Wir haben verschlafen. Schlicht und einfach. Sind 20 Jahre hinter der Zeit. Damit sind wir aktueller als Mecklenburg, das laut Bismarck 100 Jahre seiner Zeit hinterher hinkt, aber immer noch weit abgeschlagen. Was wir für Stabilität hielten und bejubelten, war in Wahrheit nur Stillstand. Wie heißt es in Hesses „Stufen“ so treffend:
„Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.“
Wir hatten die Wiedervereinigung, die Zeit, Kraft und Geld kostete, womit wir vollauf beschäftigt waren. Damals fing übrigens die Politik des Verschweigens bei uns an, es war verpönt, auf Unterschiede zwischen „Wessis“ und „Ossis“ hinzuweisen. Damit haben wir eine riesige Chance vertan, ich hoffe immer noch, dass sich das einmal ändern wird. Natürlich gibt es Unterschiede, denn es gab doch auch eine ganz andere Sozialisation, ganz andere Lebenserfahrungen.
Welch ein immenser Reichtum an Erkenntnissen liegt uns hier zu Füßen – und wir trampeln darauf herum. Immerhin haben Wissenschaftler vorsichtig angefangen, die verschiedenen bildungspolitischen Systeme zu vergleichen; das bietet fulminante Einblicke, aber es sind zarte Ansätze, im allgemeinen dürfen Unterschiede nicht thematisiert werden.
Nur Diffamierung ist neuerdings modern geworden, Ostdeutsche, speziell Sachsen, müssen sich von unseren „Eliten“ die Bezeichnung „Pack“ oder Schlimmeres gefallen lassen. Kommt noch das falsche, also männliche Geschlecht hinzu, hilft gar nichts mehr. Unverschämtheit und schlechtes Benehmen statt Klugheit und Höflichkeit – auch das ist Deutschland.
Rundumbetreuung von der Wiege bis zur Bahre
So haben wir unsere Zeit damit verbracht, die wirtschaftlichen Wunden der Misswirtschaft der DDR zu schließen, ohne uns mit den Wirkweisen der unterschiedlichen Systeme sachlich auseinanderzusetzen und daraus zu lernen. Da aber keine offene und vernünftige Analyse stattfand, wiederholen wir sogar die Fehler.
Bekanntlich ging die DDR unter anderem wegen üppiger Sozialleistungen pleite, denn kein Staat kann diese dauerhaft finanzieren. Wir gehen dennoch denselben Weg, staatliche Rundumbetreuung, neuerdings von der Wiege bis zur Bahre. Die DDR-Wirtschaft war zwar im Verhältnis zu anderen Ostblockländern nicht schlecht, hatte aber den Anschluss an den Westen verloren. Unsere Wirtschaft ist auch nicht schlecht, hat jedoch in vielen, insbesondere den wesentlichen Bereichen den Anschluss verloren.
Dabei denke ich nicht nur an den ganzen IT-Sektor, der nun das ist, was früher die Automobilbranche war, sondern auch an die letztgenannte. In Börsenprognosen auf das neue Jahr hört man immer häufiger, man solle die Finger von deutschen Autoaktien lassen, der Weg der Aktienkurse zeige langfristig gen Süden. Die anstehenden Streiks werden die Situation gewiss nicht verbessern.
In der Zeit, in der wir mit der Wiedervereinigung beschäftigt waren, wurden bei anderen die wirtschaftlichen Weichen für die Zukunft gestellt. Gleichzeitig fand ein gesellschaftlicher Wandel statt. Aufgrund des allgemeinen Wohlstands kam es in breiten Schichten zu dem „Prinzessin-auf-der-Erbse-Phänomen“:
Für wohlstandsverwöhnte Menschen stellt jeder Hügel ein unüberwindliches Hindernis dar, jedes unfreundliche Wort eine Beleidigung mit traumatischen Folgen. Die Gesellschaft zerfällt in Splittergruppen, in der jeder Einzelne sowie jede Gruppe versucht, die eigenen Interessen durchzusetzen. In demokratischen Gesellschaften führt dies dazu, dass man anderen Gruppen seine Vorstellungen aufzwingt, in sogenannten solidarischen Gesellschaften bedeutet das zudem, dass man selbst für diejenigen zahlen muss, deren Einstellungen und Lebenswandel man ablehnt.
Wir leben seit 15 Jahren von der Substanz
Dass dies stets zu einer sich vergrößernden Spaltung führt, die Wut vieler Bürger steigen lässt, ist völlig logisch. Wir sehen es in allen westlichen Ländern, überall fehlt es den ehemaligen Volksparteien an Akzeptanz. Selbst in den Ländern, die im Wesentlichen über nur zwei große Parteien verfügen, zum Beispiel USA und Großbritannien, haben diese Parteien den Rückhalt im Volk verloren. Frankreich, Italien, Niederlande – überall sind die Zeiten der Volksparteien vorbei.
Bei uns war das bisher nicht so, dies wird irrtümlich für ein Zeichen der Stabilität gehalten. Das ist Unsinn, mit dem wir uns nur selbst in die Tasche lügen. Wir sind nicht erst jetzt weg von der politischen Bühne, wir waren es in den entscheidenden Jahren, in denen die Landkarte der Zukunft neu geschrieben wurde. In den letzten 10 bis 15 Jahren haben wir von der Substanz gelebt, haben unseren Reichtum verfrühstückt und sind dabei fett, träge und unbeweglich geworden. Wie sagt Hesse: „So droht Erschlaffen.“
Aber natürlich kann man vor der Wahrheit ebensowenig dauerhaft weglaufen wie vor der Wirklichkeit. Die letzten Wahlen haben überdeutlich gezeigt, dass es so nicht weitergeht. Utopische Blütenträume von Jamaika in Deutschland wurden von realitätsfernen Weltenrettern geträumt, die bestimmt meinen, wenn man Milch und Zitrone mischt, würde die Milch nicht ausflocken, man müsse sich nur ganz, ganz doll anstrengen. Klappt es nicht, sagt man einfach, geflockte Milch sei viel schöner als die normale, im Zweifel sogar gesünder. Das Dumme an Propaganda ist, dass man am Ende auf seine eigenen Lügen hereinfällt.
