Alexander Wendt / 02.09.2018 / 16:48 / Foto: Pixabay / 62 / Seite ausdrucken

Was geschah in Chemnitz wirklich?

Es ist ein einfacher klarer Satz von Wolfgang Klein, Sprecher der Generalstaatsanwaltschaft Sachsen. „Nach allem uns vorliegenden Material hat es in Chemnitz keine Hetzjagd gegeben“, so der Beamte auf meine Anfrage. Damit widerspricht er direkt den Behauptungen von Kanzlerin Angela Merkel und ihrem Sprecher Steffen Seibert, die beide unter Berufung auf von ihnen nicht näher beschriebene Videos behauptet hatten, in Chemnitz hätten „Hetzjagden“ stattgefunden – also sogar mehrere.

Die sächsische Generalstaatsanwaltschaft verfolgt alle Delikte im Zusammenhang mit dem Versammlungsrecht, zu denen es in Chemnitz am vergangenen Sonntag und Montag gekommen war: Hitlergrüße, Böller- und Flaschenwürfe, mögliche Übergriffe. Wegen des öffentlichen Zeigens von Hitlergrüßen verfolgt die Behörde ein dutzend Anzeigen. Fest steht auch, dass am Sonntag, den 26. August in einer Spontandemonstration von etwa 800 Menschen nach der Tötung eines jungen Chemnitzers durch zwei Asylbewerber auch etwa 50 gewaltbereite Personen aus der rechtsradikalen und Hooligan-Szene unterwegs waren. Von dieser Gruppe wurden mehrere Passanten angepöbelt und bedroht. Aber eine Hetzjagd in den Straßen von Chemnitz gab es weder nach Erkenntnissen der Behörden, noch existieren bis heute Fotos oder Bewegtbilder, die den Vorwurf stützen.

Damit bestätigt Klein, was vorher schon die Polizei Chemnitz feststellte, außerdem der Chefredakteur der „Freien Presse“ Torsten Kleditzsch, dessen Mitarbeiter am Sonntag das Geschehen beobachtet hatten, während keine überregionalen Teams unterwegs waren.

Wie kam es überhaupt zu der flächendeckenden Berichterstattung, in Chemnitz hätten „Hetzjagden“ stattgefunden? Wer nach der Quelle sucht, stößt auf ein einziges sekundenkurzes Video, gefilmt und ins Netz gestellt von einer Organisation „Antifa Zeckenbiss“. Darauf sind locker zusammenstehende Männer zu sehen; einer rennt drohend auf einen Passanten zu, schreit etwas von „Kanaken“, der Bedrohte flieht. Eine Frau ist mit dem Satz zu hören: „Hase, du bleibst hier.“ Das Mini-Video schaffte es in die ARD, die Morgenpost hob ein Still des Videos auf ihr Titelblatt. Der Schnipsel zeigt zweifellos einen versuchten Übergriff – aber keine Hetzjagd.

So richtig in Schwung kam die Berichterstattung über „Hetzjagden“ in Chemnitz erst, als am 27. August Regierungssprecher Steffen Seibert vor die Presse trat und sagte:

„Was gestern in Chemnitz zu sehen war und stellenweise auf Video festgehalten wurde (…), das hat in unserem Rechtsstaat keinen Platz. Solche Zusammenrottungen, Hetzjagden auf Menschen anderen Aussehens und anderer Herkunft, (…) das nehmen wir nicht hin.“

Die „Tagesschau“ nahm das zum Anlass, um unter dem Leitsatz zu berichten: „Bundesregierung prangert ‚Hetzjagden’ an.“ Als Beleg in der Sendung diente wiederum nur der beschriebene Videoschnipsel von „Antifa Zeckenbiss“.

Aber nicht nur Seibert, auch Angela Merkel trat vor die Presse und erklärte:

„Wir haben Videoaufnahmen darüber, dass es Hetzjagden gab, Zusammenrottungen (…)“

Niemand hatte bis dahin entsprechende Videoaufnahmen gesehen. Aber die Beteuerung nicht nur des Regierungssprechers, sondern der Regierungschefin selbst, „wir“– also die Regierung – verfüge über entsprechendes Material, musste als hochamtliche Bestätigung wirken.

Nur: Die Regierung veröffentlichte die ominösen Hetzjagd-Videos daraufhin nicht. Sie stellte sie offensichtlich auch nicht der ermittelnden Behörde zur Verfügung.

Publico schickte deshalb am Freitag, 31. August um 16:47 Uhr per Mail eine Anfrage an Seibert:

Sehr geehrter Herr Seibert,

vor der Bundespressekonferenz sagten Sie zu den Ereignissen in Chemnitz:

„Was gestern in Chemnitz  zu sehen war und stellenweise auf Video festgehalten wurde (…), das hat in unserem Rechtsstaat keinen Platz. Solche Zusammenrottungen, Hetzjagden auf Menschen anderen Aussehens und anderer Herkunft, (…) das nehmen wir nicht hin.“

Nach Erkenntnissen der Polizei gab es am vergangenen Sonntag aus der Menge der Demonstranten drei verbale Angriffe auf andere Personen, in einem Fall auch durch Spucken, und einen mutmaßlichen Schlag mit einer Bierflasche. Über eine Hetzjagd bzw. „Hetzjagden“ liegen der Polizei keine Erkenntnisse vor. Zum aktuellen Zeitpunkt (Freitag, 31. August 16 Uhr) liegen auch der ermittlungsführenden Generalstaatsanwaltschaft Sachsen keine Erkenntnisse vor, die den Begriff „Hetzjagd“ rechtfertigen würde.

