Die ukrainische Armee ist erstmals mit einem größeren Verband auf russisches Territorium vorgedrungen. Welche Hintergründe hat dieser Angriff, und welche Auswirkungen könnte er auf den weiteren Kriegsverlauf haben?
Die alte Weisheit, dass Hochmut vor dem Fall kommt, trifft nun auch auf Wladimir Putin zu. Am 16. September 2022 kommentierte der russische Präsident während einer Pressekonferenz spöttisch die Erfolgsaussichten einer möglichen ukrainischen Gegenoffensive: „Wollen wir doch einmal sehen, womit sie endet!“
Seit der vergangenen Woche gibt es nun eine Antwort auf diese Frage. Sie zeigt sich in einem unerwarteten Szenario, für das der russische Generalstab weder vorbereitet war noch Anweisungen hatte. Mit über tausend Soldaten und zahlreichen gepanzerten Fahrzeugen ist eine Einheit des ukrainischen Heeres in Russland einmarschiert und erzielte innerhalb von zwei Tagen erhebliche Geländegewinne.
Die Operation begann unspektakulär. In der Nacht zum Dienstag wurde die Oblast Kursk zunächst von Drohnen angegriffen. Der amtierende Gouverneur Alexej Smirnow berichtete, dass 26 Drohnen abgeschossen wurden. Gleichzeitig geriet die Stadt Sudscha, die nur 10 Kilometer von der russisch-ukrainischen Grenze entfernt liegt, unter Beschuss. Am Morgen folgten schließlich Berichte über den Durchbruch bewaffneter Einheiten aus mehreren Richtungen und über Kämpfe in der Grenzzone.
Bereits 2023 gab es Angriffe auf russisches Gebiet, doch die jüngste Attacke ist bemerkenswert anders. Im Gegensatz zu früheren Vorfällen, bei denen Mitglieder des „Russischen Freiwilligenkorps“ und der Legion „Freies Russland“ beteiligt waren, wurden nun reguläre Soldaten der ukrainischen Armee eingesetzt. Dies markiert das erste Mal, dass Kiew eine militärische Operation auf russischem Boden durchführt.
Zudem war die Zahl der beteiligten Soldaten und Panzereinheiten größer, und die Koordination der Kräfte war deutlich verbessert. Die russischen Verteidiger wirkten angesichts des aus mehreren Richtungen koordinierten Angriffs hilflos und desorientiert. Die Behauptung des Gouverneurs der Oblast Kursk, dass Kämpfer des Grenzdienstes des FSB und der Streitkräfte der Russischen Föderation einen Durchbruch an der Grenze verhindert hätten, erschien wenig überzeugend.
Bedrohung für Kernkraftwerk Kursk?
Schnell wurde deutlich, dass die Ukrainer auf die Stadt Sudscha vorrückten. Am Mittwochmorgen meldeten russische Stellen, dass die Kämpfe andauerten. Die Anzahl der Eindringlinge wurde auf zwei Bataillone geschätzt, woraufhin massiver Artillerieeinsatz folgte. Dennoch konnte der Vorstoß nicht gestoppt werden. Später meldete das russische Verteidigungsministerium lediglich, dass die Operation zur Zerstörung der ukrainischen Formationen fortgesetzt werde.
Wenig später begann der Beschuss von Sudscha. Die örtliche Verwaltung berichtete von 11 Verletzten. Im Laufe des Tages stieg die Zahl der Betroffenen, am Morgen gaben die Behörden 28 Verwundete an. Laut den Aussagen des Gouverneurs kamen bei dem Angriff fünf Personen ums Leben. Am Dienstag sprach Smirnow von drei Toten, in der Nacht zum Mittwoch von einem getöteten Krankenwagenfahrer und einem Sanitäter.
In der Nacht zum Mittwoch wurde die Stadt erneut beschossen, wie ihr Bürgermeister Witalij Slastschew gegenüber „RIA Nowosti“ berichtete. Es gab zudem auch Berichte über Explosionen in der Stadt Kurchatow, wo sich das Kernkraftwerk Kursk befindet. Dort sollen Luftabwehrsysteme im Einsatz gewesen sein. Das russische Verteidigungsministerium kommentierte die Situation am Dienstag folgendermaßen:
„Heute ab 8.00 Uhr Moskauer Zeit griff der Feind nach Feuerunterstützung mit bis zu dreihundert Kämpfern der 22. mechanisierten Brigade der ukrainischen Streitkräfte, unterstützt von 11 Panzern und mehr als 20 gepanzerten Kampffahrzeugen, die Stellungen der Einheiten zur Sicherung der Staatsgrenze der Russischen Föderation in den Gebieten der Ortschaften Nikolajewo-Darino und Oleschnja in der Oblast Kursk an, die direkt an die russisch-ukrainische Grenze grenzen.“
Gelöschte Meldung
Am Dienstagnachmittag erklärte das russische Verteidigungsministerium, dass Reserven in das Gefechtsgebiet entsandt worden seien und Armeeluftfahrt eingesetzt wurde. Dabei seien 16 Einheiten ukrainischer gepanzerter Fahrzeuge zerstört worden, darunter sechs Panzer, zwei BMPs, vier BTRs, drei gepanzerte Kampffahrzeuge vom Typ „Kosak“ und ein Pionierfahrzeug zur Beseitigung von Hindernissen. Zur gleichen Zeit tauchte ein Video aus dem Bezirk Sudscha auf, das Kampfflugzeuge im Einsatz zeigte.
