In seiner Rede zur Lage der Nation versprühte Joe Biden gestern ein bisschen "Make America Great again", ein bisschen Klimarettung, ein bisschen staatliche Wohltaten, warb mal um die Facharbeiter, mal um die Kulturkämpfer und widersprach sich dabei prächtig.
Wenn Sie nicht zu in Deutschland nachtschlafender Zeit die gestrige Rede des amerikanischen Präsidenten Joe Biden zur Lage der Nation verfolgt haben: Sparen Sie sich die Zeit. Während Biden letztes Jahr alten Wein in neuen Schläuchen als seinen großen Wurf verkaufte, war die diesjährige Rede eigentlich vollkommen inhaltsleer. Interessant an ihr war eigentlich nur die Entwicklung des thematischen Bogens von der populistischen Mitte nach links: Biden fing an mit Protektionismus und der Wiederherstellung des Stolzes der amerikanischen Facharbeiter, was soweit Bidens Vorgänger Donald Trump ebenso gut hätte unterschreiben können. Weiter ging es mit Umverteilung und Preiskontrollen, unplausibel verbunden mit dem Versprechen, dass auch Amerikaner, die locker im obersten Perzentil verdienen, nicht mehr Steuern dafür zahlen müssten. Dann arbeitete er lust- und wohl auch überzeugungslos die Pflichtthemen ab, die er für die Linke seiner Partei erwähnen musste, und schloss mit der Anrufung von Gottes Segen für die Truppen. Das war es. Ich konnte es kaum glauben, dass knapp anderthalb Stunden vergangen waren, als Biden schloss, ohne etwas Nennenswertes gesagt zu haben. Ich möchte aber trotzdem die Rede noch etwas im Kontext einordnen und einige Punkte im Detail herausgreifen.
Auch wenn Präsident Biden seine zweite Rede zur Lage der Nation theoretisch in Erfüllung der verfassungsmäßigen Pflicht, den Kongress von Zeit zu Zeit über diese Lage zu informieren, gehalten hat, so war sie doch ein Schaulaufen für die erwartete Ankündigung seiner Kandidatur für eine zweite Amtszeit. Diese Kandidatur steht in mancherlei Hinsicht nicht unter einem besonders guten Stern. Schon alleine Joe Bidens Alter, bereits heute achtzig Jahre alt, weckt Zweifel. Das Anwaltsteam seines Sohnes Hunter hat die Echtheit des Skandallaptops mit zahllosen Dokumenten zu Ausschweifungen und anrüchigen Geschäften des Sohnes und dem Anschein nach auch des Vaters mehr oder weniger zugegeben. Die Inflation hat Werte wie in den Siebzigerjahren erreicht, die Zustimmungswerte in Umfragen sind im Keller, die unglücklichen Umstände des Abzugs aus Afghanistan sind in Erinnerung als schlechtes Omen für einen Präsidenten, dem das Glück nicht hold ist. Es ist schon etwas schleierhaft, warum sich jemand das antun will, bis er sechsundachtzig ist.
Immerhin, den formalen Teil hat Präsident Biden ganz gut gemeistert. Er hatte trotz seiner schon in jüngeren Jahren berüchtigten Neigung zu Verhasplern nicht viele davon, improvisierte ohne Katastrophen auf Zurufe hin, gab sich jovial, auch wenn seine Angewohnheit, die versammelten höchsten Repräsentanten des Staates andauernd mit „Leute!“ („folks“) anzureden, immer noch etwas seltsam wirkt. Es war nicht mitreißend, aber solide genug.
Zwischen Facharbeitern und Kulturkämpfern
Mit dem Beweis der Fähigkeit, die Rede zu halten, blieb aber immer noch das Problem der politischen Positionierung weniger seiner derzeitigen Regierung als seiner Kandidatur für eine weitere Amtszeit. In vielerlei Hinsicht ist Biden gar nicht so weit weg von seinem Amtsvorgänger, sozial im Grunde recht konservativ, gemäßigt protektionistisch, auf der Suche nach dem jedenfalls in der Erinnerung solideren Amerika seiner jüngeren Jahre, wenn auch mit sozialdemokratischerem Einschlag als Donald Trump. Gleichzeitig hat er das Problem, dass seine Partei die Zielgruppe, bei der das am besten ankommt, die Facharbeiter, regelmäßig offen verachtet und dann kampflos Trump überlassen hat, während sie sich radikalen Kulturkämpfen um Spaltungsthemen wie Rasse und Geschlechtsidentitäten verschrieben hat, die Biden schon generationenbedingt nicht überzeugend bedienen kann.
