Es gibt kein Volk, das in den letzten Jahrtausenden so gehasst wurde wie die Juden. Und das, obwohl kein einziger Antisemit jemals Angst haben musste, von den Juden ausgelöscht zu werden. Wie kommt dieses Phänomen zustande?
Ob im Freundes- oder Bekanntenkreis, an der Universität, in den Medien oder an einer Kulturveranstaltung: kaum ein Thema polarisiert und erhitzt die Gemüter so zuverlässig wie Israel, kaum ein Ressentiment ist so wirksam wie der Antisemitismus. Insbesondere der moderne Antisemitismus, der sich nicht als Judenfeindschaft zu erkennen gibt, sondern mit staatskritischer Miene Israel ins Visier nimmt. Selbstverständlich ist Kritik am israelischen Staat legitim und hat nicht zwangsläufig mit Antisemitismus zu tun. Dennoch fällt auf, wie negativ Israel gerade in Westeuropa beurteilt wird im Vergleich zu allen anderen Staaten, die in Konflikte involviert sind.
Ein aktuelles Beispiel ist der Umgang mit der Ukraine. Hier ist sich der politisch-mediale Mainstream in Westeuropa einig: die Ukraine darf nicht vor dem Aggressor Putin in die Knie gehen. Weder Mitgliedsländer der EU noch die UNO fordern einen Waffenstillstand oder Friedensverhandlungen mit dem russischen Diktator, der nicht Frieden, sondern Eroberung anstrebt. Man liefert Waffen im Bewusstsein: Die Ukraine kämpft in der bedrohten Region nicht nur ums eigene Überleben, sondern um das Überleben westlicher Werte. Im Falle von Israel, seit Jahrzehnten bedroht von Hamas, Hisbollah und dem Mullah-Regime im Iran, denkt im gleichen Westen niemand an Waffenlieferungen. Stattdessen verlangt man Friedensverhandlungen mit dem Aggressor, der nicht nur die Eroberung, sondern die Auslöschung des Gegners anstrebt. Kein EU-Mitglied würde je nach Waffenstillstand rufen, wären am 7. Oktober 2023 in Deutschland, Frankreich oder Österreich Islamisten über die Grenze gekommen, um Babys zu erschießen, Frauen zu Tode zu vergewaltigen und hunderte Zivilisten zu massakrieren. Der Westen erkennt nicht, dass Israel angesichts barbarischer Todfeinde nicht nur um sich selber kämpft, sondern um alles, wofür der Westen steht.
In unseren Debatten sind solche Doppelstandards betreffend Israel an der Tagesordnung, das zeigt ein Blick in den Medienspiegel der letzten Jahre. Zionismus und Antizionismus gehören zum politischen Alltag, während der Antisemitismus 80 Jahre nach dem Holocaust in Europa stark zunimmt, nicht nur unter Studenten und Interessierten der Generation YouTube oder Tiktok. Der Judenhass 2.0 läuft ebenso unter „Pro Palästina“-Slogans wie unter „Antiimperialismus“: als Anklage gegen die Sünden des kapitalistischen Westens, an denen angeblich einflussreiche Juden schuld sind.
Im westlichen Establishment bis in die Führung der UNO werden diffamierende Vorurteile verbreitet. Etwa das Vorurteil, aufgrund seiner von Unrecht und Blut begleiteten Entstehungsgeschichte sei Israel kein legitimer Staat. Dabei wird so getan, als wäre die Geschichte der anderen, knapp 200 anerkannten Staaten auf der Welt gerecht und unblutig. In Wahrheit gibt es keinen Staat ohne blutige Vorgeschichte. Die moralische Sauberkeit der Entstehung eines Staates ernsthaft zum Kriterium für seine Legitimität zu machen würde bedeuten, praktisch alle heute existierenden Staaten infrage zu stellen. Wer dies explizit nur bei Israel tut, zeigt damit die typische Methode des heutigen Antisemitismus.
