Gunnar Heinsohn / 21.12.2018 / 10:00 / 27 / Seite ausdrucken

Warum Trump aus Syrien abzieht

Verkünde den Sieg und ziehe ab! Dieses Rezept befolgt US-Präsident am 19. Dezember per Twitter mit dem Rückzug seiner 2.000 Soldaten aus dem Krieg gegen das ISIS-Kalifat in Syrien. Die Schockstarre bei den Verbündeten, aber auch der siegesgewisse Hohn bei den Gegnern, kann nicht überraschen. Die Verteidiger des Präsidenten werden wiederholen, dass die vielen Milliarden Dollar für diese Kriegszone nichts gebracht hätten und Amerika daheim und gegenüber Ostasien viel größere Sorgen habe.

Ungeklärt dürfte bleiben, warum die Konflikte trotz enormer Verluste weitergehen. Da fast immer die Demografie unausgelotet bleibt, soll ihr Beitrag zur Dauerhaftigkeit des Tötens über Jahrzehnte hinweg – Europas Erfahrung von 1500 bis 1945 – in den Blick genommen werden.

Zwischen 1900 und 2015 legt der Islam um den Faktor 9 von 200 Millionen auf 1,8 Milliarden Menschen zu. Das Christentum als mengenmäßig noch stärkstes Bekenntnis schafft nur eine Vervierfachung (von 560 Millionen auf 2,3 Milliarden). Seit 1950 gelingt dem Islam ein Zugewinn von knapp 1,4 Milliarden Menschen. Iran, Libanon, Tunesien und die Türkei mit zusammen 180 Millionen Einwohnern sind mit zwei oder weniger Kindern pro Frauenleben aus dem explosiven Zuwachs bereits heraus. Das gilt auch für die rund 20 Millionen Bürger in den reichen Scheichtümern zwischen Bahrein und Kuwait.

Doch neun muslimische Länder gehören zu den aktuell 68 Nationen mit einem heißen Kriegsindex über 3, wobei auf 1.000 rentennahe Männer von 55 bis 59 Jahren 3.000 Jünglinge zwischen 15 und 19 den Lebenskampf aufnehmen. Es geht außerhalb des Nahen Ostens um Afghanistan (5.99; 36 Mill.), Sudan (4.65; 42 Mill.), Mauretanien (4.17; 5 Mill.) und Pakistan (3.39; 200 Mill.). Gut 100 Millionen Menschen – 1950 sind es erst 15 Millionen – gehören zum arabischen Raum: Iraq (5.80; 40 Mill.), Palästina (5.46; 5 Mill.), Jemen (5.41; 29 Mill.), Syrien (4.02; 18 Mill.), Jordanien (3.95; 10 Mill.).

Zusammen haben sie seit 1960 knapp 40 kriegerische Auseinandersetzungen hinter sich gebracht (Siehe auch hier). „Nur“ bei sieben ging es um die Vernichtung der Juden Israels. Der Raum mag beim Massakrieren Pausen einlegen. Doch mindestens bis 2030 wird er mit dem Herstellen eines Gleichgewichts zwischen Ambitionen und Positionen weitermachen müssen. Da es für potenzielle Kämpfer immer schwieriger wird, außerhalb ihrer Region an Arbeit oder Sozialhilfe zu gelangen, wird der blutige Aufstieg gegen heimische Eliten zum naheliegenden Ausweg. Denn ökonomisch geht es nicht voran. So melden im Jahre 2017 die fünf Länder neun (9!) hochkarätige PCT-Patente an. Aus Israel kommen mehr als zweihundertmal so viele.

Da es bei den Angegriffenen zumeist ebenfalls um Muslime geht, kann ihre Beseitigung nur mit einem Auftrag des Allhöchsten ausreichend gerechtfertigt werden. Insofern liefert das Kalifat unter Abū Bakr al-Baghdadi eine ideologisch kaum überbietbare Angriffsbasis. Er hat 98 Prozent seiner Gebiete und gut 60.000 Mann verloren. Ist die Zahl erschreckend? Gewiss! Bedeutet sie ein Ende der Fähigkeit, Verluste zu absorbieren? In keiner Weise. Zwischen 2015 und 2030 steigt allein in Irak und Syrien die Zahl der 15-29-Jährigen um 3,5 Millionen Mann (7,75 auf 11,25 Millionen). Wenn besorgt gemeldet wird, dass immer noch 30.000 Mann zum Kalifen stehen, hat diese Warnung etwas Rührendes. Die Zahl junger Männer, die bestenfalls durch Gewalt nach oben kommen können, liegt hundertfach höher. Die 2.000 Amerikaner ständen auf verlorenem Posten.

