Rainer Grell / 26.12.2018 / 15:00 / Foto: Tim Maxeiner / 26 / Seite ausdrucken

Was heißt eigentlich “weltoffen”?

Seit Tagen, nein seit Wochen und Monaten zerbreche ich mir den Kopf darüber, was eigentlich „weltoffen“ bedeuten soll. Man hört es ja andauernd, dieses „Deutschland ist ein weltoffenes Land“. Soll das vielleicht heißen, Deutschland steht für Flüchtlinge und Einwanderer aus der ganzen Welt offen? Kaum, denn Schengen ist ja vorläufig passé, de Maizière sei Dank. Außerdem habe ich mal gehört, wer nach allen Seiten offen ist, kann nicht ganz dicht sein. 

In einer solchen Situation kann vielleicht Wikipedia helfen. Dort heißt es:

„Weltoffenheit ist ein Begriff aus der philosophischen Anthropologie. Er bezeichnet die Entbundenheit des Menschen von organischen Zwängen (Trieben) und seiner unmittelbaren Umwelt und betont seine Öffnung hin zu einer von ihm selbst hervorgebrachten kulturellen Welt. Hiermit geht einher, dass der Mensch ohne festgelegte Verhaltensmuster geboren wird und sich Verhaltenssicherheit in der Welt immer erst erwerben muss. Umgangssprachlich bezeichnet der Begriff eine Aufgeschlossenheit gegenüber anderen Kulturen. So kann beispielsweise ein Mensch oder eine Gesellschaft weltoffen sein, man spricht etwa von einer ‚weltoffenen Stadt‘.“

Aha! Nun können wir getrost davon ausgehen, dass die meisten Zeitgenossen, die sich zur „Weltoffenheit“ äußern, dies nicht im Sinne der philosophischen Anthropologie, sondern umgangssprachlich meinen (es sei denn, sie hießen zufällig Habermas, Sloterdijk oder Nida-Rümelin).

Also Aufgeschlossenheit gegenüber anderen Kulturen. Dagegen ist ja nun wirklich nichts zu sagen. Allerdings wüsste ich gerne, wie weit diese Aufgeschlossenheit geht. Und dann schockte mich diese Überschrift auf der Achse „Jede Kultur ist wertvoll, so lange es nicht die eigene ist“. Das erste, was mir dabei in den Sinn kam, war das Lied von Reinhard Mey: „Annabelle, ach Annabelle, Du bist so herrlich intellektuell“. Anhand der Leserpost merkte ich dann, dass dieses Thema viele Achse-Leser genauso interessierte wie mich: 30 Zuschriften belegen doch ein erhebliches Interesse. Jean Pirard schrieb: „Eine feine Bestandsaufnahme. Doch sollte der Titel nicht besser ‚Jede Kultur ist wertvoll, solange es nicht die deutsche ist‘ heißen?“ Das ging nun vermutlich nicht an die Adresse der Autorin Anabel Schunke, sondern der Achse-Redaktion, traf aber natürlich trotzdem den Kern.

Kölner Dom und Pantheon in Rom

Jetzt habe ich ein Problem: Ich hänge zwischen Baum und Borke. Dass ich offen für andere Kulturen bin, sieht man schon an meinem langjährigen Freundes- und Bekanntenkreis: Chinesen, Engländer, Franzosen, Italiener, Perser, Spanier, Türken (die Finnen haben sich leider verabschiedet: tapaavat jälleen). Auf der anderen Seite hänge ich an der deutschen Kultur. Ich liebe die persischen Dichter Chajjam und Saadi genauso wie die deutschen Heine, Schiller und Erich Kästner. Leonardo da Vinci, Michelangelo und Claude Monet sind mir genauso wichtig wie Dürer, Tilman Riemenschneider und August Macke. Und die Musik von Tschaikowsky und Verdi höre ich ebenso gerne wie Mozart (den ich den Österreichern keineswegs streitig machen will) und Beethoven und so weiter.

Und natürlich stehe ich nicht weniger staunend vor dem Ulmer Münster oder dem Kölner Dom als vor dem Pantheon in Rom oder Paris, der Mezquita in Cordoba, dem Alcázar in Sevilla oder der Alhambra in Granada oder den zahllosen Pagoden und Schreinen auf dem Durbar-Platz in Kathmandu (vor dem Erdbeben am 25. April 2015). Und das Personaltableau des Stuttgarter Balletts (von dem Briten John Cranko zu Weltruhm geführt) ist genauso international wie die Vereine der Bundesliga. Kurzum: Kulturelle Schöpfungen und kulturelle Vielfalt begeistern mich, wo immer ich ihnen begegne und wer immer sie geschaffen hat. 

Um es absolut unmissverständlich zu formulieren: Wer seine eigene Kultur liebt, ist immer auch offen für die fremde, weil beide stets mehr verbindet als trennt. Bei Folklore mag das anders sein. Da kann es selbst innerhalb Deutschlands Unstimmigkeiten geben. Jedenfalls weiß ich nicht, wie die Friesen zum bayerischen Schuhplattler stehen. Das Jodel-Konservatorium von Blankenese und Hechelheim ist wohl nur eine Erfindung von Otto Waalkes

Wenn allerdings eine fremde Kultur versucht, diejenige des Gastlandes zu verdrängen, hört der Spaß auf. Denn „weltoffen“ bedeutet ja nur aufgeschlossen für das Fremde, aber nicht verschlossen für den Wert des Eigenen. 

 

Foto: Tim Maxeiner

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Leserpost

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Gabriele Schulze / 26.12.2018

Heute habe ich auf YouTube “Sous les ponts de Paris” gehört, gesungen von Lucienne Delyle, und ein paar der Kommentare gelesen. Eine Französin schrieb: “Lasst uns die Erinnerung an unsere Kultur bewahren, die gewisse Machthaber dem Vergessen anheim geben wollen, um uns besser zu manipulieren”. Voilà, tout dit. Ach nein, “Vive la France” hat sie noch angefügt.

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