Die Republikaner haben ein ähnliches Problem mit umgekehrten Vorzeichen und eine weit offene Kandidatenfrage, so dass Biden die Rede, die in gewisser Weise sein Einstieg in den Wahlkampf werden sollte, nicht auf einen Gegner oder auch nur eine wahrscheinliche Richtung eines Gegners abstimmen konnte. Weiterhin herrscht auch erhebliche Unsicherheit bezüglich der wirtschaftlichen Entwicklung bis zum Wahltag in knapp zwei Jahren. Einerseits ist die Arbeitslosigkeit derzeit extrem niedrig, andererseits die Furcht vor einer Rezession im Gefolge inflationsbedingter Zinserhöhungen erheblich. Von daher ist Biden gut beraten, offenzulassen, inwieweit er die wirtschaftliche Entwicklung bis zum Wahltag seiner Amtsführung zugerechnet wissen will.
Präsident Biden bediente die Unklarheit seiner wahlstrategischen Position mit einer Rede, der jeder große Wurf, den man eigentlich bei dieser Gelegenheit jedenfalls als Ankündigung gerne unterbringt, abging, und die über die lange Redezeit eine Entwicklung von Quasi-Trumpismus zu Umverteilung ohne Belastung der Besserverdiener zur Bestätigung kulturkämpferischer Themen nahm.
Inhalt mit MAGA-Mütze
Zu Anfang betonte Biden die Vielzahl der Gesetze, die mit der Unterstützung von Abgeordneten beider Parteien zustande gekommen waren. Amerika sei das einzige Land, das nach jeder Krise stärker geworden sei als zuvor, und so sei es auch mit Covid. Zwölf Millionen neue Arbeitsplätze seien in seiner Amtszeit entstanden – wenn auch, was er natürlich nicht erwähnte, die meisten davon netto lediglich während der Lockdowns vernichtete Arbeitsplätze sind.
Amerika sei aber zurückgefallen. Arbeitsplätze insbesondere in den verarbeitenden Industrien seien jahrzehntelang ins Ausland abgewandert, die Infrastruktur sei zurückgefallen. Die mittleren und kleinen Städte, die auf ihre Fabriken angewiesen waren, seien in Tristesse verfallen, und damit hätten auch die Facharbeiter etwas verloren, das noch wichtiger sei als der Gehaltsscheck: Ihren Stolz und ihr Selbstwertgefühl.
Biden versprach nun, wie auch schon in seiner Rede vor einem Jahr, die Arbeitsplätze für Facharbeiter und damit auch den Stolz und das Selbstwertgefühl zurückzuholen. Das überparteiliche Infrastrukturgesetz sei das größte Infrastrukturvorhaben seit Eisenhower, und alle, wirklich alle Materialen würden in Amerika hergestellt, vom Holz und Beton bis zu den Glasfaserkabeln. Die Halbleiterindustrie würde mittels eines überparteilichen Gesetzes nach Amerika zurückgeholt, und so entstünden nicht nur in den Metropolen an den Küsten, sondern in der Mitte Amerikas „Felder der Träume“ mit Halbleiterfabriken auf der grünen Wiese, mit vielen sechsstellig bezahlten Arbeitsplätzen, von denen viele auch für Arbeiter ohne Studienabschluss zugänglich seien. Biden verstehe die Sorgen normaler Amerikaner und sorge dafür, dass sie nicht mehr als unsichtbar behandelt würden, dass ihnen wieder Chancen offenständen, so wie früher.
Auch wenn der Stil des Vortrags etwas anders war als bei Donald Trump, inhaltlich gesehen hätte sich Joe Biden für diesen ersten Teil seines Vortrags eine MAGA-Mütze anziehen können: Gutbezahlte Arbeitsplätze, amerikanischer Stolz und Selbstwertgefühl durch Protektionismus.
Klimaschutz und mehr Öl pumpen
Der zweite Teil von Bidens Rede drehte sich um Umverteilung durch Preiskontrollen und Steuern, ohne allerdings die Steuern für die ganz überwiegende Mehrzahl der Amerikaner zu erhöhen.
Schon der Name des Gesetzes, mit dem Biden das erreichen will, erklärt die intendierte Methode: Das Inflationsreduktionsgesetz. Die Preise würden billiger, weil der Staat sie deckelt. So geschehen für Insulin für Amerikaner in der gesetzlichen Krankenversicherung für Rentner, so soll es mit allen Medikamenten für diese Versichertengruppe geschehen, und wenn die Preise trotzdem weiter stiegen, dann wolle man sich das von der Pharmaindustrie zurückholen, die unverschämte Profite mache.