Genozid-Ankündigungen rufen sie nicht nur nach Israel herein. Auch Kurden bekommen – und das nicht allein aus Ankara – Vergleichbares zu hören. Der vergreisende Westen, bei dem jeder Gefallene eine Familienlinie auslöscht, kann nicht sonderlich viel tun. Aber eine strategische Rückendeckung für den Überlebenskampf der Bedrohten bleibt möglich. Die Ahndung syrischer Giftgasangriffe mit begrenzten Luftschlägen könnte dabei Mittel der Wahl werden. 

Gunnar Heinsohn (*1943) lehrt seit 2010 Kriegsdemographie am NATO Defense College (NDC) in Rom. Am 23. Oktober 2018 hat er die Grundsatzrede zum 15. Geburtstag des Joint Warfare Center (JWC) der NATO in Stavanger gehalten.

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Karl-Eugen Kaiser / 21.12.2018

“Die Ahndung syrischer Giftgasangriffe mit begrenzten Luftschlägen könnte dabei Mittel der Wahl werden.” Herr Heinsohn, warum sollte Assad Giftgas einsetzen?  Gibt es einen einzigen Grund dafür? Gar einen Beweis? Mitnichten! Mit solchen Äußerungen diskreditieren Sie sich selbst.

Wolfgang Richter / 21.12.2018

@ Dr. Gerhard Giesemann Ihre Wünsche sind Hoffnungen, die sich nicht erfüllen werden, solange a) viele Kinder in vielen Ländern die Altersversorgung bedeuten, in Indien wie in islamisch geprägten Ländern. In letzteren kommt noch die religiöse Komponente zum tragen, jedes Kind im Namen der Religion ist ein gutes Kind, ab besten auch noch mit bis zu 4 Frauen (es können ggf. auch ein paar mehr sein). Und irrwitzig wird das ganze, wenn die emanzipierten Damen in den sog. kultivierten Gesellschaften sich weigern, Kinder in die Welt zu setzen, sie und ihre gleich Denkenden Abtreibung (am besten bis zum 9. Monat) für normal und ihrer Selbstverwirklichung entsprechend halten, die selben Leute aber die Kinderkultur der “Goldstücke” frenetisch bejubeln. Da machen zu werfende Kuscheltiere doppelt Sinn. Insofern wird sich in Ihren Sinn eher wenig bis nichts ändern, dagegen die von Herrn Heinsohn prognostizierte Entwicklung eher schneller als später ihre Folgen zeitigen. Und die Alternden werden den Preis zahlen, je höher je weniger sie am Scheitelpunkt der Entwicklung bereit sein werden, sich den Fordernden zu unterwerfen.

Klaus Reichert / 21.12.2018

Man darf nicht wählerisch sein, wenn man in einem Konflikt kaum mitmischt. Das gilt für Europa und die USA. Die Türkei, Russland und Iran sind ganz anders involviert. Freuen können wir uns, wenn am Ende ein weltlicher Diktator von Russlands Gnaden (weiter) regiert und dafür sorgt, dass Iran in Schach und von Israel fern gehalten wird. Mehr ist für uns nicht drin.

Helmut Bühler / 21.12.2018

Recht hat er. Wir aber sollten die richtigen Konsequenzen ziehen, unseren Weltverbesserungswahn ablegen, Europas Grenzen sichern und die muslimischen Völker gewähren lassen, wenn sie ihr Überbevölkerungsproblem nach eigenem Gusto lösen.