Nach Angaben des Chefredakteurs der „Freien Presse” Chemnitz Torsten Kleditzsch – des einzigen Mediums, dessen Journalisten am vergangenen Sonntag das Geschehen beobachtet hatten – gab es keine Ereignisse, die man als „Hetzjagd“ bezeichnen könnte, also das anhaltende Jagen von Personen durch Gruppen auf Straßen und Plätzen.

Unter einer Vielzahl von Videoaufnahmen vom Sonntag gibt es ein Video mit dem Account „Zeckenbiss“, auf dem ein einzelner Mann zu sehen ist, wie er auf einen anderen einzelnen Mann zurennt. Dieses Video zeigt also ebenfalls keine Hetzjagd.

Da Sie explizit von Ihnen offenbar vorliegenden Videos sprechen, die „Hetzjagden auf Menschen anderen Aussehens und anderer Herkunft“ in Chemnitz zeigen sollten, bitte ich Sie, mir diese Quellen zu nennen.

Zudem bitte um Beantwortung der Frage: Wie definiert die Bundesregierung den von Ihnen verwendeten Begriff „Zusammenrottung“?

Hält die Bundesregierung „Zusammenrottung” für illegal?

Hatten Sie vor Ihrem Statement Kontakt mit der Chemnitzer Polizei und/oder der örtlichen Staatsanwaltschaft?

Zum zweiten übermittle ich Ihnen hiermit zuständigkeitshalber auch eine Anfrage an Frau Dr. Merkel:

Sehr geehrte Frau Dr. Merkel, bei einem Auftritt vor der Presse sagten Sie zu den Ereignissen in Chemnitz:

„Wir haben Videoaufnahmen darüber, dass es Hetzjagden gab, Zusammenrottungen (…)“

(Weitere Ausführungen s. Frage an Steffen Seibert.)

Deshalb bitte ich um die Beantwortung der Frage: Welche Videoaufnahmen oder andere Quellen liegen Ihnen vor, die Sie zu der Aussage bewogen haben, in Chemnitz habe es „Hetzjagden“ gegeben?

Wie definieren Sie den Begriff „Zusammenrottung“? Sind Sie der Ansicht, dass es sich bei einer „Zusammenrottung“ um ein Delikt handelt?

Ich bitte um eine baldige Antwort der Fragen an Sie, Herr Seibert, und an Frau Dr. Merkel.

Mit freundlichen Grüßen, Alexander Wendt

Publico

Bis jetzt gibt es keine Antwort. Auch nach einer schriftlichen Erinnerung am Samstag nicht.

Damit beginnt die Affäre erst. Dass die Regierungschefin selbst eine Fake News bestätigt, damit eine hysterische Falschberichterstattung erst so richtig in Gang bringt und anschließend Fragen eines Mediums ignoriert – das wäre ein präzedenzloser Vorgang.

Der Fall wird sicherlich auch im Bundestag behandelt werden.

Dieser Beitrag erschien zuerst in Alexander Wendts Magazin Publico.

Foto: Pixabay

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Dr.Wilhelm / 02.09.2018

Auch die “Jüdische Allgemeine” schreibt in Merkls Worten von Hetzjagden - im Artikel von Grosser 31.8.18.

W.Schneider / 02.09.2018

Woher der Hass der politischen Kaste und der daran angeschlossenen MSM auf die ostdeutsche Bevölkerung? Es ist doch auffällig, wie viele Kübel Hass auf die Menschen dort und insbesondere die Sachsen ausgeschüttet werden. Liegt es vielleicht daran, dass die Ostdeutschen dem sozialistischen System der DDR, das offenbar viele Menschen aus der BRD und der DDR der von mir beschriebenen Kaste für das zweifelsohne bessere Deutschland gehalten haben, mit ein Ende bereitet haben? Dass dadurch viele Karrieren in der DDR plötzlich beendet waren? Man hat zwar im kapitalistischen Westen einträgliche Positionen erreicht, aber halt im falschen System. Kann man das den Ostdeutschen nicht verzeihen?

