegedämmten Eigenheim bis zu drei Urlauben im Jahr, ringt, die sein Leben in einer westlichen Wohlstands-, Friedens- und Freiheitsgesellschaft so ange-nehm machen – so unwillig ist er oder sie, diese Wohlstands-, Friedens- und Freiheits-gesellschaft als Ganzes zu verteidigen.
Es erzählt einiges über die Kurzsichtigkeit unserer intellektuellen Eliten, dass ihnen die – unbestreitbar aggressive – Geschäftspolitik eines Konzerns wie Amazon die größere Bedrohung unserer Lebensart zu sein scheint als der mörderische Fanatismus, der seit Monaten von der Ukraine, vom Irak und von Syrien ausstrahlt. Wie oft habe ich in den letzten Wochen bei Diskussionen die Sätze gehört: “Worüber regst du dich eigentlich auf? Bei uns ist doch bislang nichts passiert. Und damit das so bleibt, halten wir uns am besten aus jedem militärischen Schlamassel raus.” Auf das Stillhalte-Plädoyer folgt mit ritueller Regelmäßigkeit die Selbstbezichtigung, nach dem Motto: “Wir müssen den Hass auf den Westen verstehen lernen.”
Doch wer mag – selbst wenn er sich dem Westen und seinen Werten innigst verbunden fühlt – noch uneingeschränkt eine Lanze für ebendiese brechen, wenn auch er sieht, dass wir dabei sind, die kühne, grandiose Idee der Freiheit zur Lizenz zum Raffen und gleichzeitigen Bräsigwerden verkommen zu lassen?
Zu den Selbstzweifeln gesellen sich die desaströs-desillusionierenden Erfahrungen, die der Westen mit seinen Militäreinsätzen in Afghanistan und im Irak in der jüngsten Ver-gangenheit machen musste: dass diese Kriege eben nicht Frieden und Freiheit gebracht, dass sie in jenen Ländern nicht den Boden für wachsenden Wohlstand bereitet haben, sondern dass wir sie kaum weniger zerrissen und blutig hinterlassen haben, als sie es zuvor gewesen sind.
Ist es vor diesem Hintergrund verwunderlich, dass die Bundeswehr bei ihrer aktuellen “Attraktivitätsoffensive” jegliches heroische Pathos vermeidet und sich stattdessen alle Mühe gibt, so aufzutreten, als wäre sie ein ganz normaler Arbeitgeber? Dennoch über-kommt mich elementarer Zorn, wenn ich die Verteidigungsministerin Phrasen sagen hö-re wie: “Die Bundeswehr wechselt auf die Überholspur.” Oder wenn ich auf der Home-page der Bundeswehr lese, diese sei, “durch die neutrale Brille betrachtet”, nichts weiter als “ein Sicherheitsunternehmen, eine Reederei, eine Fluglinie, ein Logistikkonzern, ein medizinischer Dienstleister – alles auf Top-Niveau und weltweit vernetzt”.
Gewiss, das Bild des Soldaten hat sich in den letzten zehn Jahren massiv gewandelt, weg vom Krieger, der, mit Lanze, Bajonett, Maschinengewehr bewaffnet, ins Feld zieht, hin zum IT-Spezialisten, der weiß, wie man eine Drohne vom sicheren war room aus steuert. Dennoch: Darf man dem Berufsstand des Soldaten mit solch verlogenem PR-Geschwätz, wie es derzeit in Deutschland zu vernehmen ist, den existenziellen Ernst austreiben?
Wenn ich darüber nachdenke, was (junge) Menschen, traditionell Männer, dazu bringt, zum Militär zu gehen, fallen mir – abgesehen von der Wehrpflicht oder der Familientradi-tion, wie sie früher im preußischen Adel bestand – drei Motive ein: Der Rekrut ist ein armer Schlucker, der im Leben wenig zu verlieren hat und deshalb die Hoffnung hegt, im Krieg zu gewinnen. Auf höherem Niveau gibt es diesen Typus bis heute in Amerika: Soldaten, die sich in erster Linie deshalb bei den US-Streitkräften verpflichten, weil die-se ihnen anschließend das Studium an einer Eliteuniversität bezahlen, das sie bezie-hungsweise ihre Eltern allein nie finanzieren könnten. Ich vermute, dass die Verteidi-gungsministerin auf eine ähnliche Motivlage abzielt, wenn sie verlautbaren lässt, dass demjenigen, “der sein Handwerk bei der Bundeswehr gelernt hat, [...] hinterher viele Tü-ren in der zivilen Arbeitswelt offen” stehen.
Neben diesem zweckrational mitteltemperierten Soldaten gibt es den Typus Söld-ner/Fremdenlegionär, dem die fade Zivilistenexistenz einfach nicht genügend Kitzel bie-tet und der deshalb das Abenteuer im Krieg sucht. Letzterer lacht sich kaputt, wenn er hört, dass er sich bei der Bundeswehr “mit seinen Potenzialen” künftig mehr wird “ein-bringen” können.
Und schließlich gibt es den Soldaten, der unserem neuzeitlichen Ideal, wie es sich mit dem französischen Volksheer unter Napoleon etabliert hat, am meisten entspricht: den Soldaten, der aus Überzeugung für die große Sache kämpft. Dieser idealistische Soldat nun muss sich enttäuscht, ja betrogen fühlen, wenn ihm seine oberste Dienstherrin zu verstehen gibt, in Wahrheit sei er bloß ein Zivilist, der mehr oder weniger zufällig in Uni-form geraten ist.
Ich vermag nicht zu beurteilen, wie häufig dieser Typus im radikal postheroischen Deutschland noch anzutreffen ist. Bedenkt man, welche Ermüdungserscheinungen am Heroischen sowohl in den USA als auch in Israel zu beobachten sind, bei jenen westli-chen Streitkräften also, deren Stärke in der Vergangenheit nicht zuletzt im hohen Idea-lismus ihrer Soldaten begründet war, muss man erst recht skeptisch sein.
Trotzdem gewinnen wir nichts, wenn wir den Beruf des Soldaten herunterspielen auf eine Mischung aus Computerfachmann, Logistiker und Entwicklungshelfer. Soldaten sind Männer – und seit einer Weile auch Frauen –, die bereit sind, ihr Leben im Namen eines übergeordneten Werts aufs Spiel zu setzen – und bereit sind, in diesem Namen zu töten. Gerade weil uns Durch-und-durch-Zivilisierten beide Gedanken immer fremder werden, sollten wir denen, die überhaupt noch willens sind, sich beiden existenziellen Gefährdungen auszusetzen, umso dankbarer sein.
Und wenn es ihnen gelingt, trotz der Gräuel, die sie im Krieg erleben, und trotz der Tö-tungen, die sie im Ernstfall selbst zu verantworten haben, sich vom Sog der Gewalt nicht erfassen zu lassen, sondern im Herzen jene Zivilität zu wahren, die zu verteidigen sie aufgebrochen sind, dann dürfen wir sie getrost als das bezeichnen, was sie sind: Helden.
Zuerst erschienen in der ZEIT.