3.000 Jahre
Ein weiteres, beliebtes Vorurteil besteht darin, Israel als Besatzungsmacht gegen die Araber zu charakterisieren. Das hält keiner seriösen historischen Betrachtung stand. Auf dem heutigen Gebiet Israels hat es in den letzten 3.000 Jahren nur zwei unabhängige Staaten gegeben: Beide waren jüdisch, und beide wurden von Invasoren zerstört. Es gab dort zu keiner Zeit einen arabischen oder muslimischen Staat. Unterdrückt oder besetzt wurde das Heilige Land im Laufe der Jahrhunderte nicht von Juden, sondern von anderen Völkern, angefangen bei den Römern bis zu den Briten des 20. Jahrhunderts. Es ist wichtig, diese Tatsache festzuhalten: Im Nahen Osten haben bereits Juden gelebt, als es noch gar keine Muslime oder Christen gab.
Der Hass auf Juden ist beinahe so alt wie das Judentum selbst, seine Wurzeln reichen zurück in die Zeit des alten Orients. Dazu bietet die Antisemitismus-Forschung Analysen und Erklärungsversuche, zum Beispiel historisch-politische Deutungen. Diese legen den Fokus auf Territorien, Geld und Machtfragen, sehen also die zentrale Ursache im Kampf um Macht und Herrschaft. Es gibt auch ideologische Deutungen: Diese legen den Fokus weniger auf territoriale und mehr auf religiöse, weltanschauliche Geltungsansprüche, um die Konflikte im Nahen Osten zu erklären, beispielsweise den ideologischen Hass der Islamisten gegen den Westen, wie er deutlich wird in der Bezeichnung Israels als „kleiner Satan“ und der USA als „großer Satan“. Darüber hinaus gibt es psychologische Deutungen: Diese gehen vom Neid anderer Völker gegenüber dem Erfolg der Juden aus, wie er sich in verschiedenen Epochen immer wieder gezeigt hat.
Alle diese Deutungen haben etwas für sich und finden auch in diesem Buch Berücksichtigung, doch sie vermögen es nicht, das Phänomen des Judenhasses in seiner beispiellosen Tiefe und geschichtlichen Beständigkeit zu erfassen.
Kein Volk wurde je so gehasst
Zu keinem Zeitpunkt in der Menschheitsgeschichte waren die Juden mehr als eine Minderheit unter den Völkern, ein Zwerg im Schatten vorbeiziehender Imperien und Großmächte. Nie haben sich die Juden ein Weltreich zusammenerobert, so, wie dies in der Frühgeschichte des Judentums die Ägypter getan haben. Diese haben als Großreich über mehr als drei Jahrtausende geherrscht. Dann kamen, nach den Ägyptern, die Perser an die Macht. Um 550 vor Christus gründete Cyrus der Große das erste persische Großreich, das sogenannte Achämenidenreich. Dazu gehörten weite Teile des Nahen Ostens, einschließlich des heutigen Iran, Irak, Ägypten und Anatolien. Die Mehrheit der Menschen in den eroberten Gebieten wurden von den Persern in die Arbeits- und Sexsklaverei gezwungen. Nach dem Zusammenbruch des Achämenidenreiches übernahmen die Seleukiden die Macht, die aus Makedonien stammten. Unter ihrem Imperialismus, der alles andere als friedlich war, blieb die Sklaverei bestehen. Auf die Seleukiden folgte das sogenannte Partherreich, das nach Osten expandierte, bis nach Zentralasien. Diese Expansion bereitete das Sassanidenreich vor, das letzte persische Großreich, bevor es im 7. Jahrhundert zur arabischen Eroberung kam. Muslime gründeten das Kalifat der Umayyaden und später der Abbasiden.
In vergleichbarer Weise war die gesamte antike Welt der Griechen und Römer geprägt von Sklaverei und Eroberung. Im 8. Jahrhundert vor Christus lebten die Griechen in Stadtstaaten wie Athen, Sparta und Korinth. Alexander der Große eroberte ein Reich, das sich bis nach Indien erstreckte. Im Nachgang dazu entstand 753 vor Christus das Römische Reich, eines der größten und mächtigsten der Antike. Auf das Römische Reich folgte das Byzantinische Reich, das die Tradition aus Herrschaft und Versklavung fortsetzte (330 bis 1453 nach Christus). Dieser Tradition folgte schließlich das Mongolische Reich im 13. und 14. Jahrhundert, das von Asien bis nach Osteuropa auf seinem Höhepunkt der größte zusammenhängende Herrschaftsbereich der Weltgeschichte war. In der Neuzeit, von 1920 bis 1936, war nur das Britische Empire mit über 35,5 Millionen Quadratkilometern noch größer.
