Der langjährige Achgut-Autor, Publizist und Kritiker Thomas Maul ist mit 49 Jahren gestorben. Sein politischer Verbündeter und Freund, Felix Perrefort (ebenfalls langjähriger Achgut-Autor), hat ihm einen Nachruf geschrieben.
Das letzte Mal sah ich ihn zwischen den Jahren. Thomas begrüßte mich mit den ikonischen Bewegungen des Trump-Dance: auf Kopfhöhe locker gereckte Fäuste, die sich, auf den Takt von Y.M.C.A. (1978), abwechselnd nach vorn und zurück bewegen. Er stand im Laidak, der „einzigen sinnvollen Kneipe in Berlin“, wie Regisseur Dietrich Brüggemann einmal richtig feststellte. Zu feiern hatten wir nicht zuletzt den Ausgang der amerikanischen Präsidentschaftswahl, weil sie ihm (wie mir) die Rückkehr des Westens bedeutete, in dessen zivilisatorische Tradition er sein publizistisches Schaffen stellte.
In seinem Trump-Dance waren nahe beieinander und gegenwärtig, was die westliche Zivilisation und den politischen Menschen Thomas Maul ausmacht. Er drückt mit dem Lied von The Village People unbeschwert die Lebenslust und -freude des (alten) Westens aus und verweist zugleich auf die tiefsinnige Bedeutung des Wahlerfolgs der Republikaner, für die Maul unmissverständlich Partei ergriff. „Zwei kleine Beispiele (Ron DeSantis und Kristi Noem) zeigen, dass es für Staat wie Volk nie eine Ausrede dafür gab und geben wird, wegen einer Erkältung den Verstand zu verlieren und Verbrechen zu begehen“, notierte er über den Gouverneur Floridas und die ehemalige Gouverneurin South Dakotas, die inzwischen im Kabinett Trump das Innenministerium leitet. Beide hatten ihr Ausscheren aus dem internationalen Corona-Wahnsinn dezidiert im Namen der amerikanischen Verfassung verteidigt.
Deren Präambel, so Maul in seinem letzten großen Essay, reflektiere „auf einem bis heute nicht mehr erreichten Niveau“ die Zusammenhänge, auf denen westlich-zivilisierte Gesellschaften beruhen. „Demolierte Republik – vom Aufstieg der prätotalitären Demokratie“, ist der entsprechende Essay betitelt, erschienen in der von ihm mitgegründeten Zeitschrift casa|blanca; ein Text, mit dem er gleichsam die Einsichten und Erkenntnisse aus seinem Schaffen der letzten, etwa zehn Jahre synthetisiert und verdichtet.
Das bislang Zivilisierteste: Bürgerliche Gesellschaft
Aufmerksam und neugierig wurde ich auf Thomas vor etwa zehn Jahren, als er bei einem Vortrag sinngemäß folgenden Einspruch gegen den seinerzeit modischen Neuen Atheismus (Richard Dawkins) erhob, der den christlichen Glauben mit Aberglauben und vergleichbaren Irrationalismen auf eine Stufe stellt: Einer Bestimmung von Marx folgend, der die Religion als „Seufzer der bedrängten Kreatur“ bezeichnete, kritisierte er sinngemäß als unmenschlich, dem gläubigen Menschen den Trost zu nehmen, den er, an der Welt leidend, in der Religion findet, ohne aber die Wirklichkeit zu humanisieren, also die Ursache zu verändern, die das Bedürfnis nach Religion als „Seufzer“ erst hervorbringt. Ich empfand das originell und menschenfreundlich, ein jenseits von Begriffen wie „progressiv“ und „konservativ“ entfalteter Gedanke.
Als Atheist aufgewachsen und meines Wissens auch nie religiös geworden, verteidigte Maul das Christentum als Teil des christlich-jüdischen, griechisch-römischen Abendlandes, das mit der bürgerlichen Gesellschaft die bis heute zivilisatorisch höchst entwickelte Organisation menschlichen Zusammenlebens hervorbrachte. Ob seine Kritik am Islam, an der Corona-Politik oder am postmodernen Antisexismus (Stichwort: #MeToo): Kraftquelle und Bezugspunkt seines Schreibens und Denkens waren immer die Freiheitsrechte des Individuums – als das, „was eine bürgerliche Gesellschaft substanziell als solche ausmacht, und für deren Errichtung und Verteidigung in der Vergangenheit in der Tat viele Menschen gestorben sind“.