Am Dienstagabend gab das Verteidigungsministerium eine neue Erklärung ab: Angeblich habe die ukrainische Diversions- und Aufklärungsgruppe, die in die Oblast Kursk eingedrungen war, Verluste erlitten und sich auf ihr Territorium zurückgezogen. Diese Meldung wurde jedoch bald gelöscht und durch eine neue ersetzt: „Der Feind befindet sich immer noch auf dem Gebiet der Oblast Kursk!“
In ukrainischen sozialen Netzwerken wurde ein Foto von zerstörten Schleppfahrzeugen mit zwei T-62-Panzern veröffentlicht. Zudem erschienen Videos, die angeblich sechs gefangene russische Soldaten in der Oblast Kursk zeigen. Es wird behauptet, dass mindestens zwei von ihnen Wehrpflichtige und einer ein Berufssoldat seien. Russland soll außerdem einen Ka-52 Kampfhubschrauber verloren haben.
Der bekannte russische Blogger Jurij Podolijaka beschreibt die Situation im Kampfgebiet auf russischem Territorium als „Kursker Front“. Er berichtet, dass es dem Feind am Abend gelungen sei, nach dem Einsatz der zweiten Staffel im Bereich der Ortschaft Swerdlikowo einzudringen. Für Mittwochmorgen erwartete Podolijaka einen stärkeren Angriff als am Dienstag:
„Die gefährlichste Lage besteht derzeit im Gebiet nördlich von Sudscha. Die ukrainischen Streitkräfte sammeln ihre Kräfte und werden wahrscheinlich morgen versuchen, die Stadt einzunehmen. Die Kämpfe werden heftig sein. Selbst wenn es dem Feind nicht gelingt, durchzubrechen, was momentan niemand garantieren kann, wird es Artilleriebeschuss und Drohnenangriffe geben – und zwar in großem Umfang.“
Podolijaka berichtet weiter, dass die Ukraine noch einige weitere Ortschaften unter ihre Kontrolle bringen konnte. „Die gesamte Vorwärtsbewegung in etwas mehr als einem Tag beträgt etwa 15 km. Dabei führt der Feind immer wieder neue Bataillone in den Durchbruch. Die 22. mechanisierte Brigade der ukrainischen Streitkräfte ist bereits vollständig auf unser Territorium vorgedrungen.“
Es gibt keine offiziellen Informationen darüber, was derzeit im Bezirk Sudscha geschieht. Doch am Wochenende warnte der amtierende Gouverneur erneut vor der Raketenbedrohung in der Oblast Kursk und rief die Bürger zur Blutspende auf – „wegen der Situation in den Grenzgebieten“.
Unlängst hat das russische Verteidigungsministerium eine Erklärung zur Lage in der Oblast Kursk abgegeben. Das Ministerium behauptet, dass russische Soldaten in der vergangenen Nacht zusammen mit Grenztruppen „weiterhin die bewaffneten Formationen der ukrainischen Streitkräfte in den an die russisch-ukrainische Grenze angrenzenden Gebieten der Oblast Kursk zerstört haben“.
Ukrainische Panzer in russischer Stadt
Das Verteidigungsministerium betont außerdem, dass es keinen Vormarsch der ukrainischen Streitkräfte ins russische Landesinnere gegeben habe und dass Luft-, Raketen- und Artillerieangriffe durchgeführt worden seien. „Es wurden Angriffe auf ihre [des Gegners] Reserven in den Gebieten Basowka, Schurawka, Junakowka, Belowody, Kijaniza, Kortschaowka, Nowaja Sitsch, Pawlowka und Gorodischtsche in der Oblast Sumy durchgeführt“, heißt es in der Erklärung.
Laut der russischen Armee verloren die ukrainischen Streitkräfte in der Oblast Kursk 50 gepanzerte Fahrzeuge, darunter sieben Panzer, acht Mannschaftstransporter, drei Schützenpanzer, zwei Abschusseinheiten des Flugabwehrraketensystems „Buk M1“ und andere. Das Ministerium behauptet zudem, dass die Angreifer innerhalb von 24 Stunden erhebliche Verluste an Personal erlitten hätten. „Die Operation zur Zerstörung der ukrainischen Formationen geht weiter“, heißt es.
Mittlerweile ist klar, dass Kiews Truppen die Stadt Sudscha eingenommen haben. Videos aus dem Stadtzentrum zeigen eine Panzerkolonne mit ukrainischen Flaggen, was die örtliche Bevölkerung schockiert hat. Viele in Russland hätten es nicht für möglich gehalten, dass die Ukraine in diesem Krieg eine russische Stadt erobern könnte.