Dieser kurze historische Abriss zeigt: Seit es Juden gibt, wird die Geschichte dominiert von nicht-jüdischen Reichen, die Krieg, Eroberung und Unterdrückung über Dutzende von Völkern und Millionen von Menschen gebracht haben. Katastrophale Leidenswege, die in keiner geschichtlichen Phase von Juden ausgegangen sind. Auch im Vergleich zur heutigen Macht der USA oder den imperialen Ambitionen der aktuellen chinesischen und arabischen Welt spielen Juden keine wesentliche Rolle als Machthaber. Bis zum heutigen Tag muss kein Land auf der Welt fürchten, von Juden überrannt und erobert zu werden. Gleichwohl gibt es kein Volk, das in den letzten Jahrtausenden so gehasst wurde wie die Juden.
Durch nahezu alle Epochen hindurch wünschen Millionen von Antisemiten den Juden immer wieder die Auslöschung, ohne jemals von Juden erobert oder versklavt worden zu sein. Wie ist das möglich? Wie kann man dieses Phänomen erklären? Geht das überhaupt?
Aus Sicht des christlich geprägten Westens bietet der „Antijudaismus“ zumindest einen ersten Anhaltspunkt.
Antijudaismus
Mit Antijudaismus bezeichnet man die Feindschaft christlicher Gruppen gegen Juden mit Verweis auf ihre angebliche Mitschuld an der Kreuzigung Jesu. Diese Form des Antisemitismus im Namen des Evangeliums hat über die Jahrhunderte vor allem im Westen großen Schaden angerichtet, das darf gerade von Christen nicht verharmlost werden. Bereits in den Gemeinschaften der frühen Christenheit wurden Juden als Feinde des Christentums betrachtet und diskriminiert. Im Mittelalter war es üblich, Juden als „Christusmörder“ und „Teufelsanbeter“ anzusehen. Man isolierte sie in Ghettos, zwang sie dazu, spezielle Kleidung oder Kennzeichen wie den Judenstern zu tragen, damit sie für jeden als „Feind“ zu erkennen waren.
Juden durften bestimmte Berufe nicht ausüben und bestimmte öffentliche Plätze nicht betreten. Sie wurden angegriffen, vertrieben und ermordet, ihre Häuser und Geschäfte geplündert. Eine besonders wirksame Weise, Judenhass zu säen, waren die Legenden um Brunnenvergiftungen durch Juden oder Ritualmordlegenden, mit denen behauptet wurde, Juden würden christliche Kinder entführen und sie für rituelle Zwecke ermorden.
Antisemitische Pogrome wurden nicht nur von christlichen Bürgern angezettelt, sondern auch von staatlichen Behörden. Ein bekanntes Beispiel sind die Judengesetze von Kaiser Justinian I. im Jahre 534, die der jüdischen Minderheit wesentliche Rechte nahmen und sie politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich diskriminierten.
Judenhass im Islam
Der islamische Antisemitismus ist fast so alt wie der Islam selbst und hat weder das Christentum noch das europäische Mittelalter benötigt, um seine Feindschaft zu begründen. In seinen ersten zwölf Jahren, von 610 bis 622, hatte Mohammed die Christen und Juden noch anerkannt. In dieser Phase hatte der Prophet einiges aus dem Judentum übernommen, etwa Abraham und Daniel als Prophetenerzählungen, oder gewisse kultische Handlungen der Juden. Da jedoch die Juden, die Mohammed bekehren wollte, nicht zum Islam konvertierten, zog der Prophet von Mekka nach Medina und gründete eine eigene Gemeinschaft, zu dessen Oberhaupt er sich erklärte. Auch in Medina beharrten die Juden auf ihrem Glauben.
So trug der Prophet schließlich einen Katalog antisemitischer Verleumdungen gegen die Juden zusammen, wie sie noch heute im Koran nachzulesen sind. Juden, so steht geschrieben, würden Zins nehmen, um das Vermögen Anderer zu stehlen (Koran 4:161). Juden seien „wie Tiere“ (7:179), ihre Herzen „verstockt“ (57:16) und viele von ihnen „Frevler“ (57:16). Die Juden werden sogar als „Ungläubige“ bezeichnet (2:89).