Seine dezidierte Bürgerlichkeit, die wegen seiner Bücher über Marx, den er im Grundsätzlichen verteidigte, manch einen überraschen mag, verband er mit dem Charme des aufmüpfigen Anarcho, der er in jüngeren Jahren wohl gewesen ist. Spuren dieses Geistes überlebten in seinen politischen Provokationen, dem gleichmütigen Vermögen, es problemlos aushalten zu können, alle gegen sich aufzubringen, etwa durch Sätze wie diesen: „Der kindische Amoklauf selbsternannter Lebensretter gegen das Sterben alter und kranker Menschen im Zuge einer Grippe-Welle wird noch über einige Leichen gehen.“ (Facebook, 28.3.2020)
Eine Anekdote aus den freien Neunzigern
Anfang Oktober 2021 schrieb er mir eine E-Mail, die so vielsagend und charmant ist, dass ich sie hier festhalten möchte. Vorbemerkt sei: Anfangs spielt er auf zwei Achgut-Stücke von mir an (hier und hier), das Delicious Doughnuts war ein 1993 eröffneter Kult-Club in Berlin Mitte, Ken Jebsen ist ein obsessiver „Israelkritiker“, mit dem Thomas Maul als dezidierter Israelfreund politisch nichts gemein hatte.
Deinen kürzlichen Themen „90er“ und „Berghain“: ich habe einen Zufallsfund gemacht (gestern). Vorgeschichte: In den 90ern arbeitete ich (als Barmann) mit und unter Frank Künster (Türsteher und Teilhaber) im Delicious Doughnuts. (Er wird in dem Film „Berlin Bouncer“ zusammen mit dem Berghain-Türsteher Sven Marquardt portraitiert). Jetzt habe ich zufällig gesehen (seit 20 Jahren kein Kontakt mehr), dass er im Oktober 2020 als Maßnahmen-Kritiker aufgetreten ist.
Zu den Stammgästen des Delicious Doughnuts gehörte damals übrigens auch Ken Jebsen, der zu der Zeit aber noch den Status und die Schnöseligkeit eines Tilo Jung hatte... (ich mochte ihn nicht, irgendwann vorher hatte ich als 17Jähriger mit einem Kumpel mal ein Musikstück komponiert für eine RBB-Fernseh-Sendung von Jebsen (der immer mit einer Banane als Micro rumlief...)) Jedenfalls scheints, dass bei allen Differenzen im Werdegang und im Grad an der entwickelten Verschrobenheit: „wir“ 90er Clubber einfach nicht anfällig waren für diese Schnupfen-Angst ;-) Viele Grüße Thomas.
Der Weg seines politischen Denkens, das, grob gesagt, mit Marx und jugendlicher Empörung über Unrecht und Elend der kapitalistischen Welt begann und in der „konservativen“ Verteidigung der bürgerlichen Gesellschaft gegen ihre eigenen prätotalitären, suizidalen Verfallserscheinungen mündete, spiegelte sich gewissermaßen in seiner Biografie. Politische Einsicht, die im eigenen Leben glücklich aufgehoben war: Sein privates Glück fand er im eigenen Häuschen am Stadtrand Berlins mit seiner Ehefrau Sandra. Von dort brachte ihn am Sonntag, den 19. Januar 2025, ein Herzinfarkt ins Krankenhaus, wo er nach zehn Tagen künstlicher Beatmung an einer Hirnblutung verstarb, die beim Versuch, sein Herz zurück zum autonomen Schlagen zu bewegen, aufgetreten war. Die Ärzte und Pfleger kämpften bis zuletzt in rührender Weise um sein Leben, wie seine Frau hinterher berichten konnte – ein schwacher Trost.
Aber ein wichtiger: Unerträglich wäre der Verdacht gewesen, dass Mediziner und Ärzteschaft seinen Tod fahrlässig begünstigt oder verschuldet hätten, pflegte er zu ihnen doch eine ambivalent-kritische Haltung. „Überbehandlung ist das Problem. Verletzung durch Medizin. Meidet die Hospitäler!“, schrieb er unter der Überschrift „Gegen das Vergessen“ in einer aphoristischen Corona-Revue im „Erreger“, einer zweiteiligen Corona-Zeitschrift, entstanden in seinem Berliner Bekannten- und Freundeskreis.
