Sie sind jetzt beide Kanzlerkandidat-Kandidaten. Halb Deutschland stellt sich die Sommerfrage, ob Annalena Baerbock oder Robert Habeck 2021 wirklich Bundeskanzler(in) werden könnten? Laut Umfragen könnten sie – die Grünen sind derzeit stärkste Partei in Deutschland. Sie haben die implodierende SPD wie ein grünes Zewa-Wisch-und-Weg-Tuch aufgesogen und die Verhältnisse von 2016 einfach umgekehrt. Damals lagen die Sozialdemokraten zwischen 22 und 26 Prozent, die Grünen zwischen 10 und 13. Heute ist es genau umgekehrt.
Von der „Spiegel”-Redaktion aus Hamburg bis zum bayerischen Grünen-Fraktionschef Ludwig Hartmann erwarten nun viele die Berufung eines Kanzlerkandidaten. „Wenn es die Umfragen weiterhin hergeben, bin ich für eine klare Kanzlerkandidatur und gegen eine Doppelspitze bei der nächsten Bundestagswahl”, verkündet Hartmann und tritt damit die große Personaldebatte erst richtig los. Viele Medien berichten, das Magazin „Stern” bringt Habeck mit der Schlagzeile „Unser nächster Kanzler?” auf den Titel, die „Welt” schreibt einen Leitartikel mit dem Titel „Die nächste Kanzlerin heißt Annalena Baerbock”.
Eine erste Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey zeigt nun, dass Baerbock in der Kandidaturfrage gegen Habeck ziemlich chancenlos wäre. Unter 21.000 Umfrageteilnehmern sagen nur 12,3 Prozent, dass sie „eindeutig” oder „eher” für Baerbock wären. Dagegen halten 43,9 Prozent Habeck für den besseren Kanzlerkandidaten. Viele sind noch unentschieden.
Das Grundgesetz kennt keine Teamkanzlerschaft
Für Habeck spricht sein Charisma, seine rhetorische Kraft und die Tatsache, dass er zumindest als Minister auf Länderebene schon Regierungserfahrung aufzuweisen hat. Er wird als die reifere Persönlichkeit wahrgenommen, weniger, weil er ein Jahrzehnt älter ist als sie, sondern weil er ein professionelles Schriftsteller-Leben neben der Politik hat. Baerbock hingegen ist reine Berufspolitikerin.
Unter den grünen Spitzenpolitikern gibt es ohnedies kaum einen, der offen für Baerbock als Kanzlerkandidatin eintreten würde. Habeck hat nicht nur die Umfragen sondern auch die Parteifunktionäre weitgehend hinter sich.
Trotzdem wird es den Kanzlerkandidaten Habeck erst einmal nicht geben. Auch im Fall einer Neuwahl wollen die Grünen mit zwei Spitzenkandidaten antreten. Das sagte Habeck im ZDF-Morgenmagazin. Die Doppelspitze sei auch rückblickend das Erfolgsgeheimnis seiner Partei. „Ein neues Verständnis von Macht bedeutet, im Team zu sein.”
Das klingt erhaben, doch es ist nicht einmal die halbe Wahrheit. Denn das Grundgesetz kennt keine Teamkanzlerschaft. Und die Grünen haben – als sie im Bund mitregiert haben – auch keine Teamminister berufen.
Bitterstoffe im Smoothie
Die wahren Gründe für die Absage an eine Kanzlerkandidatur sind zwei andere Erwägungen: Zum einen würde Habeck im Moment der Kandidatur nicht mehr im milden Schein des politischen Erzählers bleiben können, sondern ins grelle Licht des schieren Machteroberers gestellt werden. Er würde schlagartig kritischer beäugt und hinterfragt werden – auch aus den eigenen Reihen. Ein Kanzlerkandidat wird an der Größe des angestrebten Amts gemessen, seine Biografie bis hin zu seiner Doktorarbeit würde durchleuchtet werden. Die politische Konkurrenz, insbesondere die SPD, ginge ihn ungleich härter an.
Der zweite Grund liegt darin, dass die Grünen eines ihrer derzeitigen Erfolgsgeheimnisse nicht aufgeben wollen: das Ungefähre. Ein wesentliches Element des Hypes besteht darin, dass sie eine diffuse Projektionsfläche für eine lässigere, moralisch bessere Welt sind. Wie einen süßen Smoothie gefühlter Weltverbesserer-Politik schlürft man ihre grünen Shakes. Im Moment einer Kanzlerkandidatur aber müsste die Politik konkret benannt werden. Und dann würden auch Bitterstoffe im Smoothie hochkommen. Von den gewaltigen Kosten für die grüne „Klimarettung” bis zu neuen Verboten, Steuererhöhungen und einer denkbaren neuen Zuwanderungswelle.
Kurzum: Die Absage an eine Kanzlerkandidatur erwächst aus der Sorge, wie weiland Martin Schulz zu enden, nämlich nach einem spektakulären Höhenflug brutal abzustürzen. Auch Martin Schulz war Anfang 2017 eine Projektionsfläche für Erneuerungssehnsüchte in Deutschland. Auch er hatte traumhaft hohe Umfragewerte. Als er aber laut über Rot-Rot-Grün im Saarland nachdachte, begann sein Schulz-Zug zu entgleisen. Die Grünen machen den gleichen Fehler derzeit in Bremen. Wieso also sollte sich Habeck in diesen Zug setzen?
Das Dilemma freilich ist: Wenn man die Personalfrage dauerhaft verweigert, gibt man zu erkennen, dass man selber nicht daran glaubt, einmal einen Kanzler zu stellen. Etwas Mögliches zu definieren, ist ein Risiko. Etwas Mögliches nicht zu definieren, ist schon eine Niederlage. Wenn man die grüne Kanzleroption ernst nehmen soll, will man schon wissen, auf wen man sich wirklich einlassen würde. Wer Trump, Putin und Erdogan wirklich die Stirn böte. Traut man sich nicht, einen Kanzlerkandidaten zu benennen, wird einem das Kanzleramt irgendwann auch nicht zugetraut.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf The European.