Bei der Energieversorgung bediente Biden ähnliche Ressentiments, aber die logischen Schwierigkeiten des wirtschaftlichen Modells wurden offensichtlicher und auch mit Zwischenrufen quittiert. Einerseits wolle Biden aggressiv die „Klimakrise“ behandeln, die „eine existentielle Krise“ sei, aber doch wieder mit Wohlfühlsubventionen beantwortet werden soll, beispielsweise für Elektroautos und Ladestationen. Gleichzeitig kritisierte er aber die Ölindustrie dafür, trotz Rekordgewinnen die einheimische Ölproduktion nicht aggressiv genug auszubauen, wodurch sich die Benzinpreise senken ließen. Das sei „empörend.“
In einem im offiziellen Redetext nicht enthaltenen Zusatz erwähnte Biden dann noch, dass die Ölindustrie sich darüber beschwere, wegen der Klimagesetzgebung keine Zukunftssicherheit zu haben, wo man doch fossile Brennstoffe „für mindestens ein weiteres Jahrzehnt“ brauche. Nach dem Lachanfall der republikanischen Seite ergänzte er noch: „Und darüber hinaus. Wir werden es brauchen.“ Durch erhöhte Steuern auf Gewinnausschüttungen sollten die Ölfirmen motiviert werden, mehr in die Zukunft, also in die Förderung und Verarbeitung von Öl, zu investieren.
Gleichzeitig eine existentielle Klimakrise zu konstatieren und mit „der bedeutungsvollsten Investition aller Zeiten, um die Klimakrise zu bewältigen“ zu beantworten und den Ölfirmen vorzuwerfen, zu wenig Öl zu produzieren und zu raffinieren, und sie deswegen staatsdirigistisch anhalten zu wollen, mehr zu fördern, das lässt sich nicht in Einklang mit irgendeiner Position, welcher auch immer, zur Gefährlichkeit von Kohlendioxidemissionen bringen. Darin gerade liegt aber die Essenz des zweiten Teils von Bidens Rede: Der Staat schüttet ein Füllhorn von Wohltaten in Form von Subventionen und Preiskontrollen aus, und wenn alles subventioniert ist, dann ist es billiger, womit sich die Inflation erledigt.
Nicht einen Penny mehr an Steuern
Da stellt sich natürlich die Frage, wer das alles bezahlen soll. Die Antwort ist einfach: Die sehr Reichen und die Großunternehmen, letztere sowohl durch Preiskontrollen wie durch Steuererhöhungen. Auch Gutverdiener würden nicht belastet, wie der Präsident mehrfach betonte: „Unter meinem Plan wird niemand, der weniger als 400.000 Dollar im Jahr verdient, einen zusätzlichen Penny an Steuern zahlen. Niemand. Nicht einen Penny.“ Die Unternehmen und die Superreichen würden weiter sehr gute Gewinne machen. Das wird wirtschaftlich eng, ist aber die Essenz des Biden’schen Linkspopulismus: Wohltaten für alle, Rechnungen nur für Superreiche und abstrakt gedachte Unternehmen. Dabei betonte Biden, er sei „Kapitalist“, es sollen lediglich alle ihren „gerechten Teil“ bezahlen, womit dann genug Geld für all seine Wohltaten da sei.
Biden versuchte sich auch mit dem Vorwurf, Teile der Republikaner würden die gesetzliche Rentenversicherung und die gesetzliche Krankenversicherung für Rentner abschaffen wollen, was so nicht einmal eine Randposition ist, konstatierte aber nach den Protesten der Abgeordneten, dass über dieses Thema offenbar Einigkeit bestehe.
Psychologen und „Sturmwaffen“
Im dritten Teil der Rede kam Biden schließlich auf die Themen der linken Kulturkämpfer seiner Partei zu sprechen.
Biden hatte die Eltern von Tyre Nichols eingeladen, der vor einem Monat an Verletzungen verstarb, die ihm von Polizisten in Memphis zugefügt wurden. Er brachte das indirekt mit Rassismus in Verbindung, damit, wie schwarze Eltern ihre Kinder vor der Polizei warnen müssten. Der Fall um Nichols ist noch nicht aufgeklärt, aber Rassismus ist für diesen Vorgang eine schlechte Erklärung, denn die beteiligten Beamten waren ebenso schwarz wie Nichols. Biden schloss daraus aber im Gegensatz zu radikalen Linken nicht, dass die Polizei abgeschafft werden solle, sondern er will sie – sein Universalrezept – finanziell besser ausstatten, besser ausbilden, ihnen weniger oft zumuten, Sozialarbeiter und Psychologen sein zu müssen, mehr Leute für diese Funktionen einstellen. Freilich sind Polizeiaufgaben in der Hauptsache nicht die Zuständigkeit des Bundes.