Grundsätzliches von Nebensächlichem unterscheiden
Überhaupt die Zwiespältigkeit der medizinischen Vernunft: Gegen die Preisgabe von Lebenslust aus wissenschaftlicher Vernünftelei hat sich der leidenschaftliche Raucher immer gewendet; die Glorifizierung der Gesundheit, die spätestens mit den Rauchverboten begann und in der Coronazeit zu einem gesellschaftlichen Kult eskalierte, kritisierte er als Ausdruck von Sinnesfeindschaft. „Es gibt Leute, die sich den ganzen Tag mit Ernährung beschäftigen und Kalorien zählen“, sagte er bei unserem letzten Treffen, um damit eine neurotische Mentalität der Gegenwart zu kritisieren, die sich ebenso leidenschaftlich Gedanken um allgegenwärtig lauernde Viren machen kann und eben deshalb so etwas Monströses wie Maskenpflichten im Alltag zu akzeptieren bereit ist. Gegen derlei unästhetischen Wahnsinn hielt er es mit der Polemik: „Die Maske ist der Aluhut der Zeugen Coronas.“
Wissenschaftlich-daherkommende Selbst-Neurotisierungen in Sachen Passivrauchen, Kalorienzählen oder Virus-Aerosolen sind der Unfähigkeit geschuldet, zwischen Grundsätzlichem und Nebensächlichem unterscheiden zu können, eine essenzielle Fähigkeit, ohne die man als politischer Mensch aufgeschmissen ist. Ich lernte ein solches Unterscheidungsvermögen erst von ihm; dass es nie nur um die reinen Fakten, sondern auch um ihre Gewichtung geht, womit mancherlei moralische Entrüstung, mag sie für sich auch berechtigt sein, an Durchschlagskraft verliert.
Seit 2018 standen wir persönlich im Austausch, da ich seinerzeit bei der Achse des Guten arbeitete. Vorher kannte ich ihn nur flüchtig. Kontakt hatte er aufgenommen, da es damals „presseethischen“ Ärger nach seinem Vortrag im linken Kulturzentrum Conne Island in Leipzig gab. Seither verband mich eine politische Zusammenarbeit mit Thomas, die in der Corona-Zeit sehr eng und freundschaftlich wurde. Unsere erste Text-Kollaboration erfüllte mich mit Stolz, da ich als junger Autor zu ihm aufsah.
Thomas strahlte die Aura einer intellektuellen Autorität aus, teilte sein Wissen aber großzügig; mit politischen Mitstreitern sprach er wie selbstverständlich auf Augenhöhe, wenn er auch wusste, ihnen intellektuell weit überlegen zu sein, kein Anführer, ein Verbündeter. Seine Redigate meiner Texte, deren Verbesserungen ich minutiös nachvollzog, zeugten von Liebe fürs sprachliche Detail und waren deshalb von unschätzbarem Wert für mich. Schließlich reift das Denken in der Entfaltung des sprachlichen Ausdruckvermögens, das seine Texte, die ich mit akribischer Lust las, von Anfang bis Ende durchzog und ihnen ihre außergewöhnliche Tiefe, Gültigkeit und Schärfe verlieh. Ihnen zum ersten Mal zu begegnen, war mir eine intellektuelle Offenbarung.
Zwei Runden um das Tempelhofer Feld
Mit dem Tod Thomas Mauls erleide ich den Verlust eines Menschen, ohne den ich nicht schreiben und denken könnte, was ich schreibe und denke. Als mich im März 2020 der Corona-Wahnsinn überrumpelte und als Journalist überforderte, mit der Folge, dass ich anfangs, peinlicherweise, sogar für Söders autoritäres Vorpreschen eintrat, irritierten mich seine scharfen Polemiken und Interventionen, denen ich zunächst überhaupt nicht zustimmen konnte. Weil sie von ihm kamen, dachte ich mir, muss ich sie aber ernst nehmen. Wir trafen uns auf dem Tempelhofer Feld in Berlin. Nachdem wir es zweimal umrundet hatten, war ich aufgeklärt, hatte das Wesentliche begriffen.
Thomas Maul zeichnete aus, sich von den Moralismen nicht beeindrucken und erpressen zu lassen, sondern nüchtern und sachlich zu bleiben, auch um den Preis, herzlos zu wirken. „Solange beim einkalkulierten Sterben“, schrieb er mutmaßlich unter Pseudonym am 5. April 2020, „eine ‚kritische Masse‘ nicht drastisch überschritten und das Wohl der Bevölkerung gleichzeitig nicht im Geringsten gefährdet wird, ist die Entscheidung, nicht wie in China auf eine massive Verletzung von Bürgerrechten, die es dort eh nicht gibt, zu bauen, um das Virus im Keim zu ersticken, zweifellos richtig … “.
