Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, dass seit einigen Tagen in vielen Medien die Landesbezeichnung „Weißrussland“ fast vollständig durch „Belarus“ ersetzt wurde. Die täglichen Berichte über die „Wahl“ dort schoben das Land ja wieder mal stärker in den Fokus der Berichterstattung, und mir war die Veränderung in der üblichen und gewohnten Bezeichnung zwar aufgefallen, aber schon nach kurzer Zeit hatte ich das wieder vergessen.
Doch gestern Morgen (14. August, 9:11 Uhr) gab Peer Krumrey, der Repräsentant der Friedrich-Ebert-Stiftung in den Baltischen Staaten, dem Deutschlandfunk ein Interview. Er verwendete den Begriff „Weißrussland“, entschuldigte sich aber sofort dafür, korrigierte sich selbst („ich meine Belarus“) und verlor kurz den Faden. So in etwa stelle ich mir die Reaktion eines Nordkoreaners vor, der versehentlich auf das Abbild des „Geliebten Führers“ in einer Zeitung am Boden tritt. Zugegeben: der Vergleich hinkt. Aber in dem Moment war mir klar, dass auf „Weißrussland“ irgendein Sprachtabu liegen musste, von dem ich mal wieder nichts mitbekommen hatte.
Niemand verwendet den Begriff Weißrussland mehr, zumindest nicht absichtlich und im öffentlich-rechtlichen Strammfunk. Die Änderung ist offenbar so gründlich erfolgt, dass Menschen sich schuldig fühlen, wenn ihnen der „alte“ Begriff herausrutscht – nur das Gefühl von Schuld rechtfertigt schließlich eine Entschuldigung, um die noch nicht mal jemand gebeten hatte. Am 11.8. schob das ZDF eine Erklärung nach, die schon im Titel Verwirrung stiftete: „Warum Weißrussland plötzlich Belarus heißt“. Der Name des Landes hat sich nämlich überhaupt nicht geändert. Der lautet wie immer Belarus, genauer Беларусь, nur die deutsche Übersetzung „Weißrussland“, die sei falsch, meint das ZDF!
„Dabei ist „Belarus” nicht die genaue Übersetzung von „Weißrussland”, wie es auf den ersten Blick scheinen mag: „Bela” heißt zwar übersetzt weiß, doch „Rus” steht für ein mittelalterliches Gebiet in Osteuropa, Vorläufer der Staaten Belarus, Ukraine und Russlands – „Rus” ist eben nicht gleichbedeutend mit Russland.“
Die Argumentation des ZDF könnte man aber genauso gegen die Bezeichnung „Belarus“ ins Feld führen. Putins Ambitionen und klebrichte Einflussnahme auf die Regierung in Minsk wurde nämlich nicht durch die möglicherweise falsch verstandene Zuordnung „Weißrussland“ in der deutschen Übersetzung provoziert. Vielmehr dient ihm der Wortstamm „Rus“, diese nur ungefähr lokalisierbare mythische „Urmutter“ der heutigen Staaten Ukraine, Russland und Weißrussland als Rechtfertigung. Seine Bestrebungen, die territorialen Amputationen des Sowjetischen Großreiches durch Einfluss- und Landnahmen (siehe Krim) rückgängig zu machen, bedienen sich auch jedes anderen Mittels, während unsere öffentlich-rechtlichen Anstalten ihm sprachlich den Krieg erklärt haben. Ich fürchte, Putin zittert schon vor Angst.