Um die Bedeutung dieses Angriffs zu verstehen, ist es hilfreich, ihn auf drei Ebenen zu betrachten. Auf taktischer Ebene lässt sich feststellen, dass der Vorstoß Russland völlig unvorbereitet getroffen hat. In der betreffenden Region gab es keine Verteidigungskräfte, die zum Grenzschutz abgestellt waren, was den Ukrainern ein ungehindertes Vordringen ins Hinterland ermöglichte. Die Behauptung, die Angreifer seien kurz hinter der Grenze abgewehrt worden, ist demnach falsch.
Weniger militärische, mehr politische Bedeutung
Dass niemand im Generalstab die Verteidigung der Grenzregionen bedacht hat, ist kein Zufall. Russische Truppen rücken derzeit auf breiter Front in der Ukraine vor, insbesondere im Donbas, wo die Ukrainer schwere Rückzugsgefechte führen. Insofern ist der Durchbruch ein effektives Mittel, um die Russen zur Verlegung von Truppen zu zwingen.
Unter strategischen Gesichtspunkten kann die Bedeutung des Angriffs für den Kriegsverlauf als marginal angesehen werden. Zwar gelang es den Angreifern, eine von Gazprom betriebene Pipeline unter ihre Kontrolle zu bringen, jedoch ist es fraglich, ob die Ukraine diese Anlage zerstören wird. Die Pipeline verläuft durch die Ukraine weiter in die Slowakei und nach Österreich und hat 2023 insgesamt 14,6 Milliarden Kubikmeter Erdgas in die EU transportiert.
Auch das Abschneiden der Hauptverkehrsstraßen im Bezirk von Sudscha dürfte nur ein vorübergehender Zustand sein. Um die erzielten Geländegewinne zu sichern, müsste Kiew Verstärkung in die Region verlegen. Aktuell stehen noch 10 Brigaden in Reserve, die allerdings noch keine westliche Bewaffnung erhalten haben. Angesichts der bedrohlichen Lage in der Ostukraine ist es wahrscheinlich, dass diese Truppen dort an den Brennpunkten eingesetzt werden.
Die größte Bedeutung des Angriffs lässt sich daher auf politischer Ebene zuschreiben. Dass die Ukraine eine russische Stadt eingenommen hat, ist eine Blamage für Wladimir Putin und den russischen Generalstab. Der Vorfall zeigt, wie schlecht die Verteidigung in den Grenzgebieten organisiert ist und dass größere Verbände nahezu ungehindert ins Hinterland vordringen können – ähnlich wie es die Gruppe Wagner im Juni 2023 getan hatte.
Der Druck auf den Generalstab wächst
Vor zwei Jahren fragte Wladimir Putin, worin das Ergebnis einer ukrainischen Offensive bestehen werde. Heute steht fest, dass unter seiner Führung zum ersten Mal in der Geschichte der Russischen Föderation eine feindliche Armee in ihr Territorium vorgedrungen ist und eine Stadt eingenommen hat. Auch wenn unklar ist, wann es Russland gelingen wird, diesen Zustand zu bereinigen, ist absehbar, dass der Kreml den Generalstab zur Verantwortung ziehen wird.
Als Walerij Gerasimow vor einigen Tagen bei einer Lagebesprechung Putin über die aktuelle Situation in der Oblast Kursk berichtete, wurde deutlich, dass der russische Präsident ihn persönlich für die Lage verantwortlich macht. Der Druck auf den Generalstab ist auch deshalb hoch, weil der Kommandeur der tschetschenischen Sondereinheit „Achmad“ den Verantwortlichen vorwirft, Moskau über die Sicherheitsarchitektur in der Grenzregion belogen zu haben.
Die aktuelle Lage stellt auch für Putin eine erhebliche Herausforderung dar. Wenn es ihm nicht gelingt, die Situation in der Oblast Kursk zu stabilisieren, könnte sein Ansehen als starker Führer dauerhaft beschädigt werden. Dies trifft ebenso auf das Verteidigungsministerium zu, das nach internen Umstrukturierungen als erneuert galt. Daher ist zu erwarten, dass Moskau in den kommenden Tagen alle verfügbaren Mittel einsetzen wird, um die ukrainische Armee zu vertreiben.
Sollten sich die Angreifer jedoch in Sudscha festsetzen, müsste die russische Armee möglicherweise eine eigene Stadt unter Beschuss nehmen. In diesem Fall würde der Krieg eine neue Dimension erreichen. Russland wäre erstmals seit dem zweiten Weltkrieg ein Schauplatz von Bodengefechten.
Was auch immer der Kreml nun unternimmt, er muss schnell handeln. Ansonsten könnte es sein, dass sich die Ukrainer dauerhaft auf russischem Territorium festsetzen.
Dr. Christian Osthold ist Historiker mit dem Schwerpunkt auf der Geschichte Russlands. Seine Monographie über den russisch-tschetschenischen Konflikt ist in der Cambridge University Press rezensiert worden. Seit 2015 ist Osthold vielfach in den Medien aufgetreten.