Jesko Matthes / 14.07.2019 / 14:00 / Foto: pixabay / 5 / Seite ausdrucken

Was für ein herrlicher Palast

Irgendwann Anfang der 2000er saß ich mit K., einer befreundeten Psychotherapeutin, in Hannover in der längst nicht mehr existierenden „Weinwelt“ an der Kirchröder Straße. Umgeben von einem Mix aus gediegenen Gründerzeitmöbeln und, in Richtung Bar, dezentem Bauhausstil rauchte ich eine Upmann oder Montecristo, die gab es dort in einem hübschen Humidor, und ich hatte die Lizenz zum Rauchen, denn es klebte auch ein zuweilen elektrisch knisterndes Luftreinigungsgerät unter der Decke. Damals war ich quasi arbeitslos, auf Praxissuche, schob hier und dort Nachtdienste, verdiente nahezu nix und beschränkte mich also auf maximal einen wöchentlichen Besuch der „Weinwelt“, der nun ganz dem Genuss galt.

Fast ganz. Ich war wieder einmal Single, und ich heulte mich bei K. aus. Später erzählte ich ihr von der schwer erträglichen Vielzahl meiner Interessen, auch an Geschichte und Archäologie, und wie viel mir deren Verbindung zur Gegenwart bedeute. Das sei jungen Frauen schwer zu vermitteln, aber auch sonst gäbe es immer wieder verschieden interessante Formen des Scheiterns. Ich hatte viel Freizeit, die nutzte ich für Sport und gesunde Ernährung. K. grinste. Sie sah, dass ich schlecht drauf war, und sie konnte nicht aus ihrer psychotherapeutischen Haut: „Ich rate dir dringend zum gezielten Verstoß gegen alles, was du gerade erzählt hast. Bist du Traditionalist oder gar Nostalgiker – und das bist du gewiss: Vergiss die Vergangenheit! Liebst du Sport oder liebst du das tätige Leben? Reiß ein paar Abende auf dem Sofa ab! Bist du Vegetarier? Iss ein blutiges Steak! Vermisst du an die Treue? Geh in einen Swinger-Club!“

Ich lachte, zum ersten Mal seit Wochen. Das hatte gesessen. Ich zitierte sinngemäß Niels Bohr: Das Gegenteil einer großen Wahrheit ist ebenfalls eine große Wahrheit. Wieder grinste K.: „Und bist du zu verkopft… dann denk’ an das, was ich gerade gesagt habe, das erdet dich.“ Bis auf den Swinger-Club, den ich nur gedanklich interessant fand, hielt ich mich an das Rezept, und es ging mir tatsächlich besser, vor allem schmeckten der Saale-Unstrut-Silvaner und die Upmann gleich doppelt so gut. Auch den Blick auf die mir an Jahren etwas und an Weisheit deutlich überlegene, bildhübsche K. tat mir gut. Ich lächelte. „Siehste, geht doch“, grinste sie.

Aber, ach, ich kann nicht aus meiner Haut. Meine verflossene Freundin war hoch intelligent, studierte Medizin, konnte aber als Tochter eines Germanisten und Historikers ganze Gedichte von Schiller, Trakl oder Rilke auswendig. Und sie liebte das Mittelmeer. Das passte, wenigstens ein paar Jahre, wir sahen Malta und Florenz. Aber auch solche Frauen sind zu knacken, und zwar durch männliche Hitzebeständigkeit und überbordende Phantasie. Diesmal machten wir Urlaub auf Kreta. Natürlich suchte ich Ostkreta aus, weil es von dort aus in jeder Richtung ungefähr gleich weit ist zu den wichtigen und sogar den unwichtigen archäologischen Stätten. Wenn du über das verschlafene, in der Mittagshitze glühende, gar nicht akademisch wirkende Pachia Ammos weiter an die Südküste fährst, kannst du beinahe irgendeinen Hügel besteigen und mit den Händen in der trockenen Erde wühlen, nach spätestens drei Zentimetern triffst du auf uralte, bemalte Tonscherben und Grundmauern, grob bearbeitete Steine. All das liegt noch immer in der kretischen Erde.

Glaube an den Mythos

Ich hatte natürlich meinen Evans gelesen und auch meinen Schliemann. Entdeckungen machst du, indem du an den Mythos glaubst und an seine Topographie. Schliemann hatte darin seine Vorläufer. Jeder nennt Frank Calvert, fast unbekannt geblieben sind James Butler, Charles McLaren, James Rennell, Joseph von Hammer-Purgstall und, schon am Ende des 18. Jahrhunderts, der Kartograph Franz Kauffer. Sie alle hatten Troja schon vor Schliemanns Geburt mit dem Hügel Hisarlik in der Nordwesttürkei in Verbindung gebracht, indem sie sich an Homer orientiert hatten. Hammer-Purgstall, Butler und Calvert hatten dort bereits ausgegraben, bevor Schliemann es tat; und wiederum Schliemann war es, der später versucht hatte, den Hügel von Knossos auf Kreta zu kaufen, bevor Arthur Evans es tat. Guter Riecher plus Überlieferung, Tradition. Auch ich glaubte an den Mythos, vor allem an den der Liebe, und ich genoss seine Topographie.