Was oberflächlich gefühlskalt erschien, das erwies sich (spätestens) im Nachhinein als die wahre Humanität. Das Inkaufnehmen von Toten, ihre statistische Verrechnung, die ihm den geballten Hass von Leuten einbrachte, die etwa argumentierten, dass für den Schutz von Menschenleben so ein bisschen Maske-Tragen und Restaurant-Schließungen doch wohl jedem zuzumuten sei, war nicht etwa „menschenverachtend“, sondern die Voraussetzung für die Kritik an der Despotie, die sich im Anmarsch befand. Seine statistischen Einwände galten der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der damaligen Maßnahmen. Ein Staat, der diese Prüfung nicht mehr vornimmt, verabschiedet sich vom Verhältnismäßigkeitsprinzip und wird schlussendlich immens mehr Schaden anrichten, als in sentimentaler Propaganda behauptetes Gutes zu bewirken. Thomas Maul sah dies, wie kein anderer, geradezu visionär voraus, lange bevor es sich in den späteren Bilanzen beweisen konnte.
Wie war ihm das gelungen?
Der lebendige Geist
Ob jemand vom Denken der Aufklärung wirklich erfüllt und geleitet ist, offenbart sich in keinen Bekenntnissen oder Positionierungen (etwa gegen „Wissenschaftsfeindlichkeit“), sondern einzig und allein in seinem geistigen Zugang zur Welt. Den Leitspruch der Aufklärung, „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“, wirklich ernst zu nehmen, bedeutet, sich auch und gerade als Laie nicht blindlings den Experten und Autoritäten zu beugen, sondern sich aus eigener Verstandeskraft auf die Suche nach Wahrheit zu begeben. Thomas Mauls Aufklärungsarbeit zu Corona (auf Achgut etwa: hier, hier, hier, hier, hier) legt Zeugnis davon ab, wie groß die Erkenntnisreichweite eines jeden Menschen ist, der mit den Grundfähigkeiten des Denkens ausgestattet wurde, sie anzuwenden versteht und dadurch veredelt.
Eine seiner ihm wichtigsten Einsichten besteht darin, dass man nie Experte sein musste, um von Anfang an alles Entscheidende bei Corona zu begreifen: Hinter dem konformistischen Gerede über „Hobby-Virologen“ verbarg sich die zeitgemäße Unmündigkeit, als „das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“ (Kant). Was diese Worte bedeuten, verlangen und auf was sie praktisch und konsequent hinauslaufen, war mir im damaligen Philosophieseminar noch nicht zu begreifen. Ich erfuhr es erst an und durch Thomas Maul, der sich in den thematischen Gegenständen, über die er arbeitete, vollkommen versenkte und damit eine beeindruckende Urteilsfähigkeit ausbildete. Sie hinterlässt ein reichhaltiges, in zahlreichen Büchern, Essays und Artikeln verewigtes Erbe.
Die säkulare Wahrheit des Christentums besteht in der Lebendigkeit des Geistes, die auf die religiöse Formel „Wort des lebendigen Gottes“ hört. Im Wort bleibt der Geist lebendig, Christen wissen das, denkende Menschen auch. Thomas Mauls Geist, die Kraft und Klarheit seiner Gedanken, wird in den Worten jener, die ihn lesen und aus seinen Einsichten sprechen, lebendig bleiben und weitergetragen. Es sind derer nicht wenige.
Ruhe in Frieden. Thomas Maul, 6. August 1975 – 28. Januar 2025.
Felix Perrefort war Redakteur der Achse des Guten und ist heute bei NIUS tätig.
Die Redaktion hat in Erinnerung an Thomas Maul hier eine exemplarische Auswahl seiner Texte zusammengestellt:
„Akte Weinstein“ (1): Die Verdrängung der Prostitution
„Akte Weinstein“ (2): Bademantelphobie
„Akte Weinstein“ (3): Monster, Mäuse und Moneten
„Akte Weinstein“ (4): Prostitution als Tabu und Modell
Corona-Aufarbeitung: Was konnte man wissen? Alles.
„Grünes Schrumpfen“: Das gewollte Verarmungs-Programm