Ab 622 kämpfte Mohammed gewaltsam gegen die Juden, vertrieb zwei jüdische Stämme aus Medina und ließ Frauen und Männer töten. Ab 850 mussten Juden und Christen an ihrer Kleidung honiggelbe Ärmel, die Frauen honiggelbe Überwürfe tragen, damit sie als Feinde des Islam erkennbar waren. Ein Zitat aus der Hadith, den Überlieferungen des Propheten Mohammed, illustriert den islamischen Antisemitismus, wie es ihn bis heute gibt: „Die Stunde wird nicht kommen, bis Muslime die Juden bekämpfen und töten; wenn sich ein Jude hinter einem Stein oder einem Baum versteckt, wird der Stein oder der Baum sagen: Oh Muslim, Diener Allahs, da ist ein Jude hinter mir, komm und töte ihn!“
Neuzeit
In Europa haben sich während der Neuzeit, unabhängig vom Islam, ebenfalls antisemitische Narrative über eine verborgene Weltherrschaft der Juden verbreitet. Einerseits durch politische Hetzschriften wie die „Protokolle der Weisen von Zion“, andererseits durch angesehene europäische Philosophen wie Voltaire und Hegel. In einer Schrift wendet sich Voltaire an die Juden: „Ihr übertrefft sämtliche Nationen mit euren unverschämten Märchen, eurem schlechten Benehmen und eurer Barbarei. Ihr habt es verdient, bestraft zu werden, denn das ist euer Schicksal.“ Solche Aussagen zeugen von einem schäumenden Antisemitismus, der im Zeitalter der Aufklärung keinesfalls selten war.
Angestoßen durch Renaissance, Reformation und die Religionskriege kritisierten die Aufklärer die traditionelle „gottgewollte“ Ordnung der ständischen Gesellschaft und kämpften für eine Welt der Freien und Gleichen auf Basis von Vernunft, Recht und Wissenschaft. Das Judentum war für sie nicht mit diesen Ideen vereinbar. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vollzog sich der Übergang von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft. Vor allem in den Städten formierte sich eine neue Klasse, die sich die Ideen der Aufklärung zu eigen machte. Die Forderungen nach Gleichberechtigung der jüdischen Minderheit, wie sie beispielsweise 1781 in Preußen erhoben wurden, wiesen christliche und nationalistische Judenfeinde zurück. Man warf den Juden vor, mitschuldig an gesellschaftlichen Spannungen zu sein, allein schon durch die „Erfindung“ des Monotheismus. Im Glauben an den einen, wahren Gott der Bibel sah man die Geburtsstunde von Intoleranz und Fanatismus.
So schreibt etwa der Philosoph Arthur Schopenhauer: „In der Tat ist Intoleranz nur dem Monotheismus wesentlich: ein alleiniger Gott ist, seiner Natur nach, ein eifersüchtiger Gott, der keinem andern das Leben gönnt. Hingegen sind die polytheistischen Götter, ihrer Natur nach, tolerant.“ Eine Aussage, die für einen Denker von Schopenhauers Rang erstaunlich naiv anmutet. In Wahrheit war die polytheistische Welt intolerant und kriegerisch, wie die Geschichte der Antike und des alten Orients zeigt.
Dies ist ein Auszug aus Giuseppe Gracias neuem Buch „Wenn Israel fällt, fällt auch der Westen“, 2025, Fontis: Kreuzlingen, circa 14,90 Euro.
Giuseppe Gracia, geb. 1967 in St. Gallen, ist Schriftsteller, Journalist und Kommunikationsberater. Von 2011 bis 2021 war er Beauftragter für Medien und Kommunikation im katholischen Bistum Chur. Dort wurde er Mitglied des Bischofsrates und Sprecher von Bischof Vitus Huonder sowie Bischof Peter Bürcher. Seine aktuellsten Veröffentlichungen sind die Romane „Der letzte Feind“ (2020) und „Auslöschung“ (2024) sowie das Sachbuch „Das therapeutische Kalifat: Meinungsdiktatur im Namen des Fortschritts“. Seit 2018 ist Gracia Kolumnist für die Schweizer Zeitung „Blick“.
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