Mit A. stand ich auf dem archäologischen Gelände von Malia an der kretischen Nordküste. Es war früher Nachmittag, die Grillen zirpten laut und unablässig, kein Wölkchen stand am Himmel. A. hatte ihren bildschönen, blonden Kopf mit einem Sombrero-artigen Strohhut bedeckt und gab dennoch sofort auf. Sie ließ sich im grünen, weiß geblümten Kleid auf den Sockel von irgendetwas fallen, wahrscheinlich die einstige Palastfassade, im spärlichen Schatten eines raren kleinen Baumes. Ich hatte längst erspäht, dass ein paar Meter von uns eine Gruppe junger Leute in deutscher Sprache diskutierte, und zwar auf höchstem Niveau. Einige machten Fotos, andere zeichneten, wieder andere rollten Maßbänder aus und schrieben die Ergebnisse in Listen. Dann sammelten sie sich wieder. Drei ältere Semester sprachen zu ihnen, nein, es waren ihre Professoren, ein archäologisches Mittelseminar der Universität Tübingen auf Exkursion. Fast neunzig Minuten lang bekam ich komprimierten Unterricht in archäologischem Denken, auf althistorischer und soziologischer Grundlage. Am Ende waren mir die rätselhaften Minoer näher als je zuvor, und den herrlichen Nimbus des Rätsels hatten sie behalten, es war nur bunter, lebendiger und detaillierter geworden. Auch eine Menge über die Palastarchitektur hatte ich erfahren.

Und so kehrte ich zurück zu meinem Schatz, der sich inzwischen im Informationszentrum die dritte Flasche Mineralwasser gekauft hatte. Ich erzählte alles. A. seufzte: „Schön, dass du das mitbekommen hast, aber, wie hältst du das aus bei der Hitze?“ Ich überlegt nur kurz und antwortete: „Was für ein herrlicher Palast…“ A. schüttelte den Kopf: „Diese Sorte Irrsinn liebe ich an dir – ich sehe nur eine Ruine.“ Später sagte ich zu ihr, das sei der Lauf der Welt. „Immer noch das selbe Meer, wie es Tag für Tag an die Küste von Kreta brandet, immer noch die Oliven, der Wein, die Ziegen, immer noch der gleiche Käse… doch niemand mehr kann die Tontäfelchen lesen, die die Minoer hinterlassen haben, niemand tanzt mehr mit dem Stier im Hof des Palasts wie heute noch die jungen Männer in den Straßen von Pamplona, niemand mehr ruft am Abend inbrünstig die Liebesgöttin an, die sich mit dem Sturmgott vermählt.“ A. antwortete lachend: „Letzteres kannst du mit mir haben, da ändert sich nichts, die Gefühle sind die gleichen – hoffe ich. Übrigens auch die, wenn du in die kleine Kirche gehst und der Jungfrau Maria eine Kerze entzündest und das Glas über ihrer Ikone küsst. Du küsst die Panagia Kyria Kardiotissa. Du weißt doch: die allheilige Herzensdame. Sie zu küssen ist die Erlösung, es ist für den Gläubigen wie endlich nach Hause zu kommen. Religion hat hier auf Kreta immer noch eine gewisse Erotik.“ Ich grinste, viel später, es war schon dunkel, neben A. auf dem Rande des Hotelbetts sitzend. Die Verandatür stand offen. Eine kleine, verwilderte Katze hockte plötzlich vor uns: „Miau.“ Wir hatten noch etwas Käse da. A. fütterte sie. Danach streichelte sie sie, bis sie schnurrte. „Die Herrin der Tiere. ... Erotik hat hier auf Kreta immer noch eine gewisse Religiosität“, sagte ich.