„Sturmwaffen,“ ein Kampfbegriff, der die beliebtesten Gewehre und bisweilen auch die meisten Pistolen meint, will Biden „jetzt und für immer verbieten.“ Auf den Umstand, dass sich das mit der Bruen-Entscheidung des Obersten Gerichtshofs letztes Jahr auf absehbare Zeit erledigt haben dürfte, ging er gar nicht ein, auch nicht mit einer Kampfansage an den Gerichtshof, interessierte sich vermutlich gar nicht für die Umsetzbarkeit oder Legalität seines Vorschlags.
Der Kongress solle das Recht auf Abtreibung sichern, nachdem der Oberste Gerichtshof letztes Jahr die Roe v. Wade-Entscheidung, die ein solches Recht in die Verfassung gelesen hatte, revidierte. Wenn der Kongress Abtreibung verbieten wolle, dann würde Biden sein Veto einlegen. Beides ist allerdings rein theoretisch, nicht nur weil sich für keinen der beiden Vorschläge Mehrheiten finden würden, sondern weil es sich um eine Sache in der Zuständigkeit der Bundesstaaten handelt. Das Thema musste eben abgehakt werden, so wie danach auch die Forderung nach einem Gesetz zum Schutz von LGBTQ-Personen.
Grenzschutz und die „Große Lüge“
Bei der Frage der Einwanderung war Biden dann gar nicht kulturkämpferisch. Wohl wolle er eine Reform der legalen Einwanderung und insbesondere einen Pfad zur Staatsbürgerschaft für als Kinder nach Amerika verbrachte illegale Einwanderer, aber: „Wenn Sie keine umfassende Einwanderungsreform beschließen, dann stimmen Sie wenigstens meinem Plan zu, um Ausrüstung und Beamte zu beschaffen, um die Grenze zu schützen.“ Die illegale Einwanderung aus Kuba, Haiti, Nicaragua und Venezuela habe Biden um 97 Prozent reduziert, wohl eine optimistische Zahl, aber keine, mit der man sich bei linken Grenzabschaffern beliebt macht, dafür zum Thema der Forderung nach mehr Ausgaben für alles passend.
Danach kam noch, auch alles sehr unspezifisch, die Stärke der westlichen Demokratien, die Solidarität mit der Ukraine, der Kampf gegen die Drogen und den Krebs, der Kampf gegen Veteranensuizide und Gesundheitsschäden durch die Verbrennung von Müll bei Militäreinsätzen, der angebliche Putschversuch am Dreikönigstag 2021 im Zeichen der „Großen Lüge“ Donald Trumps.
Geschlossen hat Biden dann mit der Feststellung, dass die Lage der Nation stark sei, er nie optimistischer gewesen sei, die Amerikaner sich nur daran erinnern müssten, wer sie seien, und dass „nichts, nichts“ unmöglich sei, wenn die Amerikaner es zusammen tun, gefolgt von der Anrufung von Gottes Segen für alle Zuhörer und die Truppe.
Im Bogenschlag zwischen protektionistischen Ideen zur Wiederherstellung des Stolzes der Facharbeiter, die auch Trump hätte vortragen können, massiven und prinzipienlosen Staatsausgaben für alles, ohne jemandem mit Steuern wehzutun, und etwas pflichtschuldiger Anbiederung an die radikale Linke seiner Partei blieb Biden eine klare politische Position, gar eine Vision, ebenso schuldig wie eine Ankündigung, die man nicht vorher schon öfter gehört hätte. Bei seiner letzten Wahl konnte er diese Unklarheiten, auch den Graben zwischen seinen eher moderaten oder gar konservativen gesellschaftlichen Vorstellungen und den linken Kräften seiner eigenen Partei, mit nur einer einfachen Qualität übertünchen: Joe Biden ist nicht Donald Trump. Das könnte bei der nächsten Wahl reichen, wenn Trump sich die Nominierung der Republikaner sichern oder als Drittkandidat die Stimmen der Republikaner spalten würde. Ansonsten könnte es eng werden, insbesondere wenn sich die Wirtschaft bis dahin nicht gut entwickeln und die Inflation in eine Rezession übergehen sollte.
Oliver M. Haynold wuchs im Schwarzwald auf und lebt in Evanston, Illinois. Er studierte Geschichte und Chemie an der University of Pennsylvania und wurde an der Northwestern University mit einer Dissertation über die Verfassungstradition Württembergs promoviert. Er arbeitet seither als Unternehmensberater, in der Finanzbranche und als freier Erfinder.