Alexander Mazurek / 21.12.2018

Ich schätze Herrn Heinsohn, seit dem ich sein “Söhne und Weltmacht” gelesen habe. Dieser Artikel enttäuscht mich aber. “Giftgasangriffe” sind ja ineffizient, das wissen wir seit dem I. WK und den japanischen Experimenten in China während des II. WK, und so äußerst schädlich fürs Image, sie liefern ja inzwischen DEN perfekten Vorwand, damit “ab 4:45 Uhr zurückgeschossen” werden kann, dass bei “Gift!/Gas!” regelmäßig von Täuschung (false-flag) ausgegangen werden kann, wie früher beim Golf von Havanna, Reichstagsbrand, Gleiwitz, Golf von Tonkin, Kosovo, WMD im Irak, “Assads” Giftgas … Nation bombing und regime change “in pursuit of happiness and prey” des WASP militärisch-industriellen Komplexes bedürfen für unsere “lupenreinen demokratischen Rechtsstaaten” ja immer einer guten Rechtfertigung, den perfekten Vorwand. Herr Heinsohn schaut sicher hinter die Kulisse und weiß es.

Wolfgang Kaufmann / 21.12.2018

Kein vernünftiger Präsident wird seine Strategie auf mögliche False Flag Operations gründen. Amerika kann im Nahen Osten nichts gewinnen, das Öl ist entbehrlich geworden, Trump hat dies erkannt. – Die eigenen Verhältnisse nicht selber ordnen zu können, passt zu einem Herrenmenschentum, das seit 1500 Jahren von Raub und Sklaverei lebt und den Krieg verherrlicht. – Für mich ist jedoch die zentrale Frage, wieso gebildete Europäer ihre eigene Kultur so sehr hassen und so konsequent vernichten. Ist dies mit linker Heils-Ideologie zu erklären? Oder ist es die zwangsläufige Folge von Wohlstandsverwahrlosung? Wer kann, und um welchen Preis, diesen Zug stoppen? Meine Kristallkugel lässt mich eine demographische Katastrophe befürchten wie 1347/51 oder 1618/48, verbunden mit einer völligen Neugliederung des europäischen Machtgefüges.

Helmut Driesel / 21.12.2018

Mein erster Gedanke war: Wie dumm von ihm! Hätte er seine Truppen ohne Aufsehen abgezogen, hätte er später behaupten können, nie dort präsent gewesen zu sein. Dann fiel mir ein, dass er ja eine Menge Geld für seinen Mauerbau braucht, das er offensichtlich um keinen Preis bei seinen Golfclubfreunden einwerben möchte. Ein Versuch des Crowdfunding könnte vielleicht auch Erfolg haben. Und zuletzt kam ich drauf, dass nur so genau feststellbar ist, wie weit Erdogans Interesse geht, wenn die Luft rein ist, den IS in Syrien und im Irak wieder zu genug Freiraum zu verhelfen, dass er ihn als Instrument der eigenen Macht einsetzen kann. Das würde ich schlau nennen. Es sind kleine Siege, die in der Summe den Krieg gewinnen. Das lässt sich auch auf die Zivilgesellschaft übertragen. Und auf das Gegenteil, die Niederlagen.

E. Thielsch / 21.12.2018

Der Rückzug ist meiner Ansicht nach ein kluger Schachzug. Solche Konflikte kann man nicht befrieden, die müssen ausbrennen. Der 30-jährige Krieg ist ein Beispiel dafür. Die wahren Verlierer in diesem schiitisch-sunnitischen Krieg sind der Iran und die Türkei. Beide sind bereits wirtschaflich im Keller, beide bekommen Probleme mit ihren Bürgern, die statt Großmacht-Träumen lieber was zu essen hätten. Und auch Putin wirft Geld in ein Faß ohne Boden - Geld, das er nicht hat! Und was könnten sie gewinnen? Ein zerstörtes Land, einen Alptraum. Es gibt keinen Gewinn, für niemanden. Und Israel? Netanjahu muss sich wahrscheinlich das Grinsen verkneifen: Der Erzfeind Iran hat plötzlich keine bequeme Operationsbasis mehr in Syrien, sondern die türkischen Truppen (Die sehr viel leistungsfähiger sind als die ‘Rebellen’) in der Flanke. Die Türkei aber spekuliert, nach Jahren der Entfremdung, auf eine Allianz mit Israel, wie in der ‘Hürriyet’ ganz offen gesagt wird.

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