Dr. Harald Streck / 02.09.2018

Dr. Harald Streck / 02.09.2018 Ein hervorragender Artikel! Es gibt aber noch einen Aspekt dieser Ereignisse:  die Ungeheuerlichkeit, dass “unsere” Regierung, um die eigene Haut zu retten, der internationalen Presse die Farben anreicht, mit denen sich das etwas vergilbte Bild des hässlichen Deutschen auffrischen lässt. So lesen wir bereits in der Weltpresse, dass in deutschen Städten grölende Nazibanden die Szene beherrschen, den Hitlergruß zeigen und Jagd auf Immigranten machen. Darauf hat die Welt ja nur gewartet, dass das Klischee vom Deutschen als eines im Herzen unverbesserlichen Nazi durch Presseberichte bestätigt wird. Welcher Zeitungleser irgendwo in der Welt käme auch auf den Gedanken, dass es der Deutschen eigene Regierung ist, die durch Lügenpropaganda ein abstoßendes Bild ihrer eigenen Bevölkerung in die Welt zu setzen versucht. Was sich hierzulande Regierung nennt, ist eine diaboliche Institution zum Verderben des eigenen Volkes.

beat schaller / 02.09.2018

Sehr geehrter Herr Wendt, was Sie da schreiben und die Art wie Sie nun vorgehen ist beispielhaft. Ich bin sehr gespannt, ob und was Sie für Antworten bekommen. Das Ganze stinkt zum Himmel und es ist offensichtlich, dass da sehr viel zurecht gebogen wird.  Sie bekommen entweder Beweise oder Antworten und darauf lässt sich ein Prozess aufbauen. Das was hier läuft ist Rassismus durch die Regierung selber, es ist Fake und Mass müsste längst aktiv sein, aber nein, er ist doch mit von der Partie! Neben dem ganzen unglaublichen Schmierentheater hat ja auch Steinmeier und Mass auf Twitter aufgerufen und Hinweise zu den Bands die da die Nazi-onalhymmnen aufspielen werden, eingeladen. Das Mass ist in dieser Geschichte längst übervoll und wir stehen wohl langsam an einem Wendepunkt. Ich bin gespannt auf die nächsten Wahlen, und ich bete, dass die AfD kräftig zulegt, sodass man nicht mehr einen grossen Bogen um sie herum machen kann. Das Ganze ist Pietätlos und unglaublich, was hier auf die Opfer, von denen überhaupt nicht gesprochen wird, und auf die Bürger dieser Orte nieder prasselt. Das kann nur noch mehr Aufstand geben, denn, wenn sich die Regierung bis zur Spitze auf solch eine unglaubliche Geschichte einlässt, dann muss das Konsequenzen haben. Ich hoffe, dass wir auf der Achse die Antworten zu sehen bekommen und dass, wenn die nicht Aufschluss geben, vielleicht Herr Steinhöfel ein nettes Brieflein schreiben wird. Danke Herr Wendt

Andreas Kleemann / 02.09.2018

Die politischen und medialen Funktionseliten von links-grün spüren, dass ihre Zeit und ihre Privilegien zu Ende gehen. Insofern könnten die Tage von Chemnitz in der historischen Rückschau vielleicht einmal eine ähnliche Bedeutung erlangen, wie 1968 der Tod von Benno Ohnesorg. Die Tendenz-Berichterstattung der Mainstream-Medien erweist sich nun bei näherem Hinsehen als komplettes PR-Desaster.  Und die SPD? befindet sich auf dem besten Weg zu einer 10-Prozent-Partei. CDU? Richtung 20 Prozent?  Spannende Zeiten.

Werner Arning / 02.09.2018

„Zusammenrottung“. Aus der Jägersprache ist mir die „Rotte“ bekannt. Mehrere Wildschweine auf einem Haufen. Im Zusammenhang mit Menschen habe ich den Ausdruck eher seltener gehört. Spricht man den Sachsen ihr Menschsein ab? Werden sie ins Tierreich verband? „Hetzjagd“ passt allerdings nicht zu den Wildschweinen. Gehetzt kann etwa der Fuchs werden. In England macht man das per Pferd. Im Tierreich gibt es jedoch auch Tiere, die hetzen, laufen ihre Beute müde, um sich im geeigneten Moment auf die zu stürzen und an die Gurgel zu gehen. Aber dass das auch die Sachsen machen, war mir bisher nicht bekannt. Man lernt nie aus.

Thomas Klingelhöfer / 02.09.2018

Die einzige Oppositionspartei im Bundestag sollte eine kleine Anfrage starten, die Fragen hat Herr Wendt bereits formuliert. Weitere Fragen könnten sein, aus welchem Grund das Demonstrationsrecht gemäß Versammlungsgesetz nicht durchgesetzt und eine strafbare Blockade der Route durch eine geringe Zahl von Gegendemonstranten hingenommen wird. Auch die Begründung der Aufforderung, die Versammlung zu beenden wegen Überschreitens der angemeldeten Demonstrationszeit könnte hinterfragt werden. Hat man das in Hamburg bei den G20-Protesten auch entsprechend gehandhabt?

S. Schmidt / 02.09.2018

Ich denke, wenn es Videos über “Hetzjagden” gäbe, würden diese in Endlosschleife im Öffentlich Rechtlichen laufen. Antworten werden Sie nie erhalten, und Merkel & Co. werden immer weiter machen mit der Spaltung unserer Gesellschaft. Warum???

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