Nach untergegangenen Kulturen

Das Kätzchen war satt und ging seiner Wege. Wir schwiegen eine Weile. „Kulturen gehen unter, die Menschen bleiben die selben“, sagte A. Und nun ging es los: „Und der konservative Satz aus dem Munde einer Medizinstudentin, die die Grünen wählt?“, sagte ich, und ich fuhr fort: „Wenn die uns einst überwältigt haben, dann bleibt bei uns zuhause in Deutschland kein Stein auf dem anderen, dann gibt es Multikulti und Aufruhr, die Spaltung der Gesellschaft, linksökologisches Illusionstheater und am Ende Wirtschaftskrise, Armut und Not, Hauen und Stechen. Bei allem nötigen Umweltschutz: Nur verwöhnte, ideologisierte Akademikerkinder profitieren auch sonst davon und laufen denen hinterher.“ Der Urlaub hatte damit sein Intermezzo. Es gab Krach: Ich sei hier schließlich nicht der blinde Seher Teiresias, ich solle mal die Augen auf machen und genau hinsehen, welche enormen Verdienste die Grünen schon allein in der Opposition gehabt hätten, und der Atomausstieg werde auch noch kommen. - Wir blieben nicht ewig zusammen, allerdings ein paar Jahre lang. Ich denke oft an diese Zeit, denn sie war sehr schön. Was auch daran gelegen haben mag, dass wir jung waren und meinten, eine Liebe definiere sich über gemeinsame Interessen, gemeinsame Erotik. Was für ein entsetzlicher Irrtum. Erst spät lernte ich dazu. Inzwischen leben meine Frau und ich mit zwei Katzen.

Nur die Grundmauern sehe ich noch immer. Ich gehe durch die Straßen, und je mehr ich höre und lese vom Gebaren so mancher Migranten, von dem der Links- und Rechtsradikalen, vom Getöne der Grünen, von Multikulti und #wirsindmehr, je mehr ich sehe vom anfallsweisen Gezitter der Kanzlerin, desto deutlicher sehe ich sie, die Grundmauern. Ich stolpere über sie, an jeder Ecke, und ich rede von ihnen, so deutlich ich kann: Was für ein herrlicher Palast!

Foto: pixabay

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Ester Burke / 14.07.2019

Ja, wirklich, die Grundmauerns sind deutlich noch da, such die eine oder andere Säule (diese Woche hörte ich im BR von einem Kirchenmusiker,  Choräle seien die Säulen in der sakralen Musik,  - Sind sie wohl bei der Feier überhaupt -, aber dann gab es heute in der Kirche zum 1. mal GAR KEINE Orgel). Aber ich will nicht aufhören, zu sehen, was schön sein könnte. und z.B. im wunderbaren fast von der Bausubstanz her noch ganz erhaltenen Memmingen die grassierenden Döner-/Shishabuden wegdenken. Was tun ? Glaube-Liebe-Hoffnung ? - Trotzdem !

E. Albert / 14.07.2019

Also mir hat der Text gefallen. Vielleicht muss man auch mal dort gewesen sein, um zu verstehen, ich weiß es nicht. Jedenfalls hat sich Ihre damalige Freundin geirrt und Sie hatten tatsächlich eine seherische Eingebung. Man wünschte sich, Ihre Freundin hätte recht behalten…

Prisca Kawubke / 14.07.2019

Ein schöner Text, ich mag Archäologie auch. Davon mal ab: Die ganze Chose lässt sich eh kaum noch aufhalten. Aber ich bin auch keine Kaffeesatzleserin, nur unglaublich pessimistisch. Vielleicht kommt alles noch anders. Dass es “gut” wird, ist nicht gesagt. So wie früher kommt es eh nicht mehr, und muss auch gar nicht. Das, was früher war, fühlt sich oft nur deshalb so gut an, weil es irgendwie etwas Sicheres ist, das einem niemand mehr wegnehmen kann. Wie “früher” will ich nicht leben, aber besser als jetzt sollte es werden. Im Moment sieht es allerdings gar nicht danach aus, und die letzten vier Jahre fühlen sich in meiner Erinnerung nicht nach etwas Gutem an, und sie werden sich nie gut anfühlen, haben sich vom ersten Tag an nicht gut angefühlt. Meine Güte, in der Vergangenheit waren sich die meisten Menschen in den meisten Reichen oder Ländern sicher, dass es für immer so bleiben wird und dass das, wo sie gerade leben, die “Normalität” ist. Erst seit dem 19. Jahrhundert leben, meiner Einschätzung nach, die Menschen mit der Gewissheit, dass sich sehr vieles ändern wird in der Zukunft.

Volker Kleinophorst / 14.07.2019

Ein toller, lesenswerter Text, werter Jesko Matthes. Gut beobachtet. Poetisch. Echt. Da zieh ich meinen Hut.

Christian Feider / 14.07.2019

tja,aufstehen,das elitäre kleine Nestchen verlassen und sich zu denen gesellen,die heute schon medial/gesellschaftlich verfehmt sind und trotzdem Ihre Stimme klar erheben! alles andere ist Resignation und dazu brauchen Sie keine verschwurbelten Texte zu schreiben

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