Sind wir bereit „zu Aufbruch und Reise“, um uns lähmender Gewöhnung zu entraffen? Momentan sieht es nicht so aus. Die alteingesessene Politikgarde hat die Fortsetzung der alten Politik mittels der GroKo-Sondierungsgespräche eingeleitet. Leider ist derjenige, der sich am längsten an ein sinkendes Schiff klammert, genau derjenige, der die geringste Überlebenschance hat. Die CSU scheint es erkannt zu haben und versucht, sich abzunabeln. Nur hat sie den richtigen Zeitpunkt verpasst. Dieser war 2015, jetzt bleibt nur der Versuch, den längst abgefahrenen Zug doch noch irgendwie zu erwischen. Solange die CDU aber bremst, wird die CSU zu langsam sein. Bundesweit will sie ihren Hut nicht in den Ring werfen, also sind ihre vollmundigen Pläne nicht viel wert.
Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben – Teil II
Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Wir alle kennen diesen Spruch, wir wissen, wie wahr er ist. Aber wir benehmen uns wie die DDR in den letzten Jahren. Warum nutzen wir nicht das Wahlergebnis und machen etwas Mutiges? Es gäbe immerhin zwei Alternativen zur GroKo:
Zum einen gibt es die Möglichkeit der Neuwahlen. Das Argument, diese würden zu keinem anderen Ergebnis führen, zieht nicht. Mit dieser Prognose könnte man Wahlen gleich ganz abschaffen. Auch wenn wir in einer „Demoskopie“ zu leben scheinen, wäre es doch nett, immer noch den Wähler entscheiden zu lassen. Dabei haben die Parteien es in der Hand, das Wahlergebnis zu ändern, denn sie können doch einfach mal versuchen, dem Wähler echte Marken mit Inhalten zu bieten, nicht nur hohle Phrasen wie soziale Gerechtigkeit, mit der wir gut und gerne leben können. Mir persönlich wäre es z.B. sehr recht, wenn ich gut und günstig leben könnte.
Zum anderen könnte es eine „alternative Minderheitsregierung“ geben. Diese könnte so gestaltet sein, dass frische Leute von außen kommen und ihre Expertise einbringen. So wäre ein Verteidigungsminister, der etwas von Verteidigung versteht, eine gute Abwechslung, ebenso ein Außenminister, der die Kunst der Diplomatie beherrscht und nicht unsere Verbündeten Israel und die USA düpiert, ein Unternehmer als Wirtschaftsminister – man könnte eine wirklich interessante Riege zusammenstellen.
Zusätzlich müsste man ein Gremium schaffen, das sich aus ausgewiesenen Experten auf dem Gebiet der Handhabung komplexer, dynamischer und interaktiver Systeme zusammensetzt. Dieses sollte Vorschläge erarbeiten, mit welchen Veränderungen unser politisches System effizienter, resilienter und bürgerfreundlicher werden könnte. So kämen parteiunabhängige Vorschläge auf den Tisch, mit denen sich die Bürger und die Parteien auseinandersetzen könnten.
Eines muss uns klar sein: Der Wandel wird kommen. Es stellt sich nur die Frage, wer ihn gestaltet. Die wirtschaftlich guten Zeiten werden irgendwann zu Ende gehen, so dass nicht mehr wie bisher die Probleme mit Geld zugeschüttet werden können. Aber auch dann benötigen wir einen funktionierenden Staat, auch dann müssen die Schulden zurückgezahlt werden. Rücklagen haben wir nicht, wir geben das Geld mit vollen Händen aus.
BER ist die Metapher für das heutige Deutschland
Die bisherigen Versuche, eine Regierung zu bilden, ähneln fatal den Versuchen, BER zu retten. Weitgehend dieselben Leute machen weitgehend immer dasselbe und verbrennen Unmengen von Geld, für das andere Leute arbeiten gehen müssen.
BER ist das Symbol für das heutige Deutschland. Das Projekt wurde von Anfang an schlecht gemanagt, schon die Planungen waren Murks, der Flughafen ist für die Anforderungen viel zu klein dimensioniert. Genauso wird auch Deutschland schlecht gemanagt. Andere Länder haben in kürzerer Bauzeit für einen Bruchteil des Preises große, internationale Drehkreuze gebaut und in Betrieb genommen. Bemerkenswert ist, dass der neue Haupstadtflughafen nicht im Westen, sondern im Osten neben dem alten Flughafen der DDR liegt. Eine Verschiebung, von der viele meinen, dass sie ein Spiegelbild der politischen Verhältnisse sei.
Es gab vor Jahren ein Wahlplakat in Berlin mit dem Konterfei von Wowereit vor dem Hintergrund eines BER-Fotos mit der Frage, ob man solchen Leuten seine Kinder anvertrauen könne. Das war eine sehr gute Frage! Warum sollen Leute, die nicht einmal ein Projekt wie einen Flughafenbau im Griff haben, dann eine Stadt oder gar ein Land oder noch größere Einheiten wie Europa im Griff managen können?
Klammern wir uns weiter an etwas, was sich als dysfunktional erwiesen hat, oder wollen wir versuchen, die verlorene Zeit aufzuholen? Mein Vorschlag wäre mit Hesse:
„Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!“