Das Deppenterrain politisch unmündiger Bürger
Schaut man genauer hin, ist die neue Sprachregelung (und besonders deren Begründung) nämlich gleich ein doppelter Schlag gegen ihn. Die Aussagen „Rus ist nicht gleich Russland“ schießt ja auch gegen dessen Selbstbezeichnung. Wie kann es das „Land der Rus“ geben, wenn die Rus heute in drei Ländern liegt? Jeder weiß, wer in Minsk die Fäden zieht und wer Lukaschenkos Diktatorenladen wirtschaftlich am Leben hält. Und weil man mit allen Sanktionen und Drohungen nichts erreicht hat, versucht man nun, Putins Russland sprachlich auszutreiben. An diesem Exorzismus beteiligen sich die deutschen Medien allerdings nur sehr schleppend. die Welt beispielsweise verwendet noch die „frühere“ Bezeichnung „Weißrussland“. Doch das ZDF warnt:
"Umgangssprachlich okay, politisch fragwürdig: Umgangssprachlich ist es sicherlich okay, von ‚Weißrussland’ zu sprechen”, erläutert Sven Gerst, Kings-College-Doktorand im Gespräch mit ZDFheute. Doch der Belarus-Experte plädiert dafür, sich lieber an die Empfehlung der belarusisch-deutschen Geschichtskommission zu halten, die den offiziellen Namen vorzieht. Medien, Politiker, offizielle Stellen und auch die Bundesregierung verwenden heute in der Regel nur noch die offizielle Bezeichnung.“
Jetzt wissen wir gleich zwei Dinge. Erstens: es gibt eine belarusisch-deutsche Geschichtskommission, die offenbar für Sprachregelungen in Deutschland zuständig ist. Zweitens: „Umgangssprachlich okay aber politisch fragwürdig“ heißt, dass hier ein sprachlicher Pflasterstein gelockert und mit unsichtbarer Tinte markiert wurde. Ob er noch trägt, weiß man erst, wenn man draufgetreten ist. „Umgangssprache“ ist per Definition das Deppenterrain politisch unmündiger Bürger, die am Herrschaftsdiskurs nicht teilhaben.
Die Sprachregelung und deren unbedingte Befolgung ist ein wichtiges äußeres Zeichen der Macht, wie wir schon bei den sprachlichen Gender-Verhunzungen sehen können. Die offizielle Begründung für die Verbannung des Begriffs „Weißrussland“ ist schwach, aber sie muss ja nicht gut sein. Es genügt, dass es sie gibt und dass sie wirkt, wenn ein Vertreter des Parteienkartells in einem Radiointerview zur Selbstkorrektur schreitet, weil er versehentlich auf diesen lockeren Stein getreten ist. Das „Wackeln“ war im Interview deutlich zu hören gewesen.
Am Vokabular erkennt man die Stellung im Machtgefüge
Für alle anderen bedeutet diese Praxis des sprachlichen Daumensenkens eine permanente Verunsicherung und das soll sie auch. Konnte man früher anhand der verwendeten oder ignorierten Grammatik noch den Bildungsgrad erkennen, erkennt man heute bei genauem Hinhören am Vokabular die Stellung im Machtgefüge.
Der aktuelle Stand des Sprachgebrauchs und der Regeln zur Verwendung ist etwas, dass man sich morgens vor dem Verlassen der Wohnung wie den Wetterbericht draufschafft, um gut und pannenfrei durch den Tag zu kommen. Das sorgt für Beschäftigung und die Leute kommen nicht auf andere, dumme Gedanken. Der Plebs lässt man zwar einige ihrer Begriffe, doch schließt deren Verwendung den Zugang zur Macht aus.
Interessanterweise geht die sprachliche Detailverliebtheit definitionsberechtigter Medien nicht so weit, dass der mit geradezu sowjetischer Stimmenmehrheit „wiedergewählte“ Präsident des sprachlich schlagartig durch deutsche Medienmacht entrussifizierten Landes Belarus korrekt Lukaschena genannt würde, wie es in der Landessprache von Belarus korrekt wäre. Nur die FAZ hat seit Beginn der Polit-Karriere des Langzeit-Herrschers in Minsk auch wirklich konsequent von Lukaschenka geschrieben. Die meisten anderen Medien nennen ihn gemäß der russischen Übersetzung Lukaschenko. Und so hat das Land Belarus, das mit Russland überhaupt nichts, aber auch gar nichts zu tun hat, schon noch einen weißrussischen Diktator. Honi soit qui mal y pense…
Dieser Beitrag erschien zuerst auf Roger Letschs Blog Unbesorgt